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DIe Bildungsmisere in Deutschland

Remme: Deutschland, Vier minus, so etwa lautet das Urteil der großen internationalen Vergleichsstudie Pisa, in der in 31 Ländern die Basiskompetenz von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern getestet wurde, und zwar beim Leseverständnis, in Mathematik und in Naturwissenschaften. Die Ergebnisse bestätigen einerseits längst und hier weitgehend akzeptierte Mängel des deutschen Bildungswesens. Andrerseits werden bisher eben so akzeptierte vermeintliche Aktiva der deutschen Schulstruktur in Frage gestellt. Ein ist sicher: das Ergebnis der Studie ist aus deutscher Sicht völlig unbefriedigend. Die einzelnen Testergebnisse sind in den letzten Tagen oft diskutiert worden. Wir wollen heute auf die frühe Lernphase eingehen, denn die Kultusminister haben gestern beraten. Ein Ergebnis: die Grundschularbeit soll verbessert werden. Es soll generell früher eingeschult und ein größeres Augenmerk auf die Bildung im Vorschulalter gelegt werden. Am Telefon ist nun Donata Elschenbroich, Kindheitsforscherin am Deutschen Jugendinstitut, sie hat letztlich ein viel beachtetes Weltbuch geschrieben, mit dem Titel "Das Weltwissen der Siebenjährigen". Guten Morgen, Frau Elschenbroich.

    Elschenbroich: Guten Morgen.

    Remme: Ich habe die vergleichsweise großen Defizite deutscher Schulkinder bereits erwähnt. Glauben Sie, die Wurzeln dieser Probleme sind bereits in der Vorschulphase angelegt?

    Elschenbroich: Internationale Vergleichsstudien zur Schulleistung haben ja schon lange gezeigt, dass die westlichen Gesellschaften gegenüber den asiatischen schlecht abschneiden. Das hat man in Deutschland lange ignoriert und sich erst in den 90ern an solchen internationalen Vergleichsstudien beteiligt. Und da hat sich dann auch gezeigt, dass Deutschland auch innerhalb der westlichen Gesellschaft nicht gut da steht. Die Gymnasiallehrer haben damals mit Recht darauf hingewiesen, dass das nicht nur an ihrer methodischen Inkompetenz im Unterricht liegt, sondern dass diese Studien etwas anderes erheben, also nicht nur angehäuftes Wissen, Faktenwissen, sondern Grundeinstellungen gegenüber dem Lernen, gegenüber dem Kooperieren und die Fähigkeit, sein eigenes Lernen selbst zu steuern. Da sieht es nicht gut aus, und diese Mängel werden mit Recht darauf zurückgeführt, dass die Wurzeln in der Kindheit nicht systematisch genug gelegt worden sind. Insofern ist die Reaktion zunächst richtig, zu sagen, die Grundschulen müssen erweitert werden, sie müssen sich öffnen - das tun sie im Augenblick schon, es gibt eine lebendige Diskussion in Grundschulen -, aber das Erschreckende an dieser Studie ist ja auch, dass die besonders große Schere in Deutschland zwischen den leistungsstarken, optimistischen, forschungswilligen Jugendlichen und den gebremsten, in ihrem Lernen eingeschränkten Jugendlichen. Diese Unterschiede beobachten die Grundschullehrer schon bei ihren Schuleingängern, d.h. die frühe Bildungszeit, die sechs, sieben Jahre, die Kinder im Kindergarten, in der Familie verbringen, können dazu führen, dass Kinder begeistert lernen und für alles offen sind oder aber auch, dass ihnen viele Türen schon verschlossen sind. Das muss uns aufhorchen lassen.

    Remme: Wie würden Sie die Arbeit in den deutschen Kindergärten charakterisieren? Wo sind die Defizite?

    Elschenbroich: Ich glaube, es gibt auch in den Kindergärten dieses sehr große Qualitätsgefälle zwischen Kindergärten, in denen es sehr anregend zugeht und die Erzieher durchaus Hochachtung vor ihrer eigenen Aufgabe ausstrahlen und Kindergärten, in denen es sehr öde, langweilig und monoton zugeht, wo die Kinder längst nicht in ihrem Potential erkannt und gesteigert werden. Die Kindergärten sagen mit Recht, sie haben die Kinder zwar 4000 Stunden vor der Schule, aber die weitaus meiste Zeit verbringen Kinder in ihren Familien, und da müssen wir den Eltern auch noch mehr helfen, diese frühe Lebenszeit als eine spannende und als eine interessante Bildungszeit zu verstehen.

