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"Die deutsche Wirtschaft könnte höhere Beträge aufbringen."

Remme: "Würdelos", so bezeichnete gestern der ehemalige SPD-Chef Hans-Jochen Vogel das Geschacher um die Höhe der Entschädigungszahlungen für ehemalige NS-Zwangsarbeiter. "Skandalös", so der Befund von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, "sei die Knauserigkeit der Firmen". Nachdem der Bund sein Angebot von zwei auf drei Milliarden Mark erhöht hat, sieht sich nun die deutsche Wirtschaft massivem Druck ausgesetzt, ihr Angebot von bisher vier Milliarden Mark ebenfalls zu erhöhen. Die Anwälte der Opfer wiederum fordern einen deutlich zweistelligen Milliarden-Betrag. Mit Blick auf die Belastung der Unternehmen ist es immer wieder erforderlich darauf hinzuweisen, dass diese einen erheblichen Teil der Belastung steuerlich absetzen können. Sieben Milliarden Mark, das würde bei 1,5 Millionen noch lebenden Opfern einen Betrag von knapp fünf Tausend Mark ausmachen. Am Telefon ist nun Otto Graf Lambsdorff. Er verhandelt im Namen der Bundesregierung. Guten Morgen!

    Graf Lambsdorff: Guten Morgen Herr Remme.

    Remme: Graf Lambsdorff, Sie haben vor Beginn der Gespräche gestern noch einmal auf die Möglichkeit eines Scheiterns hingewiesen. Ist man sich gestern näher gekommen?

    Graf Lambsdorff: Ja, man ist sich näher gekommen. Es geht sehr langsam, aber es geht vorwärts. Ich halte es trotzdem nicht für ausgeschlossen, dass dennoch die Verhandlungen auch heute zu keinem abschließenden Ergebnis führen können.

    Remme: Sie werden in einer Tageszeitung heute als Chefmoderator bezeichnet. Um das klarzustellen: Sie sind in diesen Verhandlungen Partei?

    Graf Lambsdorff: Nein, ich bin, um das klarzustellen, der Beauftragte des Bundeskanzlers für die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft. Das heißt also, ich begleite diese Stiftungsinitiative politisch und ich versuche selbstverständlich, dass wir zu einem Ergebnis kommen. Wenn Sie das Partei nennen wollen, haben Sie völlig Recht, und wenn ich merke oder sehe, dass der eine oder andere sich zu wenig bewegt, dann versuche ich, ihn zu ermuntern.

    Remme: Ich habe die Erhöhung von zwei auf drei Milliarden Mark seitens der Bundesregierung erwähnt. Ist diese Erhöhung einseitig wirksam oder ist sie gebunden an ein entsprechend verbessertes Angebot der deutschen Unternehmen?

    Graf Lambsdorff: Die Bundesregierung hat das nicht so explizit gesagt, aber ich habe es so verstanden. Ich glaube, es muss auch so verstanden werden, dass Bundesregierung und Wirtschaft sich beide in Richtung eines verbesserten Angebotes bewegen müssen.

    Remme: Und gibt es für Sie Anzeichen, ein verbessertes Angebot der deutschen Wirtschaft stehe bevor?

    Graf Lambsdorff: Ja, das gibt es. Es wird aber davon abhängig gemacht, dass auch die andere Seite, sprich die Klägeranwälte, sich bewegt, und Sie wissen, dass dort zum Teil völlig absurde und unrealistische Forderungen und Zahlen in die Welt gesetzt worden sind.

    Remme: Werden diese Verhandlungen ohne ein verbessertes Angebot der deutschen Wirtschaft scheitern?

    Graf Lambsdorff: Wenn es kein verbessertes Angebot der deutschen Wirtschaft am Ende gibt und geben sollte, dann werden wir jedenfalls in dieser Woche scheitern. Das steht fest, ja!

    Remme: Sie haben die Summen erwähnt, die von Seiten der Anwälte gestern publiziert wurden. Das waren astronomisch hohe Summen. Eine vielleicht etwas realistischere Forderung ist dieser Begriff von der zweistelligen Milliarden-Summe. Halten Sie die auch für eine Basis, mit der man sich beschäftigen muss?

    Graf Lambsdorff: Das ist natürlich eine Basis, mit der man sich beschäftigen muss. Aber eine realistische Zahl, das habe ich immer gesagt: zehn ist zu hoch, sechs ist zu wenig.

    Remme: Und dabei bleibt es?

    Graf Lambsdorff: Dabei bleibt es, und wir müssen uns irgendwo in der Mitte treffen.

    Remme: Die Stiftungsinitiative erwähnt immer wieder eine Vereinbarung mit der Bundesregierung, dass diese sich zur Hälfte an der Gesamtsumme beteiligt. Gibt es diese Vereinbarung?

