Spengler: Am Telefon begrüße ich nun Ulrike Flach, FDP-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bundestags. Guten Morgen, Frau Flach.
Flach: Guten Morgen. Herr Spengler.
Spengler: Ist das nicht schrecklich, wenn die deutschen Grundschüler wirklich ganz passabel im Lesen und auch in Mathematik und den Naturwissenschaften abschneiden, dann liegt doch der Schluss nahe, es ist alles nicht so schlimm in der Bildungspolitik, PISA hat wahrscheinlich übertrieben, folglich darf weiter gewurschtelt werden.
Flach: Ich befürchte, Sie haben recht, das wird wahrscheinlich die einhellige Meinung vieler Politiker sein, die keine Lust haben, sich überhaupt zu bewegen. Wir kriegen also wieder genau die Diskussion, die wir schon mal zu Beginn von PISA hatten: es ist ja eigentlich alles nicht so ganz wahr und eigentlich sind wir doch viel besser.
Spengler: Was sagen Sie denn dazu?
Flach: Ich glaube, dass man eher einmal die Bretter aus den Köpfen bewegen sollte und überlegen, warum dieses Bermuda-Dreieck denn zwischen der Grundschule und den Fünfzehnjährigen entstanden ist und doch wieder freimachen müssen für Diskussionen über die Struktur unseres Schulsystems.
Spengler: Darf ich da noch mal nachfragen: der Bildungsforscher Klaus Klemm hat gesagt: "bis zum Beginn der Sekundarstufe, der fünften Klasse also, werden die Kinder international wettbewerbsfähig abgeliefert, danach werden sie entsprechend Leistungsfähigkeit und sozialer Stellung sortiert. Die Schulprobleme beginnen erst mit der Klasse Fünf." Dieser These stimmen Sie zu?
Flach: Man kann nie hundertprozentig der Meinung irgendeines Forschers sein, aber Herr Klemm ist natürlich eine auch international bekannte Persönlichkeit auf diesem gebiet und nach allem, was wir in den letzten Monaten seit PISA erfahren haben, hat er recht.
Spengler: Das heißt, das ist die Schlussfolgerung, die Schüler müssten länger zusammenbleiben, als sie es im Augenblick tun, also länger als vier Klassen?
Flach: Ja, wobei nur das Zusammenbleiben natürlich überhaupt nichts verbessern würde sondern selbstverständlich eine deutliche Verbesserung der individuellen Förderung. Das haben wir in all den Systemen, die wir bisher haben, wir haben ja einige Bundesländer, in denen zusammengeblieben wird, denken wir an die Orientierungsstufe in Niedersachsen oder an Berlin, da waren das aber Orientierungsstufen, mit denen man nicht leben konnte, weil sie nicht richtig individuell förderten.
Spengler: Ich wollte gerade sagen: gerade in Niedersachsen wird nun die Orientierungsstufe der Klasse fünf und sechs, wo also alle Schüler von der ersten bis zur sechsen Klasse zusammengeblieben sind, abgeschafft. Von Ihrer Partei.
Flach: Das ist richtig, ich habe mich da auch noch nicht besonders beliebt gemacht, als ich darauf hinwies, dass Forscher vielleicht auch mal ein bisschen den politischen Denkmustern voraus sind. Aber man muss, wenn Fakten und Forschungsergebnisse auf dem Tisch sind, wirklich offen darüber diskutieren und es sieht so aus, als ob dieses wirklich strenge Selektieren nach der vierten Klasse nicht der optimale Weg ist.
Spengler: Wie kann man das denn in Deutschland machen, die gemeinsame Schulzeit aller Kinder plus individueller Förderung, wie Sie gesagt haben, von vier Jahren ausdehnen auf, wie Klemm zum Beispiel fordert, neun bis zehn Jahre?
