Heinemann: Graf Lambsdorff, blicken wir zurück. Wie haben sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit der Wiedervereinigung entwickelt?
Graf Lambsdorff: Eins möchte ich noch zu den Elementen hinzufügen, die Sie genannt haben, und mit dem Stichwort Wiedervereinigung ist das ja auch angesprochen. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es die Amerikaner waren, die uns als einzige wirklich völlig unvoreingenommen bei der Wiedervereinigung unterstützt und geholfen haben und die Vorarbeiten unterstützt haben. Das war die Administration von George Bush, also vom Vater Bush. Aber wir sind selbstverständlich, muss man geradezu sagen, selbstbewusster geworden. Wir sind jetzt ein wiedervereinigtes Land. Wir haben nicht mehr die Probleme, die mit der Teilung des Landes verbunden waren. Die Welt hat sich geändert. Europa ist nicht mehr geteilt. Das führt zu einem selbstbewussteren Auftreten auch gegenüber den Vereinigten Staaten. Das ist völlig in Ordnung. Aber es darf dabei nicht vergessen werden, dass uns erstens Bande zusammenhalten, die über Nützlichkeitserwägungen hinausgehen, und zweitens, dass Amerika nach wie vor oder vielleicht erst recht seit der Wiedervereinigung und seit der Überwindung der Teilung der Welt und der Teilung Europas die einzige wirklich potente Ordnungsmacht in der Welt ist. Die Bundesrepublik muss sich so einrangieren, dass Selbstbewusstsein und Freundschaft auf der einen Seite, aber auch die Anerkennung der amerikanischen Hilfe auf der anderen Seite stehen. Lassen Sie mich nur ein Stichwort nennen: Ohne die Vereinigten Staaten, ohne die militärische Macht der Vereinigten Staaten wäre im Kosovo nichts von den Europäern ausgerichtet worden.
Heinemann: Wird die stärkere wirtschaftliche Konkurrenz mit allem was dazu gehört bis hin zur stärkeren Industriespionage die deutsch-amerikanischen Beziehungen zunehmend belasten?
Graf Lambsdorff: Industriespionage war und ist immer ein unerfreuliches Thema. Das wird es auch bleiben. Darüber muss man sich nicht besonders aufregen. Wirtschaftliche Probleme, Meinungsverschiedenheiten, Streit in handelspolitischen Fragen hat es immer gegeben. Das gab es wohl auch vor der Wiedervereinigung. Ich habe schon damals, als ich noch damit beschäftigt war, immer wieder gesagt, wer keine Streitigkeiten hat, der hat auch keine Beziehungen. Ohne Beziehungen hat man natürlich keine Probleme. Wir haben enge Beziehungen. Wir haben enge wirtschaftliche Beziehungen, und dass es da Meinungsverschiedenheiten gibt, ich weiß was, von Bananen über Stahl, ich erinnere an den Hähnchen-Krieg und an Volkswagen-Probleme, das ist ganz selbstverständlich. Das wird auch mit der neuen amerikanischen Administration so sein. Das muss vernünftig besprochen, von Fall zu Fall ausgehandelt werden. Wir müssen gemeinsam die WTO, die Welthandelsorganisation stärken, den Streitschlichtungsmechanismus beachten und in Anspruch nehmen, wenn wir ihn brauchen. Es gibt dort friedliche Regeln, mit denen man leben und kann und mit denen man leben muss. Ich halte das für kein Problem, das etwa die Beziehungen dauerhaft belasten könnte und würde.
Heinemann: Graf Lambsdorff, sollte Deutschland kritisieren, dass das Justizsystem der USA dazu führt, dass reihenweise Unschuldige hingerichtet werden?
Graf Lambsdorff: Ich habe in meiner letzten Rede im deutschen Bundestag gesagt, bei aller Anerkennung und Freundschaft mit den Vereinigten Staaten, für die ich immer eingetreten bin, eines der grausigsten und unerfreulichsten Kapitel gerade für uns, die wir die Todesstrafe ablehnen, gerade für einen Liberalen, der die Todesstrafe ablehnt, ist nicht nur die Todesstrafe selbst, sondern auch die Praktizierung der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten. Wir müssen das ansprechen, wir dürfen das ansprechen. Wir müssen uns allerdings leider auch darüber im klaren sein, dass wir vermutlich auf lange Zeit hier nichts ausrichten werden.
Heinemann: Präsident und Bundeskanzler werden auch über die Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter sprechen. Sie sind der zuständige Bundesbeauftragte. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft hat sowohl Berufung gegen das Urteil als auch juristische Schritte gegen die New Yorker Bundesrichterin Kram wegen Befangenheit angekündigt. Frau Kram hatte entschieden, die Sammelklage von NS-Zwangsarbeitern gegen deutsche Banken nicht abzuweisen. Halten Sie diesen Versuch, Frau Kram für befangen erklären zu lassen, für aussichtsreich?