    Graf Lambsdorff: Es muss sie früher mal gegeben haben. So wurde mir berichtet, bevor ich zu der Sache hinzugestoßen oder hinzugerufen worden bin. Es hat Anfang September eine Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der Industrie gegeben. Dort war das Verhältnis zwei zu eins. Das entspricht dem, was ich dann in Washington mit den sechs Milliarden angeboten habe. Das waren vier Milliarden Industrie und zwei Milliarden Bund. Es gibt aber kein festgeschriebenes Gesetz, das dieses Verhältnis, eben entweder hälftig oder zwei Drittel zu ein Drittel sein muss, festlegt. Wir wollen uns da nicht Fesseln anlegen, die uns vielleicht nachher lästig sind.

    Remme: Der Sprecher der Stiftungsinitiative, Wolfgang Gibowski, hat uns vor einer Stunde etwas von einem neuen Vorschlag erzählt, der auf dem Tisch liegt. Dort soll es um die Entwicklung eines Vorschlags gehen. Wird wirklich nur noch um eine Summe geschachert, oder geht es auch um Strukturen einer Lösung?

    Graf Lambsdorff: Ich will Ihnen offen gestehen, Herr Remme, ich kann diese ganzen Formulierungen, Geschacher, Gefeilsche, alle verstehen. Hilfreich sind solche Formulierungen, auch die Aussprüche von Herrn Thierse und Herrn Vogel mitten während der Verhandlungen, wirklich nicht. Es wäre besser, sie hielten sich mal alle etwas zurück und ließen die verhandeln und sprechen, die zu verhandeln haben. Wenn es um so viel Geld geht, dann wird natürlich auch um Geld gehandelt. Nennen Sie es meinetwegen feilschen. Das ist das natürlichste auf der Welt. Es darf dabei nicht aus den Augen verloren gehen, dass das ganze einen moralischen, politischen Hintergrund hat. Das ist ganz wichtig, und ich versuche das, bei jeder Gelegenheit wieder ins Gespräch zu bringen. Man tut aber immer so, als sei man über Milliarden-Beträge und deren Aushandeln erhaben, qualifiziert sie ab, bringt Ausdrücke ins Gespräch, die das moralisch diskreditieren. Das ist alles fehl am Platze!

    Remme: Wenn man diese Zahl von 1,5 Millionen Empfangsberechtigten zu Grunde legt, dann ergibt ja diese fast unvorstellbare Gesamtsumme zum Schluss einen doch recht normalen Pro-Kopf-Anteil.

    Graf Lambsdorff: Das bringt einen zu kleinen Pro-Kopf-Anteil, und diese Rechnung ist auch falsch, Herr Remme. Man muss unterscheiden nach Menschen, die im Konzentrationslager gesessen haben, man muss unterscheiden nach Menschen, die Zwangsarbeit geleistet haben - auch schlimm genug, aber nicht so schlimm wie Konzentrationslager. Das war das unter dem schrecklichen Stichwort "Vernichtung durch Arbeit". Dadurch ließ man die Menschen sich zu Tode arbeiten. Zwangsarbeiter wollte man arbeiten lassen, weil man sie brauchte. Natürlich muss man dort unterschiedliche Ansätze finden. Ich habe immer gesagt, für mich persönlich kommt ein Angebot für einen Konzentrationslager-Häftling, das unter einer fünfstelligen D-Mark-Summe liegt, überhaupt nicht in Betracht. Ich bin nicht bereit, so etwas zu vertreten, und daran haben wir uns bisher auch alle gehalten.

    Remme: Wie wichtig ist diese Summe, die man dann ausrechnet, wenn es auf die Entschädigungsleistung pro Person ankommt?

    Graf Lambsdorff: Aus der Entschädigungsleistung pro Person ergibt sich natürlich die Gesamtsumme, wobei aber noch viele andere Positionen dazu gehören. Das sind ja nicht nur die Entschädigungsleistungen; das sind auch die Vermögensschäden, die hier eine Rolle spielen. Das ist ein Härtefonds, den man haben muss, damit man auch solche Fälle, die von der Initiative nicht erfasst werden, dennoch mit abdecken kann. Es gibt schon eine stattliche Summierung von großen Summen, aber es muss am Ende auch so aussehen, dass die am härtesten betroffenen auch am besten behandelt werden und dass diejenigen, die wenig oder nur durchschnittlich gelitten haben - alle haben gelitten im Kriege, insbesondere unter den Auswirkungen; das ist leider unverkennbar -, aber die am wenigsten oder nur durchschnittlich gelitten haben bekommen eben weniger, oder sie können gar nichts bekommen, weil wir nur diejenigen entschädigen können, deren Leiden deutlich über dem Durchschnitt dessen liegt, was man im Kriege nun leider erleiden muss.

