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Die Bedeutung des Elysee-Vertrags

    Müller: Am Telefon sind wir nun verbunden mit jemanden, der die deutsch-französischen Beziehungen ebenfalls aktiv mitgestaltet hat, der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Herr Genscher, war der Elysee-Vertrag ein Meilenstein zur Überwindung des Nationalismus in Westeuropa?

    Genscher: Ja, absolut. Zwar hatte die deutsch-französische Aussöhnung schon früher begonnen, aber es war ein ganz entscheidender Meilenstein, weil nun dieser einzigartigen Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland eine langfristige Ausrichtung gegeben wurde, und die Erwartungen, die man damals mit diesem Vertrag verbunden hat, haben sich ja voll erfüllt; sie sind von allen Regierungen als Notwendigkeit nicht nur für die eigenen Interessen, sondern für die Einigung Europas betrachtet worden.

    Müller: Inwieweit geht dieser Vertrag in erster Linie, wenn ich das so formulieren darf, auch auf die beiden Staatsmänner Adenauer und de Gaulle zurück?

    Genscher: Ja, natürlich. Es hat vorher eine Fülle von Initiativen gegeben - aus Frankreich sind zu nennen Jean Monnet und Robert Schumann -, aber es bedurfte zweier Persönlichkeiten, wie sie Adenauer und de Gaulle repräsentierten, ganz unterschiedlicher Herkunft, ganz unterschiedlicher Lebenswege, die gesagt haben, wir müssen jetzt auch dauerhaft festlegen, Frankreich und Deutschland wollen den Weg in die Zukunft gemeinsam gehen, und sie haben das im vollen Bewusstsein der Tatsache getan, dass ohne deutsch-französische Aussöhnung Europa nicht werden würde.

    Müller: War aus Ihrer Sicht 1963 die Politik der Bevölkerung voraus?

    Genscher: Nein, ich glaube, dass im Gegenteil die Bevölkerung auf beiden Seiten vor allem eine solche Politik erwartet hat. Alle wissen, wie sehr man doch die Vorstellung hatte, es dürfe nie wieder Krieg zwischen Franzosen und Deutschen geben.

    Müller: Wir haben über das Positive gesprochen. Verraten Sie uns eine der größten Schwierigkeiten, auf die Sie in der Amtszeit im deutsch-französischen Verhältnis getroffen sind.

    Genscher: Ich habe wirklich tiefgreifende Schwierigkeiten nie erlebt, weil ich immer - ich habe ja mit einer ganzen Reihe von französischen Außenministern auch unterschiedlichen politischen Hintergrunds in 18 Jahren zu tun gehabt -, den festen Willen festgestellt habe, zu gemeinsamen Schritten mit Deutschland zu kommen. Das war auf unserer Seite der Fall, und man kann deshalb sagen, dass ganz wichtige Ergebnisse europäischer Politik wie jetzt die Wirtschafts- und Währungsunion, vorher die Europäische Währungsgemeinschaft wie sie von Giscard und Helmut Schmidt initiiert worden war, erreicht werden konnten, und es hat sich auch gezeigt, dass jetzt wieder wichtige Impulse für den europäischen Konvent vereinbart wurden. Der deutsch-französische Motor, der manchmal natürlich auch stottert, ist wieder in voller Kraft da, und das ist wichtig für die Zukunft Europas, vor allem in einer Zeit, in der Europa in einer entstehenden neuen Weltordnung seinen gebührenden Platz einnehmen muss.

    Müller: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio