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Die CDU ist und bleibt die große Volkspartei der Mitte in Deutschland

Liminski: Aufbruch aus dem Jammertal, Schulterschluss mit der CSU, Ende der Schonzeit für die Regierung Schröder, mit diesen und ähnlichen Schlagworten des Essener Parteitags hat die Union sich Mut zugesprochen und aufgemacht, um zur Sacharbeit als Opposition zurückzukehren. Am Telefon begrüße ich den Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Professor Kurt Biedenkopf. Guten Morgen!

    Prof. Biedenkopf: Schönen guten Morgen Herr Liminski.

    Liminski: Herr Biedenkopf, im Vorfeld des Parteitags wurde hier und da erwogen, Angela Merkel noch nicht den großen Sprung nach vorne machen zu lassen. Übergangskonstellationen waren Teil der Überlegungen. Auch Sie wurden in diesem Zusammenhang immer wieder genannt. Ist das nun alles Schnee von gestern oder könnte es sein, dass Frau Merkel nur den Übergang in die Zukunft der Partei gestaltet?

    Prof. Biedenkopf: Frau Merkel ist mit Sicherheit kein Übergang in die Zukunft. Die Übergangsüberlegungen, von denen Sie sprechen, sind sicher angestellt worden, aber ich habe nie viel davon gehalten.

    Liminski: Wie total ist denn der Neuanfang? Gleicht er nicht der Sehnsucht nach dem Auslöschen der alten Festplatte, um jetzt nur noch mit dem Arbeitsspeicher zu arbeiten? Die Probleme sind ja noch nicht vom Tisch. Der Untersuchungsausschuss arbeitet noch und der Streit zwischen Kohl und der Gauch-Behörde ist nur vorläufig beigelegt.

    Prof. Biedenkopf: Ja. Ihre Beispiele zeigen, dass wir mitten im Computer-Zeitalter sind. Vor drei Jahren hätte noch niemand gewusst, was eine gelöschte Festplatte ist. - Selbstverständlich sind die Probleme noch auf dem Tisch. Das hat auch niemand bestritten. Aber sie werden mit neuer Energie angepackt und sie werden vor allen Dingen so zugeordnet, wie sie für die Zukunft zugeordnet werden müssen. Das heißt, die Finanzfragen, die Untersuchungsausschussfragen, alles das muss abgearbeitet werden, aber es steht nicht mehr im Mittelpunkt.

    Liminski: Ein Ruck ist durch die Partei gegangen. In welche Richtung ist sie Ihrer Meinung nach gerückt? Hat sie das Koordinatenkreuz ihrer Wertvorstellungen im Vergleich zur Kohl-Ära verschoben?

    Prof. Biedenkopf: Nein, das hat sie nicht. Sie ist und bleibt die große Volkspartei der Mitte in Deutschland. Sie ist eine Zusammenfassung unterschiedlicher wichtiger politischer Strömungen: der christlich-sozialen, der konservativen und der liberalen Strömungen. Sie orientiert sich an langfristig gültigen, an dauerhaft gültigen Wertentscheidungen und misst diesen Entscheidungen auch eine große Bedeutung zu. Sie vermeidet Beliebigkeit und Sprünge von einem Extrem ins andere. Sie versucht, einen Zusammenhalt zu finden zwischen dem modernen technischen Zeitalter und seinen Ansprüchen auf der einen Seite und dem, was die menschliche Gemeinschaft und vor allen Dingen das Individuum, seine Freiheit und seine Verantwortung ausmachen auf der anderen Seite.

    Liminski: Das sind nun zum Teil auch Koordinaten, die man für die SPD anstellen könnte.

    Prof. Biedenkopf: Ja, selbstverständlich. Ein Glück. Sonst würden sich ja die beiden großen Volksparteien völlig unversöhnlich gegenüberstehen. Sie haben eine Konkurrenz in diesem Raum. Wer diese Probleme besser lösen kann, der soll auch die politische Verantwortung tragen.

    Liminski: Wo ist denn die CDU alternativ zur jetzigen Regierung?

    Prof. Biedenkopf: Wir haben ja auf dem Parteitag eine Fülle von Beispielen diskutiert. Wir haben andere Vorstellungen zu den großen Reformprojekten, insbesondere jetzt der Steuerreform. Wir nähern uns den ganzen Fragen der Demographie, das heißt des veränderten Bevölkerungsaufbaus, auf andere Weise als die SPD. Wir stimmen in einigen Fragen auch überein. Beide großen Volksparteien orientieren sich an den Grundprinzipien unserer Verfassung: der Freiheit, der Verantwortung des einzelnen für sich und für die Gemeinschaft. Die Sozialdemokraten haben eine sehr viel größere Tendenz, Probleme kollektiv und zentralistisch zu lösen. Die CDU ist sehr viel stärker ausgerichtet auf kleinere Einheiten, in denen die Menschen nicht nur ihre Geborgenheit, sondern vor allen Dingen ihre Mitgestaltungsmöglichkeiten finden. Es gibt eine ganze Reihe von beachtlichen Unterschieden.

    Liminski: Herr Professor Biedenkopf, für morgen ist das nächste Rentengespräch mit der Regierung angesetzt. Eigentlich war man sich ja schon mal recht nahe gekommen. Rechnen Sie mit einer baldigen Einigung, oder muss man bis nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen warten, oder vielleicht sogar nach dem Vorstoß von Friedrich Merz, Stichwort "nachgelagerte Besteuerung der Renten", gar bis zum Herbst, also bis das Bundesverfassungsgericht sich dazu geäußert hat?