    Remme: Bis auf Herrn Gibowski von der Stiftungsinitiative hat es in den vergangenen Tagen kaum jemand gegeben, der nicht der Meinung ist, die deutsche Wirtschaft könnte, wenn sie nur wollte, einen weitaus höheren Betrag aufbringen. Sehen Sie das auch so?

    Graf Lambsdorff: Natürlich könnte sie. Das ist völlig klar. Herr Remme, man braucht sich nur die Bilanzen anzusehen, man braucht sich nur die Erträge anzusehen. Die deutsche Wirtschaft könnte höhere Beträge aufbringen. Daran gibt es gar keinen Zweifel. Die deutsche Wirtschaft ist nicht bereit dazu. Das muss man auch ganz offen so sagen. Es besteht noch eine große Schwierigkeit: Solange die Rahmenbedingungen nicht klar sind, was bewirkt denn der Beitritt zur Initiative, solange ist es schwer, neue Firmen zu finden. Es wird ganz besonders schwierig - und das habe ich gestern den amerikanischen Anwälten auch noch einmal gesagt -, wenn Anzeigen in amerikanischen Zeitungen gegen die Produkte von Firmen veröffentlicht werden, die sich an der Initiative beteiligen, die zum zahlen bereit sind. Da werden Gedanken angestellt, ob man sich unter solchen Umständen nicht wieder aus der Initiative zurückzieht. Die ganze öffentliche Begleitmusik, teilweise unabsichtlich, teilweise in der Art von Gutmenschen, teilweise in der Art von Böswilligen, all diese öffentliche Begleitmusik hindert einen erfolgreichen Ablauf der Verhandlungen.

    Remme: Sie haben also Verständnis für diese Firmen, die sich hier bisher noch nicht namentlich hervortrauen?

    Graf Lambsdorff: Ja, ich habe einiges Verständnis, aber ich finde, es muss besser organisiert werden. Das habe ich der deutschen Wirtschaft und ihren Vertretern auch gesagt. Es muss klargestellt werden, dass hier sehr viel mehr Firmen sich beteiligen müssen. Die deutsche Wirtschaft besteht doch nicht nur aus 50 oder 60 Firmen. Das Unternehmen heißt "Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft". Da brauche ich Ihnen die Zahl der Firmen nicht zu nennen und auch nicht die Zahl der Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben. Aber es gibt auch ermutigende Beispiele. Mir hat ein kleines, neu gegründetes Unternehmen, vor wenigen Jahren gegründet, zwei Gesellschafter, die Geschäftsführer sind, einen Brief geschrieben. Darin steht: wir sind diese Diskussion leid, wir finden das alles sehr ärgerlich. Sagen sie uns bitte, wo wir 150.000 Mark für die Stiftungsinitiative hinschicken können. Unsere Firma ist erst drei Jahre alt; trotzdem beteiligen wir uns. - Das gibt es auch, und das darf man auch nicht unterschlagen.

    Remme: Glauben Sie, die Folgen eines Scheiterns der Gespräche werden unterschätzt?

    Graf Lambsdorff: Ja, das ist in der Tat meine Meinung. Sie werden politisch unterschätzt. Ich hoffe nicht von den Politikern, aber vielleicht von dem einen oder anderen auch. Ich glaube, sie werden von den Unternehmen unterschätzt. Diejenigen aus den deutschen Unternehmen, die in Amerika lange gearbeitet haben, die mich gelegentlich ansprechen, die wissen sehr genau, was dort passieren kann und was uns dort bevorstehen kann. Die sehen das ganze mit allergrößter Sorge. Aber wir wollen ja alle ein Ergebnis. Wir wollen ein Ergebnis nicht nur im Interesse deutscher Firmen und ihrer Tätigkeiten in den Vereinigten Staaten. Wir wollen vor allem eine Lösung und ein Ergebnis im Sinne der noch Überlebenden. Die sind im Durchschnitt schon sehr alt, und deswegen muss es auch bald zu einem Ergebnis kommen.

    Remme: Das führt mich zu meiner nächsten Frage, ob es ein Ergebnis in Bonn bringen muss oder ob die nächste Runde bereits programmiert ist?

    Graf Lambsdorff: Nein. Die nächste Runde ist noch nicht programmiert. Ich weiß auch noch nicht, ob wir uns auf ein neues Datum verabreden werden. Das müssen wir sehen. Das hängt vom Verlauf des heutigen Vormittags ab.

    Remme: Graf Lambsdorff war zum Stand der Verhandlungen über eine Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter. Vielen Dank!

    Link: (Hans-Jochen Vogel (SPD): Entschädigungen für ehemalige NS-Zwangsarbeiter (16.11.99)==>/cgi-bin/es/neu-interview/458.html)