Antje Deistler: Nina Jäckle ist Autorin von Romanen und Erzählungen. Eigentlich wollte die geborene Schwenningerin Übersetzerin werden, fing dann aber selbst an, Geschichten zu schreiben und bekam für ihre Erzählungen, Romane, Hörspiele und ein Drehbuch auch schon viel Anerkennung und einige Preise und Stipendien. "Stillhalten" ist bereits ihr elftes Buch, aber erst darin beschäftigt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte, oder besser der wahren Geschichte ihrer Großmutter. Der stand als junge Frau Anfang der 1930er Jahre eine Karriere als Tänzerin bevor, aber dann verschwand sie als Ehefrau in der deutschen Provinz.
Es könnte sein, dass Sie Nina Jäckles Oma schon einmal gesehen haben. Denn es gibt ein berühmtes Gemälde von ihr. Otto Dix hat in seinem Leben zwei Tänzerinnen porträtiert: Die junge Tamara Danischewski - die wurde später Nina Jäckles Großmutter - und die berühmt berüchtigte Nackttänzerin Anita Berber. Dieses Bild ist sehr bekannt, ganz in rot, es hat etwas Dämonisches. Die blonde Tamara dagegen hält eine Blume in der Hand, und sie lächelt verschmitzt, "es scheint wie das Lächeln vor einer vergnügten Torheit", schreibt ihre Enkelin Nina in "Stillhalten". Ich habe mit Nina Jäckle vor der Sendung über diesen neuen Roman gesprochen und sie erstmal gefragt, ob Otto Dix ihre Oma ihrer Meinung nach eigentlich gut getroffen hat.
Nina Jäckle: Ich muss dazu sagen, ich bin mit dem Bild aufgewachsen. Das hing groß, also als Duplikat des Originals immer in dem Haus meiner Großmutter. Ich mache da keinen Unterschied zwischen diesem Bild und meiner Großmutter, weil ich eben schon immer dieses Bild mit meiner Großmutter gleichgesetzt habe sozusagen. Deshalb, Otto Dix ist natürlich nun ein ganz spezieller Maler und ich kenne, vor allem meine Großmutter kannte das Bild der Anita Berber, denn meine Großmutter hat sich immer furchtbar geärgert, dass dieses Bild nun, das rote Bild, wie sie es nannte, "die Rote", dass die so erfolgreich wurde.
Die Deutsche Post hat da ja sogar mal Briefmarken draus gemacht und meine Großmutter war furchtbar erbost darüber, dass es nicht ihr Porträt gewesen ist als Briefmarke, und da gab es immer eine kleine Eitelkeit ihrerseits. Aber wie gesagt, das Bild ist für mich meine Großmutter und tatsächlich hat er sie auch nicht so sehr überzeichnet, wie er das mit allen Modellen getan hat.
Tamara Danischewski "fast zärtlich dargestellt"
Deistler: Ja, das "Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski" ist vor allen Dingen ein vergleichsweise freundliches oder auch harmloses Gemälde von Otto Dix. Der war ja eher für seinen schonungslosen, bösen Blick bekannt. Warum, was wollte er Ihrer Meinung nach ausdrücken?
Jäckle: Er hatte eine schwierige Zeit als Künstler damals, als er Tamara malte. Und ich selbst denke, dass genau diese Blondheit, genau diese, nennen wir es: Bravheit, Lieblichkeit, dass das eine Art übertriebener Gehorsam sein könnte für all das, was man ihm plötzlich verbat zu tun. Meine Großmutter hat oft darüber gesprochen. Sie hatte fürchterliche Angst, als sie ihm Modell stand, und hat gesagt: Au Backe, was wird denn dabei rauskommen, wenn dieser Maler mich malt. Und sie wusste natürlich, wie seine Bilder aussehen, und sie sagte, sie war ganz berückt davon, dass er sie so fast zärtlich und, wie soll ich sagen, freundlich dargestellt hat.
Deistler: Es sieht nach einem sehr deutschen Mädchen aus, auf jeden Fall.
Jäckle: Ganz genau, ja.
Das Bild markiert eine Weggabelung
Deistler: Das Bild führt später das wahre, aufregende Leben, das sich Tamara immer erträumt hat, so liest man es jedenfalls in Ihrem Roman "Stillhalten". Denn das Bild wird an Museen in der ganzen Welt verliehen, und Tamara aber bleibt zu Hause, denn sie hat, kurz nachdem das Bild fertiggestellt worden war, einen Mann geheiratet, der das so will, und hat sich ihrem Ehemann untergeordnet. Hier ein Ausschnitt aus "Stillhalten":
"Tamara geht vom Fenster hinüber zu ihrem Schreibtisch, zu dem Duplikat des Bildes. Eine nicht genutzte Möglichkeit sieht sie darin und immer wieder wird diese alles entstellende Frage in ihr laut, was wohl geschehen wäre, hätte sie sich damals anders entschieden. Das Bild zeigt sie mit 21 Jahren. Sie, die junge Tänzerin Tamara Danischewski, mit Iris. Sie, die noch keinen Ehemann hatte. Die umschwärmt war und voller Ideen, die ein abenteuerliches Leben lebte, voller Übermut, Begeisterung und Eifer. So viele Blumensträuße mit handgeschriebenen Karten darin, so viele Versprechungen und Angebote. So wenig Zögern und Zweifeln, denkt Tamara. Das Bild bedeutet für sie die Weggabelung, die Entscheidung, dem fremden jungen Mann ihre Hand zu reichen, sich somit von der Bühne zu verabschieden, gleichsam von dem Gedanken, die Zukunft sei Musik und Tanz und halte besondere Schätze für sie bereit. Nicht Amerika, dafür aber Weideland, Fliegen und Kriechgetier, denkt Tamara. Dann legt sie eine ihrer Schallplatten auf." (Nina Jäckle: "Stillhalten")
Deistler: Ja, Tamara ist nicht glücklich geworden mit dieser Entscheidung, das machen Sie schon ganz zu Beginn klar, diese Zusammenfassung, auf Seite 14, 15 schon, leitet die Geschichte ein. Danach kreisen Sie, kreist die Geschichte um die Person Tamaras, um ihre Erinnerung. Das ist ungewöhnlich. Warum dieser Aufbau und diese Form, Nina Jäckle?
