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Die "Cinema"-Lyrikanthologie
Schau mir durch die Augen, Kleines

Auf den ersten Blick haben Kinofilme und Gedichte wenig gemeinsam. Beide haben aber das selbe Ziel: Bilder erzeugen. Für die Anthologie "Cinema" haben sich über 60 Lyrikerinnen und Lyriker von besonderen Kinomomenten inspirieren lassen. Dennoch leidet das Ergebnis an einem Geburtsfehler.

Von Bettina Baltschev | 15.08.2019
Buchcover: Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter (Hrsg.): „Cinema. Lyrikanthologie"
Buchcover: Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter (Hrsg.): „Cinema. Lyrikanthologie" (Buchcover: Elif Verlag, Foto: Jeremy Yap, unsplash.com)
Misst man Filme und Gedichte an ihren Produktionsbedingungen, so liegen wahrlich Welten dazwischen. Hier eine Hundertschaft an Autoren, Technikern, Kulissenschiebern. Dort ein Dichter, kaum Technik, keine Kulisse. Trotzdem haben Filme und Gedichte das gleiche Ziel. Sie wollen Bilder entstehen lassen, bedeutsame Bilder, fantastische Bilder, nachdenkliche Bilder. Doch während wir uns im Kino den Ideen von mehr oder weniger talentierten Filmemachern unterordnen müssen, sind wir bei Gedichten unsere eigenen Regisseure.
Die Bilder, die beim Lesen eines Gedichts in unseren Köpfen entstehen, müssen sich niemandem unterordnen außer den Grenzen unserer Phantasie. Da liegt es nahe, die äußeren und die inneren Bilder einmal über einander zu legen. Nehmen wir "Love Story", dieses unendlich rührselige Melodram aus dem Jahr 1970, bei dem kein Auge trocken bleibt. Dem Dichter E. Ch. Cohnen geht es nicht anders. Sein Gedicht "Jenny stirbt in Olivers Armen" handelt jedoch von einer emotionalen Irritation.
"keine träne / beim tod meines vaters / keine über den frühen / tod meines ältesten freundes / schmelzbäche aber / beim sterben der geliebten / des helden in diesem / sentimentalen film / über die lebendige / wirklichkeit vielleicht / oder wirklich / über die verschiedenen geliebten"
Von der Kolonialisierung des Blicks
Es ist diese unscharfe Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, die die Lyrikanthologie "Cinema" auslotet. Über 60 Dichterinnen und Dichter wurden von den Herausgebern Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter eingeladen, sich eines Films, einer Szene oder eines Kinomoments zu erinnern, die über den Abspann hinaus gewirkt, die dichterische Membran zum Schwingen gebracht haben. Herausgekommen ist eine Gedichtsammlung, die sowohl formal als auch thematisch weit auseinander läuft.
Einige Autorinnen und Autoren beziehen sich auf einen ganz bestimmten Film, darunter Klassiker wie Jean-Luc Godards "Außer Atem", Philipp Kaufmans "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" oder Sidney Pollacks "Jenseits von Afrika". Diesem oscarprämierten Werk aus dem Jahr 1985 mit Meryl Streep und Robert Redford hat sich Nora Gomringer gewidmet. Sie berichtet von einer Reise nach Kenia, wo die Orte, an denen das Epos nach dem Leben der Schriftstellerin Karen Blixen gedreht wurde, längst zu Pilgerstätten für Touristen geworden sind.
Das Gedicht "Über die Inszenierung des Moments, in dem Baronin Blixen vom Tod Denys Finch Hattons erfährt" umkreist dabei im Grunde eine einzige Frage: Wie kann es sein, dass wir uns immer noch und immer wieder von diesem Afrika-Kitsch rühren lassen? Die letzten Zeilen des Gedichts lauten:
"Es kommt ihr Ex-Mann, der Baron, / ihr mitzuteilen, dass diese Maschine abgestürzt ist. / Das Gesicht der Schauspielerin Streep bildet / im Rahmen der Kamera und später auf der Leinwand / ein ihr fremdes, aber angenommenes Leiden ab. / Es tut dies in vollkommener Weise. / Der Moment ist eine Kolonialisierung des Blicks."
Meine Augen schauen Casablanca
Während Nora Gomringer groß denkt und gesellschaftliche Fragen ins Spiel bringt, bleiben andere, intimere Beiträge ganz nahe beim Akt des Sehens. So fragt Axel Kutsch im Gedicht "Über das Schauen" was genau mit uns passiert, wenn wir scheinbar selbstvergessen anderen Menschen beim Leben zusehen. Auch hier ist der Ausgangspunkt ein Filmklassiker, genauer der legendäre Abschied zweier Liebender.