Flach: So weit würde ich nicht gehen. Ich würde sowieso erst mal aus Ausschussvorsitzende eine Anhörung sämtlicher Forscher, die auf diesem Gebiet in Deutschland tätig sind, das haben wir nach PISA auch gemacht, vornehmen. Ich würde auch nicht gleich Maximalforderungen aufstellen, sondern erst mal überlegen: sind die Länder überhaupt in der Lage, das erforderliche Lehrpersonal zur Verfügung zu stellen und wie sähe dann solche eine erweiterte Grundschule aus. Ich würde auch nicht mit so vielen Jahren anfangen, maximal zwei Jahre und ohne zusätzliche Lehrer in diesen Klassen, die beide fördern - die Begabteren und die weniger Begabten - ist so ein System natürlich nicht besser, als das bisherige.
Spengler: Welche Schulform schwebt Ihnen da überhaupt vor, wenn es so kommen würde, wie sie wollen? Ein wenig ausdehnen, vielleicht nicht gleich neun Jahre, vielleicht einige Jahre, wäre das dann so eine Art integrierte Gesamtschule?
Flach: Auch da würde ich davor warnen, den Begriff überhaupt zu verwenden. Sie haben alle Leute auf den Barrikaden, wenn sie das Wort Gesamtschule hören. Aber ich würde eine verlängerte Grundschule bis zu sechs Jahren vorschlagen. Ich bin Nordrhein-Westfale, ich erinnere mich, dass wir dort vor vielen Jahren auch eine längere Schule hatten. Manches wiederholt sich auch, und wenn man mal die ideologischen Barrieren beiseite lässt, ist man vielleicht auch bereit, sich auf ein gemeinsames Modell zu einigen.
Spengler: Wenn denn das alles so ist, wie die Studie nahe legt und wie Sie das auch interpretieren, warum schneiden denn eigentlich Länder wie Baden-Württemberg und Bayern, die ja nun ganz konsequent auf Dreigliedrigkeit und frühe Trennung setzen, trotzdem so gut ab?
Flach: Weil in diesen beiden Ländern nach meinem Kenntnisstand auch mehr in Bildung investiert wird. Die Versorgung mit Lehren ist besser, ganz offensichtlich kümmert man sich mehr um die Kinder, wir haben das an dem typischen Beispiel Migrantenkinder gesehen, gerade in Bayern sind deren Ergebnisse deutlich besser als in anderen Ländern. Es ist eben nicht das Zauberwort 'ich selektiere' sondern 'wie kümmere ich mich um die Kinder'.
Spengler: Das heißt, wichtig ist und bleibt der Unterricht?
Flach: So ist das.
Spengler: Könnte unser schlechtes Abschneiden, jedenfalls bei PISA, daran liegen, dass Schulen mit dem Lernstoff, mit dem Unterrichtsausfall, mit der Notengebung, mit dem Leistungsgedanken zu beliebig oder zu liberal umgegangen wird?
Flach: Haha, das fragen Sie ein Liberale.
Spengler: Ja genau.
Flach: Ich glaube nicht zu liberal. Wir haben in vielen Ländern gedacht: ach, laß die Kleinen doch erst mal so heranwachsen. Und da liegt nach meiner Sicht die Schuld nicht nur in der Schule, sondern natürlich auch im Elternhaus. Wie viele Eltern sitzen zuhause und sagen: das arme Kind, es soll noch nicht belastet werden. Das ist ein Grundfehler unseres Denkens. Wir fangen viel zu spät an, fördern die Kinder viel zu spät, verschenken die gesamte Vorschulzeit und sind eigentlich immer so besorgt gewesen, dass wir nur nicht zu viel Druck in die Kleinen hineinbringen. Dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die in der produktivsten Zeit ihres Lebens eigentlich in der Schule sitzen, haben wir oft vernachlässigt.
Spengler: Das heißt, die alte FDP-Parole "Leistung soll sich lohnen" auch für die Schule?
Flach: Ja, aber Leistung so, dass auch die mitgenommen werden können, die eben nicht zu Top-Leistungen in der Lage sind. Ich muss ja alle mitnehmen. Und das ist ja eigentlich das Fatale für die Politik nach all diesen Studien: wir haben es nicht geschafft, die Chancen so zu verteilen, dass jeder weiterkommen kann sondern unser Schulsystem ist ausgesprochen ungerecht.