Graf Lambsdorff: Wenn man es sich mit deutschen Augen ansieht, das Verhalten der Frau Kram in diesem Verfahren, dann kann man ohnehin nur staunen, was im amerikanischen Rechtssystem offenbar möglich ist. Da habe ich einige Erfahrungen in den letzten Monaten gemacht, die mich nicht sehr überzeugt haben. Aber abgesehen davon müssen wir auch hier mit den gegebenen Umständen leben. Wir kämpfen und streiten in diesem Rechtssystem. Ein Befangenheitsantrag gegen Frau Kram ist vernünftig. Ich unterstütze das, ich halte das für richtig. Aber das ist ja nicht der einzige Weg, den wir gehen, sondern wir gehen ja gleichzeitig - und wenn ich sage wir, dann sind das eigentlich die klägerischen Anwälte. Das muss man immer verstehen. Das ist so schwierig in diesem Rechtssystem für uns jedenfalls zu verstehen. Die klägerischen Anwälte sind ja zum Berufungsgericht in die Berufung gegangen, und das dürfte der eigentliche entscheidende Schritt sein. Am 2. April ist dort ein erster Termin. Vermutlich wird es nur ein Termin sein, der sich mit Verfahrensfragen beschäftigt. Dass das Gericht aber immerhin schon auf den 2. April terminiert hat und somit reagiert hat ist ein gutes Zeichen. Wir müssen alle Mittel nutzen, um die Entscheidung der Frau Kram aus der Welt zu bringen, um mit den Auszahlungen möglichst bald beginnen zu können. Die Abweisung der Klagen, die bei Frau Kram anhängig gewesen sind, ist nun eine notwendige und unerlässliche Voraussetzung für die Erklärung des Rechtsfriedens. Sie wird alleine nicht ganz ausreichen, aber die anderen sind vielleicht doch zu bewältigen und in schneller, großer Zeit zu bewältigen. Da können wir uns hoffentlich auch einigen. Aber diese Klagen müssen weg. Vorher sehe ich keine Möglichkeit für das Auszahlen, und darum geht es uns doch.
Heinemann: Was ist der Richterin denn im Detail vorzuwerfen?
Graf Lambsdorff: Der Richterin ist einmal im Detail vorzuwerfen, Herr Heinemann, dass sie nicht die Möglichkeit genutzt hat, die die beiden anderen Richter in Anspruch genommen haben, bei denen jeweils auch ein Bündel der Klagen vorgelegen hat, die sie abgewiesen haben. Sie hat die Möglichkeit nicht genutzt, die die anderen angewandt haben, die nämlich gesagt haben, wenn das Geld noch nicht da ist, dann werden wir trotzdem die Rücknahmen der Klagen billigen. Aber wir stehen euch Klägern jeder Zeit zu. Wenn das Geld nicht kommt, könnt ihr die Klagen wieder aufleben lassen. Das hatten wir mit den Klägeranwälten zusammen, weil das Geld bei der deutschen Industrie noch nicht da war, den Richtern empfohlen. Beide Richter haben das so gemacht; Frau Kram hat das nicht getan. Frau Kram hat ein Interesse daran, für einen parallelen Fall, dessen rechtliche Bedeutung außerordentlich fragwürdig ist, nämlich die sogenannten abgetretenen österreichischen Bankenforderungen, ich sage mal ganz schlicht Geld herauszuholen. Wie einer unserer Anwälte dem Berufungsgericht geschrieben hat, nimmt sie für die Verbesserung eines Vergleichs, dem sie selber vor Monaten zugestimmt hat, eine Million Zwangsarbeiter in Geiselhaft. So hat es der Anwalt gegenüber dem Berufungsgericht formuliert, und das ist ein wirklich unerhörter Vorgang. Die Menschen warten darauf und müssen jetzt weiter warten, weil Frau Kram die notwendigen Entscheidungen nicht getroffen hat. Hoffentlich kommen wir beim Berufungsgericht schnell vorwärts.
Heinemann: Graf Lambsdorff, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete im Dezember darüber, dass amerikanische Unterhändler im Zusammenhang mit den Entschädigungsverhandlungen Bundespräsident Rau eine fertig ausgearbeitete Entschuldigungsrede in die Hand gedrückt hätten mit der Aufforderung, er solle diese Rede halten, was Rau nicht getan hat. Was sagt diese Episode aus über das Verhältnis beider Staaten?
