Heuer: Der Deutschen liebstes Buch ist ausweislich der ZDF-Kür von vor wenigen Tagen Tolkiens "Kleiner Hobbit". Ist das eine gute Wahl, ein Buch aus dem man etwas lernen kann?
Löffler: Es war nicht "Der Kleine Hobbit", wenn ich sie korrigieren darf, es war "Der Herr der Ringe". Das ist die große Trilogie, der Hobbit ist natürlich die kleine Vorstufe dazu, aber Sie haben vollkommen Recht: Tolkien-Fantasie an erster Stelle. Ich denke, das hat vor allem mit der Verfilmung zu tun. Wenn die Leute danach gefragt werden, haben sie ja, glaube ich, zu mindestens Dreivierteln zehn Titel genannt, von denen sie ahnten oder wussten oder glaubten, dass das auch auf Büchern basiert. Aber in erster Linie war es die Verfilmung, die diese Titel in das Bewusstsein der Köpfe der Deutschen gerückt hat. Ich glaube, da dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben.
Heuer: In der Besten Liste gab es aber auch eine Reihe anderer Fantasie-Romane. Begreifen die Deutschen lesen als Flucht aus der Realität?
Löffler: Ja, das mag wohl so sein und da ist auch überhaupt nichts Übles dran, denn lesen hat ja immer eigentlich auch mit Wunschdenken zu tun, hat mit komplementärem Probeleben zu tun, mit dem Ausprobieren von alternativen Möglichkeiten zu unserem Leben, das ja in den meisten Fällen nicht so rasend spannend ist. Da ist wahrscheinlich das Probeleben innerhalb von Büchern und in der Fantasie viel, viel spannender. Insofern würde es mir fern liegen, das zu rügen.
Heuer: Ebenfalls sehr beliebt sind bei den Deutschen Kinderbücher, "Harry Potter" zum Beispiel findet sich gleich mehrfach, "Der Kleine Prinz" liegt sehr weit vorn. Was fehlt sind Klassiker der Kinderliteratur. Unterm Strich, finden Sie diese Vorliebe Erwachsener Leser nicht doch etwas befremdlich?
Löffler: Schauen Sie, diese ganze ZDF-Liste tut so, als wäre sie kanonisch, ist sie natürlich überhaupt nicht. Sie hat auch nicht wirklich die Lieblingsbücher der Deutschen erfasst, weil ja diese Liste vom ZDF im Vorfeld im Internet souffliert wurde, welche Titel da genommen werden sollten. Ich glaube auch, dass geschummelt worden ist, dass sich die Balken biegen. Niemand kann mir einreden, dass die Bibel das zweit liebste Buch der Deutschen ist, wenn man immer weiß, dass die Deutschen überhaupt nicht mehr wissen, was in der Bibel steht. Also, das brauchen wir, glaube ich, alles gar nicht so ernst zu nehmen. Die Wahrheit ist, dass die Deutschen nicht sehr viel lesen. Ich glaube, das Lesen steht als Hobby irgendwo zwischen Basteln und Gartenarbeit und damit muss man sich abfinden. Vor allem aber, hat sich das Leseverhalten selber geändert. Die Leute lesen so, wie sie fernsehen. Das heißt, sie zappen sich so durch die Bücher, so, wie sie sich per Fernbedienung durch die Sendekanäle zappen. Das muss man wissen. Die Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer und in der Tat hat sich auch die Literatur zum Teil darauf eingestellt. Die funktioniert schon so mit kurzen Aufmerksamkeitserregern, dass die Leute bei der Stange gehalten werden, was sonst nicht mehr so leicht ist.
Heuer: Lesen die Österreicher eigentlich anders als die Deutschen?
Löffler: Nein, natürlich nicht. Die sind genauso durchs Fernsehen determiniert wie die Deutschen.
Heuer: Es gab ja immer wieder Ansätze, einen seriösen Literaturkanon aufzustellen. Brauchen die Menschen das nicht auch zwingend, um sich bei der Vielfalt und Masse der Bücher zu orientieren?