Spengler: Ich bedanke mich für das Gespräch, das war Ulrike Flach, FDP-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Bundestagsbildungsausschusses
Link: Interview als RealAudio
Flach: Guten Morgen. Herr Spengler.
Spengler: Ist das nicht schrecklich, wenn die deutschen Grundschüler wirklich ganz passabel im Lesen und auch in Mathematik und den Naturwissenschaften abschneiden, dann liegt doch der Schluss nahe, es ist alles nicht so schlimm in der Bildungspolitik, PISA hat wahrscheinlich übertrieben, folglich darf weiter gewurschtelt werden.
Flach: Ich befürchte, Sie haben recht, das wird wahrscheinlich die einhellige Meinung vieler Politiker sein, die keine Lust haben, sich überhaupt zu bewegen. Wir kriegen also wieder genau die Diskussion, die wir schon mal zu Beginn von PISA hatten: es ist ja eigentlich alles nicht so ganz wahr und eigentlich sind wir doch viel besser.
Spengler: Was sagen Sie denn dazu?
Flach: Ich glaube, dass man eher einmal die Bretter aus den Köpfen bewegen sollte und überlegen, warum dieses Bermuda-Dreieck denn zwischen der Grundschule und den Fünfzehnjährigen entstanden ist und doch wieder freimachen müssen für Diskussionen über die Struktur unseres Schulsystems.
Spengler: Darf ich da noch mal nachfragen: der Bildungsforscher Klaus Klemm hat gesagt: "bis zum Beginn der Sekundarstufe, der fünften Klasse also, werden die Kinder international wettbewerbsfähig abgeliefert, danach werden sie entsprechend Leistungsfähigkeit und sozialer Stellung sortiert. Die Schulprobleme beginnen erst mit der Klasse Fünf." Dieser These stimmen Sie zu?
Flach: Man kann nie hundertprozentig der Meinung irgendeines Forschers sein, aber Herr Klemm ist natürlich eine auch international bekannte Persönlichkeit auf diesem gebiet und nach allem, was wir in den letzten Monaten seit PISA erfahren haben, hat er recht.
Spengler: Das heißt, das ist die Schlussfolgerung, die Schüler müssten länger zusammenbleiben, als sie es im Augenblick tun, also länger als vier Klassen?
Flach: Ja, wobei nur das Zusammenbleiben natürlich überhaupt nichts verbessern würde sondern selbstverständlich eine deutliche Verbesserung der individuellen Förderung. Das haben wir in all den Systemen, die wir bisher haben, wir haben ja einige Bundesländer, in denen zusammengeblieben wird, denken wir an die Orientierungsstufe in Niedersachsen oder an Berlin, da waren das aber Orientierungsstufen, mit denen man nicht leben konnte, weil sie nicht richtig individuell förderten.
Spengler: Ich wollte gerade sagen: gerade in Niedersachsen wird nun die Orientierungsstufe der Klasse fünf und sechs, wo also alle Schüler von der ersten bis zur sechsen Klasse zusammengeblieben sind, abgeschafft. Von Ihrer Partei.
Flach: Das ist richtig, ich habe mich da auch noch nicht besonders beliebt gemacht, als ich darauf hinwies, dass Forscher vielleicht auch mal ein bisschen den politischen Denkmustern voraus sind. Aber man muss, wenn Fakten und Forschungsergebnisse auf dem Tisch sind, wirklich offen darüber diskutieren und es sieht so aus, als ob dieses wirklich strenge Selektieren nach der vierten Klasse nicht der optimale Weg ist.
Spengler: Wie kann man das denn in Deutschland machen, die gemeinsame Schulzeit aller Kinder plus individueller Förderung, wie Sie gesagt haben, von vier Jahren ausdehnen auf, wie Klemm zum Beispiel fordert, neun bis zehn Jahre?
Flach: So weit würde ich nicht gehen. Ich würde sowieso erst mal aus Ausschussvorsitzende eine Anhörung sämtlicher Forscher, die auf diesem Gebiet in Deutschland tätig sind, das haben wir nach PISA auch gemacht, vornehmen. Ich würde auch nicht gleich Maximalforderungen aufstellen, sondern erst mal überlegen: sind die Länder überhaupt in der Lage, das erforderliche Lehrpersonal zur Verfügung zu stellen und wie sähe dann solche eine erweiterte Grundschule aus. Ich würde auch nicht mit so vielen Jahren anfangen, maximal zwei Jahre und ohne zusätzliche Lehrer in diesen Klassen, die beide fördern - die Begabteren und die weniger Begabten - ist so ein System natürlich nicht besser, als das bisherige.
