Archiv


"Die Banken sind das zentrale Nervensystem jeder modernen Volkswirtschaft"

Günter Verheugen, EU-Kommissar für Unternehmen und Industrie, verteidigt den staatlichen Eingriff in die Finanzkrise. Ein Zusammenbruch des Bankensystems führe zum Zusammenbruch der gesamten Volkswirtschaft. Eine Unterstützung für beispielsweise die Autobranche lehnt Verheugen hingegen ab.

Günter Verheugen im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: In Brüssel ist nun EU-Kommissar Günter Verheugen, SPD, am Telefon. Guten Morgen!

    Günter Verheugen: Guten Morgen!

    Müller: Herr Verheugen, ärgert Sie das, dass die Politik ausgerechnet dem freien Kapital helfen muss?

    Verheugen: Na, selbstverständlich ärgert mich das. Das ärgert jeden, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil jetzt dieselben Leute sagen, der Staat muss ran, die uns jahrelang erzählt haben, die beste Politik ist, der Staat lässt die Märkte in Ruhe, lässt die Leute in Ruhe ihr Geld verdienen, dann funktioniert alles am besten. Wir hatten eine Laissez-faire-Mentalität, gerade im Finanzsektor in den letzten Jahren, die dazu geführt hat, dass die Politik praktisch handlungsunfähig geworden war. Jetzt, seitdem wir die Rückkehr des Staates in die Wirtschaftspolitik und, wie ich finde, durchaus stark und machtvoll. Und das ist auch notwendig.

    Müller: Eine Laissez-faire-Mentalität sagen Sie, die auch die Sozialdemokraten, auch die SPD unterstützt hat?

    Verheugen: Es hat viele gegeben, die die Risiken rechtzeitig gesehen haben und internationale Regelungen gefordert haben. Dazu gehört auch meine Partei, die SPD in Deutschland. Dazu gehört auch die Europäische Kommission, der ich angehöre. Aber man muss ja die Wahrheit sagen. Die Wahrheit ist, dass eine ganze Reihe von Mitgliedsländern der Europäischen Union und die Vereinigten Staaten von Amerika jeden Versuch im Keim erstickt haben, zu Regelungen zu kommen, die die Finanzmärkte stärker an die Kandare nehmen.

    Müller: Jetzt wissen wir nicht alles. Nennen Sie uns einige Länder, die das verhindert haben.

    Verheugen: Die USA, Großbritannien, Irland, um mal drei zu nennen.

    Müller: Frankreich?

    Verheugen: Nein, Frankreich nicht.

    Müller: Frankreich war auf der deutschen Linie, auf der deutschen Seite, wir müssen stärker kontrollieren?

    Verheugen: Ich weiß, ob es eine deutsche Linie gegeben hat in den letzten Jahren, wirklich zu europäischen Regelungen zu kommen. Aber es hat auch keinen Sinn, jetzt irgendwelche Schuldige zu suchen oder in der Vergangenheit herumzuwühlen. Entscheidend ist, dass die Philosophie sich grundlegend geändert hat. Und dass die Erkenntnis jetzt allgemein da ist, dass international vernetzte Märkte, auch international vereinbarte Regeln brauchen, dass es nicht ausreicht, nationale Aufsicht zu haben, sondern dass wir mindestens eine europäische Aufsicht brauchen. Und ich denke, wir werden auch zu einem weltweiten System kommen müssen, jedenfalls in den entscheidenden Fragen. Die Kommission arbeitet im Augenblick Tag und Nacht, um die Vorschläge fertigzustellen, die in dieser Woche dann dazu beitragen sollen, das Problem in den Griff zu kriegen.

    Müller: Dann hätten wir vielleicht Oskar Lafontaine doch besser zuhören sollen in der Vergangenheit?

    Verheugen: Oskar Lafontaine, als er Finanzminister war, hat mit dem Kopf durch die Wand gewollt. Wenn ich mich richtig erinnere, war denn das, 1998.