Löffler: Ganz gewiss sollten die Leute eine Orientierung bekommen. Was mich an dieser ganzen Kanon-Debatte, die inzwischen natürlich auch unheimlich verwahrlost und herunter gekommen ist, so stört, ist, dass sie mit einem so autoritativem Gehabe und fast autoritärem Gehabe auftritt und den Leuten sagt, welche Bücher sie gelesen haben sollten. Das denke ich, kann man aufgeklärten und mündigen Leser heute nicht mehr sagen. Man kann ihnen und soll ihnen - meine Zeitschrift "Literaturen" macht das ja dauernd - Orientierung anbieten, ihnen versuchen zu sagen, welche Bücher möglicher Weise ihre Aufmerksamkeit wert sind und welche nicht. Aber man kann den Leuten heute nicht mehr einfach Listen vorgeben. Das dumme an diesen Listen ist natürlich auch, wenn man die Leute mit 20 Titeln bewirft, glauben sie, dass sie die anderen 100.000 Titel weglassen können und so ist das ja nicht. Viel mehr sollte man die Leute dazu ermutigen, dass sie sich selber eine Meinung bilden, dass sie sich den Büchern anvertrauen und vor allem sich ihrem eigenen Geschmack anvertrauen. Die Leute sollten lesen, was sie selber wollen und nicht das, was ihnen andere einreden.
Heuer: Nun erleben wir aber gerade in diesen Tagen, dass zwei große Zeitungen, die Süddeutsche und die Bild Zeitung nämlich so etwas vorgeben, wie Listen, indem sie eigene Bibliotheken aufstellen. Ist das eine gute Auswahl, die sie Lesern empfehlen können.
Löffler: Nein, man muss man doch bitte von vorn herein wissen, dass das Marketing-Strategien sind. Diese Bücherlisten werden nach Maßgabe der billig einkaufbaren Lizenzen vergeben. Diese Listen werden nicht von Literaturkritikern zusammengestellt, sondern von den Marketing Leuten und es geht darum, einer kränkelnden und schwächelnden Zeitung durch ein Zusatzgeschäft etwas auf die Beine zu helfen. Das muss man alles wissen. Das hat mit einem Kanon überhaupt nichts zu tun. Die Lizenzen, die sie gekriegt haben und die Bücher, die sie da gut machen konnten, oft sind das prominente Autoren, aber nur drittklassige Werke. Alles das muss man wissen. Mit Kanon hat das überhaupt nichts zu tun.
Heuer: Ich höre raus, dass Sie gegen einen Kanon sind. Ich möchte Sie trotzdem fragen, wenn Sie die Wahl gehabt hätten, welche drei Bücher wären denn Ihre liebsten gewesen.
Löffler: Ich habe nie Lieblingsbücher. Ich habe nur Lieblingsautoren. Die jetzige Nobelpreisträgerin gehört ganz sicher dazu, übrigens auch die letzten drei Nobelpreisträger gehören dazu. Das sind Autoren, die ich meine Leben lang begleitet habe. Aber als professioneller Kritiker kann ich mich auf Lieblingsbücher gar nicht einlassen, weil ich ja jedes Jahr hunderte neue lese, wo wahrscheinlich wieder neue Lieblingsbücher dabei sind. Aber Lieblingsautoren, da würde ich Ihnen sofort diese Namen, die ich gerade genannt habe oder nicht genannt habe, nennen.
Heuer: Letzte Frage, welches Buch hätten Sie denn gerne von der ZDF-Besten-Liste gestrichen?
Löffler: Also, ich glaube, mindestens die Hälfte von dem, was da drauf war, ist natürlich absoluter Trash. Die Klassiker, die genannt wurden sind die erwartbaren und die üblichen Verdächtigen. Die eigentlich interessanten Bücher, die in meinem privaten Kanon eine Rolle gespielt haben, stehen alle nicht drauf.