Spengler: Welche Schulform schwebt Ihnen da überhaupt vor, wenn es so kommen würde, wie sie wollen? Ein wenig ausdehnen, vielleicht nicht gleich neun Jahre, vielleicht einige Jahre, wäre das dann so eine Art integrierte Gesamtschule?
Flach: Auch da würde ich davor warnen, den Begriff überhaupt zu verwenden. Sie haben alle Leute auf den Barrikaden, wenn sie das Wort Gesamtschule hören. Aber ich würde eine verlängerte Grundschule bis zu sechs Jahren vorschlagen. Ich bin Nordrhein-Westfale, ich erinnere mich, dass wir dort vor vielen Jahren auch eine längere Schule hatten. Manches wiederholt sich auch, und wenn man mal die ideologischen Barrieren beiseite lässt, ist man vielleicht auch bereit, sich auf ein gemeinsames Modell zu einigen.
Spengler: Wenn denn das alles so ist, wie die Studie nahe legt und wie Sie das auch interpretieren, warum schneiden denn eigentlich Länder wie Baden-Württemberg und Bayern, die ja nun ganz konsequent auf Dreigliedrigkeit und frühe Trennung setzen, trotzdem so gut ab?
Flach: Weil in diesen beiden Ländern nach meinem Kenntnisstand auch mehr in Bildung investiert wird. Die Versorgung mit Lehren ist besser, ganz offensichtlich kümmert man sich mehr um die Kinder, wir haben das an dem typischen Beispiel Migrantenkinder gesehen, gerade in Bayern sind deren Ergebnisse deutlich besser als in anderen Ländern. Es ist eben nicht das Zauberwort 'ich selektiere' sondern 'wie kümmere ich mich um die Kinder'.
Spengler: Das heißt, wichtig ist und bleibt der Unterricht?
Flach: So ist das.
Spengler: Könnte unser schlechtes Abschneiden, jedenfalls bei PISA, daran liegen, dass Schulen mit dem Lernstoff, mit dem Unterrichtsausfall, mit der Notengebung, mit dem Leistungsgedanken zu beliebig oder zu liberal umgegangen wird?
Flach: Haha, das fragen Sie ein Liberale.
Spengler: Ja genau.
Flach: Ich glaube nicht zu liberal. Wir haben in vielen Ländern gedacht: ach, laß die Kleinen doch erst mal so heranwachsen. Und da liegt nach meiner Sicht die Schuld nicht nur in der Schule, sondern natürlich auch im Elternhaus. Wie viele Eltern sitzen zuhause und sagen: das arme Kind, es soll noch nicht belastet werden. Das ist ein Grundfehler unseres Denkens. Wir fangen viel zu spät an, fördern die Kinder viel zu spät, verschenken die gesamte Vorschulzeit und sind eigentlich immer so besorgt gewesen, dass wir nur nicht zu viel Druck in die Kleinen hineinbringen. Dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die in der produktivsten Zeit ihres Lebens eigentlich in der Schule sitzen, haben wir oft vernachlässigt.
Spengler: Das heißt, die alte FDP-Parole "Leistung soll sich lohnen" auch für die Schule?
Flach: Ja, aber Leistung so, dass auch die mitgenommen werden können, die eben nicht zu Top-Leistungen in der Lage sind. Ich muss ja alle mitnehmen. Und das ist ja eigentlich das Fatale für die Politik nach all diesen Studien: wir haben es nicht geschafft, die Chancen so zu verteilen, dass jeder weiterkommen kann sondern unser Schulsystem ist ausgesprochen ungerecht.
Spengler: Ich bedanke mich für das Gespräch, das war Ulrike Flach, FDP-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Bundestagsbildungsausschusses
Link: Interview als RealAudio