Graf Lambsdorff: Augenblick: der Bundespräsident hat nicht diese Rede gehalten. Er hat selbstverständlich seine eigene Rede gehalten. Ich fand es sehr elegant, wie Johannes Rau diesen Vorschlag abgewickelt hat. Dieser Vorschlag, der ihm da auf den Tisch gelegt worden ist, das war keineswegs die einhellige Meinung aller meiner amerikanischen Freunde und Gesprächspartner. Im Gegenteil: es wurde zum Teil auch davon abgeraten. Ich fand das nicht sehr diplomatisch. Ich fand das schon ein bisschen amerikanische imperialistische Handhabung der Dinge, einem nicht fremden, aber anderen Staatsoberhaupt vorzuschreiben, wie er denn zu einem bestimmten Vorgang Stellung nehmen solle, wobei wir über den Inhalt und die Tatsache einer Entschuldigungsrede von Johannes Rau überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten hatten. Aber wenn man dem Bundespräsidenten ein Stück Papier auf den Tisch legt, ich habe das so kommentiert: es fehlt nur noch, dass irgendwo ein Kreuzchen unten drunter steht, hier darfst du unterschreiben. So ging es natürlich nicht. Es ist auch nicht so geschehen. Ich darf noch einmal dankbar daran erinnern. Die Entschuldigung, die Johannes Rau für die Deutschen formuliert hat, hat für die Verhandlungen eine unglaublich große Rolle gespielt. Das psychologische Element der überlebenden Zwangs- und Sklavenarbeiter darf nicht übersehen werden. Deswegen war das ein sehr wesentlicher Schritt, der unsere Verhandlungen gefördert hat.
Heinemann: Wird die deutsche Nazi-Vergangenheit im deutsch-amerikanischen Verhältnis instrumentalisiert?
Graf Lambsdorff: Von einigen wird sie instrumentalisiert. Einige versuchen das, aber viele bemühen sich ja mit uns gemeinsam darum. Sie bemühen sich ehrlich darum, einen finanziellen Schlussstrich unter dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte zu ziehen. Selbstverständlich nicht einen moralischen Schlussstrich. Das will auch bei uns kein vernünftiger Mensch. Das kann man nicht wollen. Einen moralischen Schlussstrich unter das, was dort geschehen ist, kann und darf es nicht geben.
Heinemann: Sie sprachen eben von einem gestiegenen Selbstbewusstsein. Der Bundeskanzler meint, Deutschland habe ein eminentes wirtschaftliches Interesse an der Technologie des geplanten US-Raketenabwehrsystems NND. Der Bundesaußenminister erklärte, die Bombardierung des Irak habe man nicht zu kritisieren. Wie bewerten Sie die jüngsten Äußerungen der Bundesregierung?
Graf Lambsdorff: Zu der ersten Frage, was das Raketenabwehrsystem angeht: Ich bin mir völlig sicher, dass jeder amerikanische Präsident, dem die Möglichkeit finanziell und technisch zur Verfügung steht, seinem Lande diesen Schutz zu vermitteln, eine solche Politik betreiben wird, gleichgültig ob er Republikaner oder Demokrat ist. Das spielt dabei überhaupt gar keine Rolle. Und wir werden das nicht verhindern können! Unter solchen Umständen habe ich auch deutschen und amerikanischen Gesprächspartnern bei Diskussionen immer geraten, haltet euch an das schöne amerikanische Wort "wenn du sie nicht besiegen kannst, dann umarme sie und versuche, dich anzuschließen". Ich glaube, dass die Argumente, die wir in den 80er Jahren gegen Ronald Reagans SDI, also den Krieg der Sterne vorgebracht haben, heute nicht mehr taugen. Wir sind in einer neuen Situation. Es ist vom Bundeskanzler in meinen Augen richtig, den Versuch zu unternehmen, an die Technologieentwicklung für ein Raketenabwehrsystem heranzukommen, dass wir uns beteiligen und dann auch Zugang zu diesen Technologien bekommen. Allerdings sagt unsere Erfahrung, dass das sehr, sehr schwierig sein wird. Man weiß nicht, ob die Amerikaner die sogenannte "black box", also diese schwarze Kiste, in der die Geheimnisse stecken, wirklich öffnen werden. Aber darum muss man sich bemühen, darum muss man verhandeln. Was Irak anlangt: Ich bin der Meinung, dass die Entscheidung von George W. Bush, dem neuen Präsidenten, richtig war. Das ist eine gefährliche Situation. Die Amerikaner hätten vielleicht deutlicher machen sollen, dass ihre Soldaten, ihre Flugzeuge in der Überwachungszone ständig angegriffen worden sind, ständig beschossen worden sind, dass sie die Bombardierungen auch zur Selbstverteidigung ihrer eigenen Leute vorgenommen haben. Im übrigen, Herr Heinemann, wenn es stimmt, was der britische Außenminister mir vor 14 Tagen in London gesagt hat, dass Saddam Hussein über elf Milliarden Dollar Auslandsguthaben verfügt und überhaupt nicht bereit ist, dafür Lebensmittel oder Medikamente zu kaufen, die er seiner Bevölkerung zur Verfügung stellen könnte, dass er aber 10.000 Flaschen schottischen Whisky jedes Jahr für sich bestellt, dann muss ich schon sagen ist das ein neues Zeichen, mit was für einem Regime, mit einem menschenverachtenden Regime wir es zu tun haben. Die Sanktionen sind schlimm. Sie treffen die Bevölkerung. Aber sie treffen offenbar die Bevölkerung auch, weil Saddam Hussein es so will.
Heinemann: Der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. - Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
Link: Interview als RealAudio