Meine Augen / schauen Casablanca / Casablanca schaut / mir in die Augen / Ein Film läuft ab / und ich schaue / wie er mir in / die Augen schaut / Ich schaue einen Film / in dem sie ihm / in die Augen schaut / während der Film / in dem sie sich in / die Augen schauen / mir in die Augen / Gleich startet das Flugzeug / Schaut nur / es schaut
Doch es sind nicht nur allseits bekannte Filmszenen, die in dieser Anthologie aufgerufen werden. Der Titel "Cinema" lässt sich weit fassen und der Raum für Assoziationen ist entsprechend groß. Martin Piekar etwa steuert Gedichte bei, die mit "Dirty Diaries - 5 shorts of feminist porn" überschrieben sind, inspiriert von den feministischen Pornos der schwedischen Filmemacherin Mia Engberg.
Weites Feld und Nostalgie
Uljana Wolf deutet in "Subsisters" englische Untertitel von Filmsequenzen mit Marlene Dietrich und Lauren Bacall. Sie will wissen, welcher Wahrheit wir auf der Spur sind, wenn wir beim Filmschauen eine Sprache hören und eine andere lesen. Und Hung-min Krämer fängt in "Der Film" in ein paar Zeilen den Niedergang einer ganzen Kulturtechnik ein.
"Das alte Kino in der Stadt / ausgeleierte Klappscharniere / muffiger Samt / Der verschollene Jesuit in Japan / Jetzt hat jede Großstadt / fünf verwaiste Kinosäle und weiter raus / ein Cineplex oder ein Cinemaxx mit ordentlichen Parkplätzen / und dann 3D durch den Canyon eines Planeten / der nicht die Erde ist"
Dass das Nachdenken über Film bei so manchem Dichter, und wahrscheinlich auch bei so manchem Leser, nostalgische Gefühle auslöst, verwundert nicht. Erinnerungen an Nachmittagsfilme, an Spätfilme, an Technicolor oder an die letzte Reihe im Vorstadtkino erzählen von einer verschwundenen Welt. Eine Welt, die einige jüngere Dichterinnen und Dichter wohl nur noch vom Hörensagen kennen, weshalb sie sich gleich neueren Formaten widmen, Serienhits wie "True Detective", "Mad Men" und "Monk".
Eingängig wie ein Blockbuster
Doch genau hier zeigt sich auch der Geburtsfehler dieser Anthologie. Die sicher gut gemeinte Offenheit für alle denkbaren Themen und Formen führt zu einer gewissen Beliebigkeit, die durch eine nicht erkennbare Sortierung noch verstärkt wird. So ist es einfach nur schade, dass beispielsweise zwischen Klara Hurkovás von Walt Disneys "Cinderella" inspiriertem Gedicht und Friedel Weise-Neys "In Walt Disneys Welt" ganze 15 Seiten liegen.
Vielleicht hätten sich die beiden Gedichte ja etwas zu sagen gehabt? Denn dass die Lyrikerinnen und Lyriker sprechende Gedichte zu Papier haben, steht außer Zweifel. Wobei, auch das sei bemerkt, die Sprachen der Gedichte so divers sind wir ihre Verfasser. Nicht alles erschließt sich beim ersten Lesen, manches bleibt rätselhaft, anderes ist so eingängig wie ein gut gemachter Blockbuster. So schreibt Safak Saricicek über den Science-Fiction-Film "Another Earth" aus dem Jahr 2011, in dem eine zweite Erde auftaucht. Eine junge Frau hofft, dort von einer Schuld erlöst zu werden.
Mit den letzten Zeilen des Gedichts "Kleine Melancholielyrik nach Mike Calhills Lowbudgetfilm Another Earth" überschreitet Safak Saricicek einmal mehr die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
"an anderen tagen aber anstiftende filme, nach denen du sicher / irgendwann deine jacke überziehst und das taxi nimmst nach / casablanca, key largo, nach oslo am 31. august, nach west / world vielleicht jedoch bloß ins nachbarviertel, denn dein eigener film / beginnt dort"
"Cinema", die Lyrikanthologie mit schönen cineastischen Illustrationen von Stefan Heuer ist ein etwas wildes, etwas ungeordnetes Gewächs. Doch wer Filme liebt, wird sich gern in dieses vielstimmige Kompendium vertiefen.
Wolfgang Schiffer und Dincer Gücyeter (Hrsg.): "Cinema. Lyrikanthologie"
Elif Verlag, Nettetal. 200 Seiten, 20 Euro.