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Die Briten und der Brexit
Knapp 100 Tage vor dem EU-Austritt wächst die Spannung

Hardliner, denen alles zu lange dauert, Gemäßigte, die doch lieber noch einmal über andere Optionen nachdenken wollen und Brexit-Gegner, die weiter in der EU bleiben wollen: 100 Tage vor dem Austritt ist noch immer unklar, wie es weitergeht. Gleichzeitig wächst die Sorge vor einem Wirtschaftscrash.

Von Thomas Spickhofen | 29.12.2018
    Eine deutsche, eine britische und eine europäische Flagge hängen nebeneinander.
    vor allem kleine und mittelständische Unternehmen blicken mit Sorge auf das EU-Austrittsdatum im März 2019 (dpa/Frank Rumpenhorst)
    Den vielen taktischen Gedankenspielen im Londoner Regierungsviertel Westminster können die Menschen im Land nur noch wenig abgewinnen. Wir sind diesen ganzen Streit einfach satt, sagt dieser junge Mann aus Leeds, einer Industriestadt im Norden von England.
    Definitiv, wir haben das satt, bestätigt ihn eine Frau, die neben ihm steht.
    Auch zweieinhalb Jahre nach dem Referendum sei immer noch völlig unklar, wie es weitergeht, sagt ein Dritter, den Leuten hängt das alles zum Hals raus. Wir haben für den Austritt gestimmt, also raus jetzt.
    Sarah ist Britin, aufgewachsen in Italien, aber sie war auch lange in Paris und in Amerika. Sarah hat für den Verbleib in der EU gestimmt. Aber jetzt ist sie für den Austritt. Sie habe ihre Meinung komplett geändert und wolle jetzt eine positive, neue Beziehung als ein glücklicher Nachbar, sagt Sarah, nicht als unglücklicher Untermieter.
    Der Austritt werde zwar ein bisschen schmerzhaft, glaubt Sarah, aber auf lange Sicht lohne sich das.
    Die Fronten sind unübersichtlich geworden
    EU-Freunde, die jetzt rauswollen, Brexit-Hardliner, denen das alles zu lange dauert, Brexit-Gemäßigte, die jetzt doch lieber noch einmal über andere Optionen nachdenken wollen, bevor das Land womöglich ganz ohne Deal ausscheidet – auch im britischen Straßenpublikum sind die Fronten sehr unübersichtlich geworden. Einig sind sich die meisten nur darin: So kann es nicht weitergehen. Dazu hat die EU auch ihren Beitrag geleistet, findet Angela aus Stoke-on-Trent, einer Brexit-Hochburg.
    "Die Art, wie die EU unsere Minister behandelt hat, hat uns das Gefühl gegeben, dass es für uns besser ist, wenn wir raus sind."
    Die Warnungen der Geschäftswelt, die dunklen Szenarien der Wirtschaftsfachleute gab es auch damals vor dem Referendum. Sie erschüttern Angela nicht.
    "Ich stelle das nicht infrage, was gebildete Experten gesagt haben. Aber wir hatten unsere Gründe, warum wir für den Austritt gestimmt haben. Das war vor allem, weil wir hier nicht die Jobs haben, die wir haben sollten. Und daran hat sich nichts geändert."
    Ungewissheit bei der britischen Wirtschaft
    Die Ungewissheit, unter der die britische Wirtschaft leidet, fängt schon bei der Blumenhändlerin Elaine an. Seit mehr als 30 Jahren verkauft sie gelbe, rote, orangefarbene Gerbera, Rosen und Ranunkeln selbst im Winter. Sie hat einen Stand in der Tottenham Court-Road im Zentrum von London. Regelmäßig berät sie sich mit ihren Händlern in den Niederlanden.
    "Sie wissen auch nicht wie es mit dem Brexit weitergeht, aber ich ja genauso wenig. Sie sagen, wir warten jetzt einfach erst einmal ab und schauen was passiert. Meine Blumen kommen vorwiegend aus Holland."
    Bei einem chaotischen Brexit steht die Existenz von Blumenhändlerin Elaine auf dem Spiel. Es könnte sein, dass ihre Blumen im Lastwagen während der langen Wartezeit an der Grenze einfach verwelken, wenn es von einem Tag auf den anderen wieder Kontrollen gibt. Die Blumen kämen später bei Elaine an, sie müsste sie womöglich am gleichen Tag verkaufen, kaum machbar. Und mit den Zöllen würde alles teurer werden.