    Prof. Biedenkopf: Über die nachgelagerte Besteuerung von Alterseinkünften wird schon lange diskutiert. Schon 1994 hat die damalige Bundesregierung ein Gutachten der sogenannten Barreis-Kommission entgegengenommen unter der Führung von Professor Barreis, in dem Vorstellungen und Überlegungen dazu angestellt waren. Das sind im übrigen keineswegs nur Überlegungen bei der CDU; sie werden auch bei der SPD angestellt. Wir werden vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen mit Sicherheit keinen Abschluss dieser Gespräche haben. Das ist auch anders verabredet. Zur Zeit finden informelle Gespräche statt, die noch nicht der Beschlussfassung dienen. Nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen wird es dann wohl auch eine Klausurtagung für diese Konsensgespräche geben. Ich bin ganz sicher, dass man auch die Parteivorsitzenden wieder mit der gesamten Frage befassen wird, denn es geht um sehr grundlegende Veränderungen, die dann auch wirklich Bestand haben sollen für die nächsten 30 Jahre.

    Liminski: Das Thema Renten hat natürlich zu tun mit dem Verhältnis der Generationen untereinander. Sie haben eben auch die Demographie erwähnt. Sie haben einmal im Deutschlandfunk gesagt, Herr Professor Biedenkopf, "wenn wir als Gesellschaft eine Zukunft haben wollen, dann müssen wir diejenigen stärken, die bereits heute in die Zukunft investieren, indem sie Humankapital bilden und ausbilden". Das geschieht in der Regel in und mit der Haus- und Familienarbeit. Die findet allerdings keine ökonomische Anerkennung. Aus der CSU ist jetzt zu hören, nicht mehr Einwanderung, sondern mehr Geburten sicherten langfristig die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Nun bekommt aber niemand Kinder für Vater Staat oder für die sozialen Umlagesysteme. Ist es nicht an der Zeit, die gesellschaftlich notwendige Haus- und Familienarbeit zu entlohnen und dadurch private ökonomische Anreize für diese Arbeit zu schaffen?

    Prof. Biedenkopf: Davon halte ich nicht sehr viel. Dass man Familienarbeit, die ja nicht nur Kindererziehungsarbeit sein kann - es kann ja genauso gut die Sorge und die Betreuung älterer, kranker oder behinderter Menschen sein -, im Alterssicherungssystem berücksichtigt, das halte ich für selbstverständlich. Das kann man auf die verschiedenen Weisen tun. Man kann sie in Form von Ansprüchen berücksichtigen, die man dann in einem Alterseinkommen begründet. Man kann auch das ganze Alterssicherungssystem ändern, so wie ich das vorgeschlagen habe, so wie Professor Megel das vorschlägt, dass man es nämlich vom Arbeitseinkommen löst, was ich für den richtigeren Weg halte, und zu einer Gesamtaufgabe erklärt. Aber dass man nun Vater und Mutter gewissermaßen dafür bezahlt, dass sie Vater und Mutter sind, davon halte ich nicht viel.

    Liminski: Noch einmal zur neuen CDU, Herr Biedenkopf. Frau Merkel hat sich für ein neues Einwanderungsgesetz ausgesprochen. Teilen Sie diese Meinung?

    Prof. Biedenkopf: Oh, die Meinung teile ich schon lange. Wir haben schon im Vorfeld des Dresdener Parteitages Anfang der 90er Jahre über die Frage der Einwanderung diskutiert. Damals sollte in dieser Dresdener Erklärung der Satz stehen, "Deutschland ist kein Einwanderungsland". Da haben wir in Sachsen gesagt, das kann man so nicht hinschreiben, denn wir werden mit Sicherheit eine Einwanderung haben. Dann hat man die ganze Diskussion zunächst vertagt. Aber dass wir uns mit der Frage der Einwanderung beschäftigen müssen, daran gibt es für mich keinen Zweifel.

    Liminski: Sehen Sie sich da auch in Übereinstimmung mit Herrn Rüttgers?

    Prof. Biedenkopf: Herr Rüttgers hat ja weniger über die Einwanderung diskutiert, sondern er diskutiert in seinem Wahlkampf über die Notwendigkeit einer besseren und umfassenderen Ausbildung. Diese Ausbildungsfragen müssen im Vordergrund stehen. Wir haben Defizite im Bereich der Ausbildung für moderne, neuzeitliche Berufe, die jetzt plötzlich dringend nachgefragt werden, und diese Defizite müssen wir überwinden.

    Liminski: Die Erneuerung und Verjüngung der CDU auf Bundesebene ist nun komplett. Wann sind die Länder dran, zum Beispiel Sachsen, Thüringen oder Baden-Württemberg?

    Prof. Biedenkopf: Wie soll ich das verstehen? Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit Neuordnung?

    Liminski: Wann gibt es eine neue Spitze in Sachsen, in Thüringen oder in Baden-Württemberg in den Parteien und vielleicht auch später in den Regierungen?

    Prof. Biedenkopf: Wir haben im Augenblick nicht die geringste Veranlassung, diese Fragen zu diskutieren.

    Liminski: Können Sie sich heute schon Frau Merkel als Kanzlerkandidatin vorstellen, auch wenn über diese Frage erst in knapp zwei Jahren entschieden wird?

    Prof. Biedenkopf: Meine Antwort auf diese Frage ist bekannt. Über die Brücke gehen wir, wenn wir hinkommen.

    Liminski: Das war Professor Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen. - Besten Dank für das Gespräch!

    Link: (Annette Schavan über den Bundesparteitag der CDU (11.4.2000)==>/cgi-bin/es/neu-interview/607.html)

    Link: Interview als RealAudio