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Die aussätzigen Sozialdemokraten

Jürgen Walter war unter anderem dafür verantwortlich, dass die hessische SPD-Ministerpräsidentin nicht wiedergewählt wurde. Deshalb musste er sich auch einem Parteiordnungsverfahren stellen, er kritisiert den Umgang der Partei mit Andersdenkenden.

Von Anke Petermann | 23.09.2010
    "Ich weiß, was meine Entscheidung bedeutet, aber ich kann dieser Regierung meine Zustimmung nicht geben."

    Jürgen Walter hatte fleckige Haut, seine Bewegungen wirkten mechanisch. "Ich war damals fix und fertig", erzählt Walter heute. Als er sich entschloss zu verhindern, dass seine Partei in Hessen regieren konnte und damit Neuwahlen auslöste, sei ihm klar gewesen, dass er sein Mandat verlieren und aus der Politik aussteigen würde.

    "Etwas anderes ist, dass eine Partei in nicht-öffentlichem Verfahren mit einer sehr selektiven Auswahl von Anwälten und mit meines Erachtens vorgefertigten Urteilen gegen Abgeordnete vorgeht, die nichts anderes getan haben, als ihr verfassungsrechtlich verbrieftes Recht wahrzunehmen."

    Womit Jürgen Walter auf das Parteiordnungsverfahren anspielt, das 13 Ortsvereine der SPD und der Bezirk Hessen-Süd noch im selben Monat gegen ihn beantragten. Genossen auch in Walters eigener Fraktion spotteten über das "Last-Minute Gewissen" des damaligen Partei-Vizes, entdeckt just in dem Moment, als es der SPD und ihrer Frontfrau Ypsilanti am meisten schadete. Von manchen wurde er geschnitten. Doch wie ein Aussätziger fühlte er sich nicht:

    "Allein ich als Person habe über 5000 E-Mails bekommen - und über 90 Prozent Zustimmung. Ich denke, dass wir hier unterscheiden müssen zwischen der Enttäuschung der Funktionäre und ein Stück weit der Erleichterung von vielen an der Parteibasis, sodass es sicherlich beide Positionen gibt."

    Die Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Wetterau warf Walter vor, die innerparteiliche Solidarität verletzt zu haben und verfügte, er müsse seine Mitgliedsrechte für zwei Jahre ruhen lassen, dürfe nur noch auf der Ebene des Ortsvereins tätig sein. In zweiter Instanz schmetterte die Kommission des SPD-Bezirks Hessen-Süd Walters Berufung ab: Es gehe nicht um die freie Ausübung des Mandats, sondern um grob illoyales Verhalten eines führenden Mitglieds, das der Partei schwer geschadet habe. Anders als zuvor angekündigt, kämpft sich Jürgen Walter nicht weiter bis vors Bundesverfassungsgericht, sondern akzeptiert die Parteistrafe, entscheidet sich nach zehn Jahren Berufspolitik für eine komplette Auszeit, auch in seinem Ortsverein ist er nicht aktiv.

    "Ich bin in meinen zivilen Beruf zurückgekehrt, ich arbeite wieder als Rechtsanwalt. Und zumindest meine Befugnisse als Rechtsanwalt hat die SPD nicht beschränkt."

    Ein sarkastischer Seitenhieb. Direkt nach dem gescheiterten Berufungsversuch hatte Walter die SPD-Schiedskommission mit dem "iranischen Wächterrat" und das Verfahren selbst mit den "Moskauer Prozessen" der Stalinzeit verglichen. Psychischem Druck habe er sich aber nicht ausgesetzt gefühlt. Heute spricht der Sozialdemokrat "im Ruhe-Zustand" in einem Gastbeitrag für die Fuldaer Zeitung von einer "Hetzjagd auf die Abweichler".

    "Es gibt eine Funktionärstruppe, die meines Erachtens im Wesentlichen aus den doch mittlerweile doch selbst etwas alt gewordenen 68-ern bestehen. Die geben eine Linie vor. Wer von dieser Linie abweicht, der muss mit harten Sanktionen bis hin zum Parteiausschluss rechnen. Wer so ein Bild stellt, der muss sich nicht wundern, wenn so eine Partei nicht mehrheitsfähig ist. In der Öffentlichkeit hat sich natürlich das Bild verfestigt einer intoleranten Partei, die nur ganz wenige Meinungen gelten lässt und weit abweichende Meinungen schlicht nicht toleriert."

    Genau das aber müsse die SPD, wenn sie Volkspartei bleiben wolle. Versagt habe sie darin schon, als das Bundesschiedsgericht der Partei den ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement dafür rügte, dass er Anfang 2008 davor gewarnt hatte, Andrea Ypsilanti und ihre alternative Energiepolitik zu wählen. Nach der Rüge trat Clement aus der SPD aus. Wie die Partei mit Thilo Sarrazin umspringt, wundert Walter daher nicht, alles schon da gewesen. Sarrazin habe ein wichtiges Thema angesprochen, aber teilweise Unfug dazu erzählt.

    "Nur - wenn Unfug allein ein Parteiausschlusskriterium wäre, müsste wahrscheinlich die komplette SPD-Führung ein Ausschlussverfahren gegen sich selbst beantragen, weil jeder dieser Kollegen bestimmt auch schon mal Unfug geredet hat. Um was es geht, ist, dass eine Partei die Stärke und Toleranz haben muss, abweichende Meinungen in den eigenen Reihen nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu diskutieren."

    Doch Diskussionsfreude vermisst Walter in seiner Partei: "Es ist heute einfacher, mit einem katholischen Priester über den Zölibat zu diskutieren als mit einem sozialdemokratischen Lehrer über Atomenergie - oder Hartz IV oder die Rente mit 67", schreibt er in der Fuldaer Zeitung. Als engstirnig, verbohrt, überheblich zeichnet er dort die Funktionärskaste, die die Partei beherrsche. Aus der SPD austreten wie seine einstige Verbündete Carmen Everts will er trotzdem nicht. Ende 2008 - auf dem Höhepunkt der innerparteilichen Kämpfe - hatte Walter verbissen gewirkt, heute sieht er entspannt aus - drei Jahre jünger nach Meinung seiner Frau. Die war bis Juli 2008 als Pressesprecherin der Hessen-CDU hauptberuflich fürs Ypsilanti-Bashing zuständig. Privat lebt Walter seither sozusagen in Großer Koalition - ein Modell, das die linke Hessen-SPD bislang aufs Tiefste verabscheut.