    Müller: 98/99, ja.

    Verheugen: 99. Und damals war die Bereitschaft noch geringer, überhaupt auf diese Themen einzugehen, als sie es in den letzten Jahren war.

    Müller: War das nicht alles falsch, was er damals gesagt hat?

    Verheugen: Oskar Lafontaine war doch nicht der Einzige, der gesagt hat, wir brauchen internationale Regeln. Das ist seit Jahren Bestandteil der Programme sozialdemokratischer Parteien in Europa, seit Jahren Bestandteil der Forderungen der Gewerkschaften, dass wir nicht nur internationale Handelsabkommen brauchen, sondern dass wir internationale Regelungen brauchen, die auch dafür sorgen, dass Sozialstandards, Umweltstandards bestehen und die dafür sorgen, dass diese gewaltigen Finanzströme, die jeden Tag um den Globus kreisen, nicht dazu führen, dass eines Tages die Realwirtschaft betroffen ist. Und genau den Zustand haben wir jetzt.

    Müller: Herr Verheugen, wir wollen schon nach vorne blicken, aber eine rückwärts gewandte Frage müssen Sie mir noch gestatten. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kann man schon sagen, was die Kontrolle anbetrifft. Die Politik hat da eindeutig versagt?

    Verheugen: Nicht die ganze Politik. Wir haben eine Situation gehabt, in der auch eine breite öffentliche Meinung der Politik gesagt hat, lasst die Finger davon. Muss ich Ihnen all die Leitartikel jetzt raussuchen lassen, noch bis vor wenigen Wochen, in denen die internationale Presse und auch große Teile der deutsche Presse uns geschrieben haben, lasst die Finger davon? Wir hatten eine wirklich ideologisch fundierte Auffassung, die man übrigens fälschlich neoliberal genannt habt, aber fälschlich. Das Beste wäre, man tut nichts. So ist es gewesen. Und das ist eine breite öffentliche Meinung gewesen. Und die breite öffentliche Meinung stützte sich darauf, dass es ja scheinbar funktioniert hat.

    Müller: Herr Verheugen, reden wir über die europäische Industrie. Sie sind als Kommissar dafür zuständig. Wir haben eben das bereits auch Martin Wansleben vom DIHK in Deutschland gefragt. Wenn wir jetzt so großzügig helfen, egal, ob da jetzt notwendig ist, umstritten, wie auch immer, und das alles so realisiert wird, die Summen sind ja unglaublich hoch, 400 Milliarden soll alleine ja das deutsche Rettungspaket umfassen, wird dann die Industrie bei ähnlichen strukturellen Krisen auch Ansprüche stellen und sagen, bitte mehr Staat, helft uns weiter?

    Verheugen: Natürlich wird sie das, hat ja schon angefangen mit der Automobilindustrie. Und das wird nicht ganz einfach sein für die Politik, den Beschäftigten zu erklären, wir reden ja hier über Arbeitsplätze, warum Hunderte von Milliarden bereitgestellt werden können, um das Bankensystem zu stabilisieren, während, wenn eine ganze Branche in Schwierigkeiten gerät, keine Mittel zur Verfügung stehen. Trotzdem ist es richtig. Die Mittel, über die wir hier reden, sind ja nicht wirklich das Geld. Da herrscht aber ein großes Missverständnis. Es handelt sich um Bürgschaften, bei denen ja gar nicht sicher ist, dass die jemals realisiert werden. Wahrscheinlich nicht. In Großbritannien geht man sogar davon aus, dass das viele Geld, das man hier bereitgestellt hat, zurückfließen wird, ja man sogar möglicherweise am Ende mit einem Gewinn da herauskommt. Es ist nicht so, dass jetzt der Haushalt mit diesen Zahlen belastet wird.

    Müller: Aber Peer Steinbrück hat gesagt, wir können den ausgeglichenen Haushalt so gut wie abschreiben?