    Remme: Bleiben wir doch mal bei diesen Kindergärten. Sie sagen, es gibt welche, in denen es öde und langweilig ist. Woran liegt das? Sind die Erzieherinnen schlecht ausgebildet? Sind sie möglicherweise einfach zu träge? Denn es gibt ja schon den gesetzlichen Bildungsauftrag für den Kindergarten.

    Elschenbroich: Den Bildungsauftrag gibt es schon seit einigen Jahren, und er wird auch meiner Erfahrung nach von vielen Erziehern sehr aufgegriffen. Es gibt eine Suche danach, was kann eigentlich Bildung in diesen Jahren heißen. Man will die Kindheit nicht verschulen, Sie wissen, wir haben in Deutschland dieses Bild von Kindheit als stressfreie, wissensfreie, bildungsfreie Zeit, und das hat oft dazu geführt, dass man die Kinder vor etwas verschonen will, das man selbst als Stress oder Zwang erfahren hat, nämlich das Lernen. Und diese Ideologie hat sich in vielen Kindergärten in einer unguten Weise auch verfestigt. Natürlich, wie Sie sagen, kommt dazu, dass es zu wenig öffentliche Achtung dieser Bildungsarbeit in diesen Jahren gibt und die Erzieher entsprechend auf niedrigem Niveau, auf niedrigem Status ausgebildet werden.

    Remme: Geben Sie ruhig mal ein paar ganz konkrete Beispiele. Wie sollte es Ihrer Meinung nach in einem beispielhaften Kindergarten zugehen? Was sollte da geschehen?

    Elschenbroich: Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Kinder dort mal übernachtet haben. Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass mit Kindern in den Wald gegangen wird, dass zusammen gekocht wird, dass es eine Schreib- und Leseecke gibt. Das ist auch gerade ein ganz wichtiges Ergebnis dieser Pisa-Studie diese erschreckende Leseunwilligkeit oder Leseunfähigkeit vieler Jugendlicher hängt unseres Erachtens auch damit zusammen, dass man die Kinder zu lange von ihrem Interesse an der Welt der Zeichen fern hält. Das ist nicht unbedingt das Lesen lernen, sondern das sind ihre ersten Botschaften, das, was sie selbst gerne tun, sich mitteilen, ihre Faszination an dem, was auch die Erwachsenen können, aus abstrakten Zeichen einen Sinn rauszuholen. Und das sie das so lange heraus schieben und denken, diesen Stress sollte man Kindern ersparen bis zur Schulzeit. Das ist sicher kontraproduktiv, das kann man auch im internationalen Vergleich gut sehen, wo Preliteracy, das ist das Schlagwort dazu, ein neuer Forschungsgegenstand ist. Und man versucht den Kindern viel früher spielerische Zugänge zu dieser Welt des Lesens und Schreibens und Kommunizierens zu eröffnen.

    Remme: Frau Elschenbroich, Sie haben in Ihrem Buch eine Art Wissens- oder Erfahrungskatalog aufgestellt, ganz konkret aufgeschrieben, was Kinder, wenn sie sieben sind, wissen können, erfahren haben sollten. Und es dauerte nicht lange, da kam Kritik, sie würden Kinder, und damit dann ja auch die Eltern regelrecht überfordern und Stress aussetzen. Was sagen Sie dazu?

    Elschenbroich: Ich denke, dass diese Mischung dieses Bildungskanons, der ja im Gespräch mit ganz vielen Menschen auch ganz unterschiedlicher Bildungshintergründe entstanden ist, das dieses Mischungsverhältnis der Bildungserfahrungen, die da aufgezählt sind, eigentlich verhindern kann, dass es eine einzige Checklisten oder ein schulischer Stresskatalog wird, denn da finden sich auch solche Bildungserlebnisse, wie dass ein Kind während einer Krankheit von seinem Vater gepflegt werden sollte, dass es diese Erfahrung gemacht haben sollte, dass es einmal in einen Bach gefallen sein sollte. Also viele sinnliche, ästhetische, lebenspraktische Erfahrungen, auf die Kinder ein Recht haben, und die wir als Bildungserfahrungen verstehen müssen. Und dieser Katalog ist auch von vielen Eltern und Erziehern verstanden worden als eine Ermutigung dann dieses selbsttätige Lernen der Kinder, dass sie uns ja immer vorführen, wenn alles gut läuft, also ihren Forscherdrang zu steigern und sich da ihnen anzuschließen.

    Remme: In der angesprochenen Studie kommt ganz besonders Finnland sehr gut weg. Für Sie eine Überraschung?