Jäckle: Warum dieser Aufbau und diese Form? Also, diese Form, ich habe mir die nicht ausgesucht. Ich habe angefangen, Material zu sammeln über meine Großmutter und ihr Leben, ausgehend von einer Begegnung mit einem Freund, einem älteren Herrn, der ganz nüchtern Bilanz zog und mir sagte: Nina, alles ziemlich danebengegangen, mein Leben verfehlt, falsche Frau, die Kinder, das ist alles nicht gut gewesen und ich habe eigentlich keine Lust mehr, das zu beschönigen, ich habe es vertan. Und ich ging an dem Abend nach Hause und war tief beeindruckt über diese Klarheit, und plötzlich fiel mir ein, dass das mit meiner Großmutter ebenso war. Und ich habe angefangen, Briefe zu lesen von ihr, ich habe einfach angefangen, um meine Großmutter mir Gedanken zu machen. Und plötzlich, bei den Aufzeichnungen, ich hatte noch nicht mal vor, ein Buch daraus zu schreiben. Aber bei dem Sammeln von Gedanken über meine Großmutter hat sich plötzlich ein Klang eingestellt. Und das ist bei mir immer das Zeichen: Jetzt geht was los. Und als dieser Klang da war, war die Form keine ausgesuchte mehr, sondern ich habe es dann einfach gemacht. Ich kann schlecht Auskunft geben über die Form, die ich wähle, weil ich nicht das Gefühl habe, sie zu wählen. Ich mache das so. Es ist mir nur so möglich. Und das ergab sich von Passage zu Passage.
"Das konzentrierte Beobachten im Kleinen"
Deistler: Es ist ein bitterer Rückblick auf das eigene Leben. Tamara wollte als Tänzerin auf Bühne, die wollte die Welt bereisen und nicht im Zuschauerraum sitzen, wie Sie schreiben. Aber genau das passiert ihr. Und es ist auch eine Geschichte des Verschwindens. Darum drehen sich Bücher von Ihnen gerne, was fasziniert Sie so sehr daran, am Verschwinden, an Leerstellen?
Jäckle: Ich glaube, mich fasziniert das konzentrierte Hinsehen und das konzentrierte Beobachten im Kleinen. Und das passiert mir mit meinen Figuren tatsächlich immer wieder. Man hat mal gesagt, ich würde Figuren in Schachteln stecken und schütteln und gucken, was passiert. Es gibt für mich nur diesen einen Weg zu schreiben und der findet sich darin wieder, dass ich versuche, Kleines zu beschreiben, das dann in der Ansammlung aber hoffentlich generelle Bedeutung bekommt.
Deistler: Ich habe mich gefragt, warum Sie einiges verfremdet haben. Sie haben nicht die Geschichte Ihrer Großmutter eins zu eins erzählt, Sie haben fiktionalisiert. Das weiß man schon deshalb, weil die Tamara im Buch kinderlos ist und bleibt. Das kann die wahre Tamara nicht gewesen sein, sonst gäbe es Sie nicht.
Jäckle: Ja, es ist nämlich so, dass…Meine Großmutter wurde, nachdem sich dieser besagte Klang eingestellt hatte, mehr und mehr zur Protagonistin. Und ich habe tatsächlich, muss ich sagen, das Buch als Schriftstellerin und nicht als Enkelin geschrieben. Und ich wollte die Protagonistin kinderlos lassen, damit ich selbst nicht auftauche als Textgegenstand sozusagen. Ich glaube, um Tamara beobachten zu können, brauchte ich es, nicht vorzukommen in diesem familiären Umfeld. Und deshalb habe ich, glaube ich, meine Mutter nicht werden lassen. Und das verwirrt sie auch sehr.
"Ich schreibe die Tonspur zu einem Film"
Deistler: Sie sind ja auch Filmemacherin. Steckt in dieser, in Ihrer eigenen Familiengeschichte nicht auch ein Film?
Jäckle: Als Schriftsteller hört man so was unheimlich gerne. Aber dazu kann ich jetzt ganz schwer was sagen, weil ich tatsächlich, wenn ich meine Bücher schreibe, sehe ich immer Bilder. Also habe ich sowieso immer das Gefühl, ich schreibe die Tonspur zu einem Film. Aber Sie haben recht, das ist auch aufgrund der Schnitttechnik, die ich anwende in dem Buch, tatsächlich fast ein wenig filmisch. Also, diese Sprünge, die ich in dem Buch mache, diese Zeitsprünge, das wäre spannend, das in ein Drehbuch zu fangen. Da habe ich allerdings nicht drüber nachgedacht, ich bin jetzt erst mal froh, dass es ein Buch ist.
Deistler: Dann bin ich froh, dass ich Sie auf die Idee gebracht habe. Und ich bin sicher, dass die Form des Buches, nicht nur der Inhalt, diese tolle Geschichte Ihrer Großmutter, mich auf die Idee gebracht hat. Vielen herzlichen Dank bis hierhin, Nina Jäckle!
Jäckle: Ich danke Ihnen auch!
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Nina Jäckle: "Stillhalten". 2017, Roman, Klöpfer & Meyer-Verlag, 190 Seiten, 20 Euro.