    Hoffen auf einen geordneten Brexit
    Das gilt auch für große Betriebe und Unternehmen. Wir werden durch die Unsicherheit gehemmt, kritisiert die Direktorin des Verbandes der britischen Industrie Carolyn Fairbairn.
    "Die Wirtschaft muss Jobs erhalten, wir wollen einfach weitermachen, wir müssen planen. Mit dem Brexit-Abkommen von Theresa May wäre zumindest die Gefahr eines ungeordneten Brexit gebannt. Und es ist der Weg zu einem guten Freihandelsabkommen."
    Sollte es zu einem No-deal-Brexit kommen, dann könnte ein Wirtschaftscrash drohen, der schlimmer wäre als die Finanzkrise von 2008, warnt Notenbank-Chef Mark Carney.
    "Umfragen zeigen, dass das Land nicht auf einen chaotischen Austritt vorbereitet ist. Weniger als die Hälfte der Unternehmen haben Notfallpläne für einen Brexit ohne Deal, weniger als ein Fünftel der kleinen Unternehmen haben Vorkehrungen getroffen."
    Für Blumenhändlerin Elaine ist die Vorbereitung auch schwierig. Die großen Firmen dagegen, die es sich leisten können, Know-how aufzubauen, bereiten sich längst auf das Worst-Case-Szenario vor. BMW zum Beispiel will aus Angst vor Lieferengpässen seine Produktion des Kleinwagens "Mini" im englischen Oxford unmittelbar nach dem 29. März für vier Wochen schließen, die ohnehin geplante Sommerpause wird einfach vorgezogen.
    Volle Lager, überquellende Kühlhäuser
    Fluglinien haben Dependancen in der EU aufgebaut, um weiterhin ihre Strecken bedienen zu können, Banken errichten Standorte in der Union, um weiterhin Zugang zum EU-Finanzmarkt zu haben. Und manche buchen einfach Platz: Die Lagerhäuser im ganzen Land sind fast dicht, berichtet der Logistik-Unternehmer Robert Hardy. Die Telefone klingeln ununterbrochen, wir sind überbucht, sagt Hardy.
    Hardys Kunden wollen gewappnet sein, falls es zu Lieferproblemen am Nadelöhr Calais-Dover kommt. Wer nicht schon was organisiert hat, der wird enttäuscht sein, befürchtet Shane Brennan vom Verband der Lebensmitteltransporteure. Die Lager seien bereits voll.
    Vor allem die Kühlhäuser quellen über, heißt es beim Verband. Kühl gelagert werden muss alles mögliche, von Erbsen bis Pizza, von backfertigem Brot bis zu Kartoffeln für die Produktion von Chips. Im Lebensmittelmarkt gehen normalerweise frische Rohstoffe gleich in die Produktion, und das fertige Produkt dann auf dem schnellsten Weg ins Regal beim Händler. Behinderungen durch den Brexit sind ein Problem für alle, die auf Lieferketten mit Frischesiegel angewiesen sind, wie zum Beispiel James Ecclestone, Schokoladenfabrikant aus Harlow in Essex.
    "Das Problem ist: Wir können nicht 20 Tonnen Kakao kaufen für 100.000 Pfund, wir haben so viel Geld nicht auf dem Konto. Und wir können auch nicht Tonnen von Sahne kaufen, weil – die wird schlecht."
    Zollformalitäten überfordern vor allem kleine Unternehmen
    Und kleine oder mittlere Unternehmen sind auch mit den Formalitäten schnell überfordert, sagt Logistik-Unternehmer Robert Hardey.
    "140.000 Unternehmen müssen zum ersten Mal Zollformalitäten erledigen. Damit steigt die Zahl der Zollerklärungen von 50 Millionen pro Jahr auf 250 Millionen. Das ist völlig neues Gelände für die, und nicht alle reagieren richtig. Lagerhaltung ist eher eine Panikreaktion."
    Schokoladenfabrikant James Ecclestone überlegt bereits, ob er seine Produktion ins Ausland verlagert, wo die Wege zu Rohstoff und Regalen frei sind. Aber auch aus dem Ausland gibt es Anfragen nach Kälte in Britannien. Der "Guardian" berichtete kürzlich von einem dänischen Butterunternehmen, das nach einem kühlen Lager suchte – für 11.000 Paletten Butter.