    Verheugen: Ja, die Folgewirkungen für die Wirtschaft und die Folgewirkungen damit auch für den Haushalt besteht einfach darin, dass unsere Wachstumserwartungen deutlich zurückgeschraubt werden müssen, die Wirtschaft wächst langsamer, wenn sie im nächsten Jahr überhaupt noch wächst. Und das heißt jetzt übersetzt in die Sprache des Alltags, Menschen werden ihre Arbeitsplätze verlieren.

    Müller: Sie hatten das eben angesprochen, Herr Verheugen. Machen wir es einmal konkret. Jetzt kommt Opel Deutschland zu Ihnen und sagt, helfen Sie uns. Was sagen Sie dann?

    Verheugen: Nun, wenn ein Einzelunternehmen nach Brüssel kommt und Geld haben will, müssen wir sie sowieso nach Hause schicken. Solche Möglichkeiten gibt es nicht. Und ich glaube auch nicht, dass es klug wäre, jetzt ganze Sektoren der Industrie wieder staatlich zu subventionieren. Das ist die Politik, die wir Gott sei Dank hinter uns haben. Wir machen ja völlig andere Politik. Wir schaffen Rahmenbedingungen, die günstig sind für die Unternehmen und wir fördern ganz gezielt bestimmte Entwicklungen, die die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft stärken, zum Beispiel das Auto der Zukunft. Wir geben ja heute schon sehr viel Geld aus, um der Industrie zu helfen, dieses Auto zu bauen. Und wenn man jetzt mehr Geld einsetzen will, dann würde ich es bevorzugen, wenn man diese Mittel dazu verwenden würde, an der Stelle anzusetzen, wo das Problem liegt. Vorliegend liegt es eigentlich daran, dass die Industrie keine vernünftigen Autos mehr bauen. Es liegt daran, dass die Leute sie nicht kaufen, die kaufen keine neue Autos. Also müssen wir Anreize schaffen, damit die Bürgerinnen und Bürger das umweltfreundliche Auto auch tatsächlich kaufen. Das wäre eine wesentliche vernünftigere Lösung.

    Müller: Aber trotzdem würde es ja ein Hilfsprogramm für die Banken geben, die zum Teil ja hauptverantwortlich sind für das, was passiert, es aber nicht für angeschlagene Industrieunternehmen?

    Verheugen: Das Jammern nützt ja nichts. Die Banken sind das zentrale Nervensystem jeder modernen Volkswirtschaft. Wir haben ja nicht nur die Aufgabe, untereinander Geschäfte zu machen und viel Geld zu verdienen, wir haben vor allen Dingen die Aufgabe, die Wirtschaft mit Krediten zu versorgen. Und wenn das aufhört, wenn die Banken das nicht mehr können, bricht die gesamte Volkswirtschaft zusammen. Dann ist der allergrößte mögliche Schaden eingetreten. Darum ist es richtig zu sagen, wir müssen jetzt erst einmal dieses Finanzsystem stabilisieren und gleichzeitig alles tun, um zu verhindern, dass es Auswirkungen auf die Realwirtschaft gibt. Aber die sind schon da. Ich sehe doch jeden Tag, wie die Unternehmen mir mitteilen, dass sie Investitionen zurückstellen müssen, wie sie mir mitteilen, dass die Aufträge zurückgehen, dass Aufträge gestrichen werden. Ich sehe, wie nervös der Handel ist in Bezug auf das bevorstehende Weihnachtsgeschäft. Wenn jetzt nicht wirklich schnell das Vertrauen wieder zurückkehrt, und genau darum geht es, es ist alles eine Vertrauensfrage, dann werden wir im nächsten Jahr ein großes Problem haben.

    Müller: EU-Kommissar Günter Verheugen im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, auf Wiederhören nach Brüssel!

    Verheugen: Danke!