    Elschenbroich: Keine Überraschung, weil Finnland schon eine historisch sehr lange Lesekultur hat. In Finnland und Schweden wird schon sehr lange den Kindern zugetraut, dass sie sich für Bücher interessieren, und das hat Gespräche mit Erwachsenen ausgelöst, und Gespräche sind unglaublich wichtig.

    Remme: Interessant fand ich auch, dass Finnland diese Ergebnisse erzielt mit einer Lernkultur, die hier ja fast schon ein bisschen in Verruf geraten ist, mit Gesamtschule und ohne Noten in der Grundschule.

    Elschenbroich: Ja, dass das Lernen bei uns so früh in die Nachbarschaft von Richtig und Falsch und von Selbstabwertung, die damit auch immer verbunden ist, gerückt wird, ist etwas, worüber wir nachdenken müssen. Das tut dem Lernen nicht gut und wir haben oft die Erfahrung gemacht, dass das Weltwissen, das die Kinder in den frühen sieben Jahren aufbauen, in der Schule viel zu wenig geachtet wird.

    Remme: Frau Elschenbroich, die Studie bringt eine Annahme ins Wanken, die hier in Deutschland fast Konsens ist, dass nämlich die frühe Aufteilung der Schüler im Alter von zehn Jahren, dass diese Homogenisierung der Lerngruppen ein Plus an Qualität bietet. Steht diese Struktur für Sie zur Disposition?

    Elschenbroich: Es ist nicht ganz mein Feld, um das zu sagen, Herr Remme. Die Gesamtschuldiskussion wird jetzt sicher noch mal neu entstehen. Ich denke, es ist vor allem ganz wichtig, dass wir jetzt nicht nur die Grundschulen in den Blick nehmen, sondern auch die Zeit vor den Grundschulen. Und dass wir auch die Grundschullehrer darin unterstützen, dass sie nicht mit einer Tabula Rasa zu tun haben mit den Siebenjährigen, sondern mit Kindern, die entweder, wenn es gut gelaufen ist, ihr Interesse an der Welt steigern konnten, oder eben auch schon die erste Schlappen einstecken mussten. Da müssen wir einsetzen, dass die Bildungszeit der frühen Jahre wirklich in einer ganz anderen Weise aufgewertet und auch unterstützt wird, die Eltern wie die Berufserzieher.

    Remme: Auf einen Aspekt der Studie will ich noch eingehen. Sie haben das eben schon mal ganz kurz angesprochen, laut Pisa ist der Unterschied zwischen den Leistungen von Kindern aus sozial schwachen und sozial starken Familien in keinem der 31 Länder so groß wie in Deutschland. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

    Elschenbroich: Das ist sehr schwer zu sagen, das gibt uns sehr zu denken. Wir beobachten das auch und umso wichtiger, denke ich, ist es, so etwas wie einen Bildungskanon zu entwerfen, Grunderfahrungen, auf die jedes Kind ein Recht hat in allen Schichten und in allen Stadtteilen. Es ist wirklich so, dass in Japan nach meinen Beobachtungen, ich habe da an die hundert Kindergärten besucht, diese krassen Qualitätsunterschiede nicht zu beobachten sind, also in ärmeren Stadtvierteln und in ländlichen Stadtvierteln. In Japan gibt es überall ein ganz großes Engagement für die frühen Jahre als eine zeit, in der sich die Zukunft der nächsten Generationen nicht entscheidet, aber doch wesentlich geformt wird. Und dieses Bewusstsein muss hier einfach noch deutlicher gesteigert werden.

    Remme: Der Stammtisch der sieht diese Studien und sagt: Mensch, solange wir immer noch die besten Autos der Welt bauen und in der Umwelttechnologie führend sind, dann kann es doch wohl so schlimm nicht sein. Verfallen wir da jetzt auch ein bisschen in Schwarzmalerei?

    Elschenbroich: Ich würde eher statt das jetzt alles nur zu skandalisieren mich immer umschauen nach den guten Ansätzen. Das erlebe ich einfach in den letzten ein, zwei Jahren: Ein sehr gewecktes Engagement sowohl von Elterngruppen als auch von Erziehern, von den Fachberatern, also der Ebene, die sich Gedanken machen über Qualität in frühen Jahren, und eher die bisherigen Defizite kritisieren durch das, was auch positiv möglich ist. Die positiven Erwartungen an das Bildungsmögliche zu konkretisieren, das wäre sozusagen mein Versuch, den erschütternden Ergebnissen von Pisa etwas entgegen zu setzen.

    Remme: Die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich war das. Sie arbeitet am Deutschen Jugendinstitut. Frau Elschenbroich, vielen Dank für das Gespräch!

    Link: Interview als RealAudio