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Die deutsche Bombe und ihre Wissenschaftler

Richard von Schirach rekonstruiert in seinem Buch "Die Nacht der Physiker" die politischen Karrieren von Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker. Er erzählt die Geschichte, wie Deutschland fast an die Atombombe gekommen wäre.

Von Mirko Smiljanic |
    Da saßen sie nun im Kaminzimmer eines idyllisch gelegenen englischen Landsitzes 16 km nordwestlich von Cambridge. Vom 3. Juli 1945 bis zum 3. Januar 1946 war Farm Hall das Gefängnis für Deutschlands Physikerelite: Erich Bagge, Kurt Diebner, Walther Gerlach, Otto Hahn, Paul Harteck, Werner Heisenberg, Horst Korsching, Max von Laue, Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker und Karl Wirtz.

    "Viele Deutsche hätten damals gerne getauscht mit dieser elitären Gruppe, die sich auch etwas larmoyant dauernd als Kriegsgefangene gesehen hat, die wie im KZ behandelt werden, in Wirklichkeit standen ihnen Köche zur Verfügung, reichliches Essen, Zeitungen und Radio, sie wurde von den Engländern eigentlich sehr fair behandelt."

    Richard von Schirach, Sohn des Reichsjugendführers Baldur von Schirach, Sinologe und Autor des Buches "Die Nacht der Physiker". In sechs Kapiteln geht es um die Gefangenen, deren Lebensläufe sowie um die Geschichte der Atombombe aus deutscher Perspektive. Beherrschten Deutschlands Physiker die Kernspaltung? Konnten sie Atombomben bauen? Fragen, auf die die Alliierten nur zu gerne Antworten gehabt hätten. Und so hörten sie die verhafteten Physiker mit versteckten Mikrofonen ab. Richard von Schirach beginnt mit den Verhaftungen der Wissenschaftler und ihrem Transport nach Farm Hall, der sich über zwei Monate hinzieht. Zwischendurch immer wieder Zeitsprünge: zurück bis in den Ersten Weltkrieg, in dem Fritz Haber das "Abblasen von tödlichem Chlorgas gegen feindliche Linien" empfahl; dann ins Jahr 1942 zum Manhattan-Projekt der Vereinigten Staaten, das den Bau der Atombombe erst möglich machte. Mittendrin bewegten sich behäbig und von sich überzeugt Deutschlands Physiker. Selbst in Farm Hall – so der Eindruck beim Lesen der Abhörprotokolle – glaubten sie noch, dass nur sie die Bombe bauen könnten. Wie weit die Hybris geht, wird bei von Weizsäcker deutlich, der als erster den theoretischen Weg zur Plutoniumbombe formuliert und ein entsprechendes Patent in München eingereicht hat.

    "In dieser Patentschrift wird ja sichtbar, wie Weizsäcker auf eine völlig verwegene, ja verstiegene Weise glaubte, mit dem Wissen ein Faustpfand gegen Hitler in der Hand zu haben und damit Hitler zwingen könnte oder in Schach halten könnte und - er wird immer kühner in seiner Schlussfolgerung - vielleicht könnte er die Nazis auch dazu bringen, das zu erkennen, was sie wirklich wollten."

    Deutschland hätte nie eine Bombe bauen können, es hatte einfach zu wenig spaltbares Material! Als klar war, dass die USA tatsächlich eine Atombombe über Hiroshima abgeworfen hatten, musste Heisenberg, der Cheftheoretiker, in Farm Hall eine erklärende Rede halten. Er brauchte fast zwei Wochen Vorbereitungszeit und verstieg sich in Theorien, die kaum einer der anderen neun Physiker verstand. Naiv und bar jedes Verständnisses der technischen Erfordernisse für den Bau einer Atombombe war auch die Vorstellung über die Finanzierung eines solchen Projektes. 1942 fragte Rüstungsminister Albert Speer, was denn der Bau einer Atombombe kosten würde.

    "Da kommt dann nach langer Überlegung eine Antwort von Carl Friedrich von Weizsäcker und er sagt 43.000 Mark. Und der Speer wendet sich ab und sagt, 'weltfremd eigentlich, ich dachte 100 Millionen brauchen wir!'"

    Später wird Heisenberg sagen, der Bau der Bombe habe auch deshalb nicht geklappt, weil er nicht den moralischen Mut hatte, die für die Entwicklung und Produktion der Bombe notwendigen 120.000 Mann anzufordern.

    "Man denkt da gleich an den schneidigen, gewissenlosen und eigentlich ein PR-Genie wie Wernher von Braun, der bedenkenlos für seine völlig verfehlte V1- und V2-Politik Gelder und Menschen gefordert hat, ohne eine Sekunde Rücksicht zu nehmen auf irgendwelche Schwierigkeiten, daneben sieht man eben das Professorale von Heisenberg und Weizsäcker, die sich da mit ihren lächerlichen 43.000 Reichsmark auch meldeten."

    Minutiös, mit vielen Hintergrundinformationen angereichert beschreibt von Schirach auch die Gruppendynamik in Farm Hall. Es gab Teams, die sich gut kannten, Hahn, von Weizsäcker und Wirtz; es gab die älteren Herrschaften, von Laue etwa; es gab die jungen, eher unbekannten Physiker wie Korsching, Diepner und Bagge – und es gab vor allem in der ersten Phase ihres Aufenthalts in Farm Hall einen erstaunlich ausgeprägten Standesdünkel.

    "Auch Heisenberg schneidet nicht so gut ab, wenn er den Bagge, der ein Doktorand von ihm war und auch ein genialer eigenbrödlerischer Erfinder, wenn er den so als Proleten bezeichnet aus einer Proletenfamilie, da merkt man, dass dort Spannungen gewesen sein müssen, die familiär bedingt waren, mentalitätsbedingt."

    Und welche Antwort gibt Richard von Schirach auf die immer wieder gestellte Frage, ob Deutschlands Physiker, wenn sie denn dazu in der Lage gewesen wären, die Bombe für das NS-Regime gebaut hätten? Immerhin habe es in den Jahren 1939 und 1940 eine große "Schnittmenge zwischen Heisenbergs nationalem Patriotismus und den Zielen der NS-Regierung" gegeben.

    "Ich traue mir nicht zu, diese Frage, die ich umkreist habe in meinem Buch, klar zu beantworten."

    Auch die "Schuldfrage" will er nicht bedienen, die langweile ihn mittlerweile. Klar und eindeutig beantwortet von Schirach aber eine andere Frage. Denn viel spannender sei:

    "Ob heute eine Art von Umdenken stattgefunden haben könnte, oder ob die moralische Erkenntnis aus den Verstrickungen der Physiker, sei es in Hiroshima oder an anderen Exzessen, ob das irgendwas bewirkt haben könnte, und ich bin einfach zu dem Schluss gekommen: nein!"

    Auch vor dem Hintergrund der Debatte um deutsche Waffenexporte ist "Die Nacht der Physiker" ein erstaunlich aktuelles Buch: spannend und präzise formuliert, voller neuer Informationen, lesenswert vom ersten bis zum letzten Buchstaben!

    Richard von Schirach: "Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe"
    Berenberg Verlag,272 Seiten, 25 Euro, ISBN: 978-3-937-83454-2