Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Die Disziplinpädagogen zerstören die Liebe der Kindheit"

Wolfgang Bergmann, Therapeut für Kinder und Familien, hält wenig von Erziehungsratgebern, die auf Tugenden wie Disziplin pochen, auf dass der Nachwuchs nicht zum Tyrannen werde. Bergmann hält ein einfaches Rezept für ausgeglichene und gehorsame Kinder dagegen: "Nichts anderes als die Liebe von Mama und Papa".

Wolfgang Bergmann im Gespräch mit Jürgen Liminski | 24.03.2009
    Jürgen Liminski: Der gesellschaftliche Diskurs beim Thema Erziehung wird derzeit bestimmt von einer Auseinandersetzung zwischen jenen, die der Disziplin das Wort reden, den Gehorsamspädagogen, und jenen, die mehr den Herzenszugang zu den Kindern und Jugendlichen suchen. Dabei können die Disziplinpädagogen auf eine gewisse Tradition zurückblicken, die auch literarisch zu den Klassikern zählt, zum Beispiel mit der Geschichte vom "Daumenlutscher" im "Struwwelpeter".

    Angst und Strafe bei mangelnder Disziplin, das war früher so, für manche soll es wieder so sein, nicht so für den Kinder- und Familientherapeuten Wolfgang Bergmann in Hannover, ein Autor mehrerer Bücher mit Titeln wie "Gute Autorität" oder jetzt "Warum unsere Kinder ein Glück sind", das Gegenstück zu dem Buch von Michael Winterhoff über die Kinder als Tyrannen oder des früheren Internatsdirektors Bernhard Bueb, der eine "Lobeshymne auf die Disziplin" geschrieben hat. Zu Wolfgang Bergmann haben wir eine Leitung ins Studio nach Hannover geschaltet. Zunächst mal guten Morgen, Herr Bergmann.

    Wolfgang Bergmann: Guten Morgen.

    Liminski: Herr Bergmann, was haben Sie gegen Disziplin? Sind Sie ein Anhänger der Chaos-Theorie?

    Bergmann: Nein. Ich habe gar nichts gegen Disziplin, mal abgesehen davon, dass das Wort in meinen Ohren ein bisschen sehr altväterlich und hausbacken klingt. Aber ich habe nichts gegen Autorität und Gehorsam, ganz im Gegenteil. Ich habe, als das noch überhaupt nicht Mode war, sondern noch eine ziemlich heftige Welle der Entrüstung hervorrief, ein Buch geschrieben, das hieß eben "Gute Autorität" und plädiert für Autorität. Nur meine ich unter Autorität und Gehorsam etwas völlig anderes als Bernhard Bueb und jetzt Michael Winterhoff.

    So unterschiedlich beide sind, sie trompeten beide den einen einzigen Grundgedanken, und der heißt: Man muss den Kindern die Ordnung der Welt, die Ordnung des Sozialen von außen aufzwingen. Und das ist falsch. Das wissen wir seit 100 Jahren aus der Tiefenpsychologie und seit 60 Jahren wissen wir es aus der Bindungstheorie. Dies alles ist wissenschaftlich und nach der Erfahrung und nach dem Herzen der Eltern im Widerspruch. Wir wissen das, aber wir kaufen immer noch diese alten Disziplinbücher. Ich weiß auch nicht warum.

    Liminski: Verwandeln Winterhoff und Bueb, um nur diese beiden halt zu nennen, die Kindheit in eine Kaserne?

    Bergmann: Bei Bueb ist das sicher so. Es gibt ein ganz interessantes Interview mit ihm, in dem er sagt, er habe seine Kindheit hinter Stacheldraht verbracht - das ist wohl seine persönliche Lebensgeschichte, muss ich jetzt nicht weiter ausführen –, und es sei eine schöne Kindheit gewesen. Und gleich hinterher sagt er dann, er könne sich nicht vorstellen, dass sieben-, achtjährige Jungen unbeobachtet und unkontrolliert zusammen sind, da bricht Chaos aus, da bricht dann Asozialität unter diesen Jungen aus.

    Die Erfahrung ist eine ganz andere. Ich bin vom Dorf, ich bin mit meinen Freunden in den Wald gezogen, und zwar jeden Tag. Wir hatten da auch territoriale Kämpfe, wir haben richtig miteinander gestritten, aber wir haben dabei gleichzeitig das Soziale gelernt. Kinder sind soziale Wesen, und sie suchen sich selber dann ihre Regeln und Ordnung und halten sich daran. Gerade das unbeobachtete, das freie Spiel ist ein Experimentierfeld zur Entwicklung von Mitgefühl, Sozialität und auch einem starken Selbstbewusstsein.

    Liminski: Kann es denn Gehorsam ohne Disziplin geben? Was braucht das Kind, um freiwillig zu gehorchen?

    Bergmann: Nichts anderes als die Liebe von Mama und Papa. Das muss aber eine Liebe sein, auf die das Kind sich restlos verlassen kann. Das muss so sicher sein wie Tag und Nacht, wie Mond und Sterne. Die Bindungsforscher sagen dann Bindungsgewissheit - ich sage Liebe –, der kindlichen Liebe zu den Eltern und der Liebe der Eltern zu den Kindern. Auf dieser Grundlage entwickeln die Kinder alles. Sie entwickeln ihre Fähigkeit, ihre eigenen Gefühle überhaupt zu verstehen, ein Gefühls-Ich zu bilden, und sie entwickeln, ein berühmter Psychoanalytiker, René Schmitz, spricht vom Urvertrauen. Das ist eigentlich ein ganz schönes Wort.

    Sie entwickeln dann auch den Mut und die Kraft, sich neugierig, aber auch aufmerksam, verlässlich, weil Mama und Papa sind ja da, es kann ja gar nichts schief gehen, sich aufmerksam und neugierig den Dingen der Welt zuzuwenden, und dann berühren sie Bauklötze, sie schauen, was auf der Straße passiert, sie nehmen alles in sich auf und indem sie es in sich aufnehmen, entsteht ein reiches, ein lebendiges, ein intelligentes und gleichzeitig mitfühlendes kindliches Selbst. Ich kann es in einer Formel sagen: gehorsam, solch einer sozialen Ordnung gegenüber gehorsam zu sein, sich ihr zu fügen, in ihr wieder zu erkennen, sich in ihr zu spiegeln. Das ist ein Kind der Liebe, der Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Ist die Liebe allerdings verloren, dann ist alles verloren.

    Liminski: Sie sprechen, Herr Bergmann, von Selbstwertgefühl, Urvertrauen, Bindungsgewissheit, also von starken Kindern mit starken Emotionen. Offensichtlich sind die frühen Orte unserer Gefühlskultur verschollen, versunken. Gönnen wir, das heißt die Politik, die Medien, die Gesellschaft, den Kindern die Kindheit nicht mehr? Die Disziplinbücher sind ja Bestseller.

    Bergmann: Da muss man gucken, wer das liest. Ich bin mir da nicht ganz sicher. Bei Herrn Bueb war es offensichtlich erschöpfte Lehrer, wohl auch ältere, die mit der modernen Jugend nicht zurecht kommen. Wir müssen lernen, uns diesen ungeheueren Herausforderungen zu stellen, die jetzt gerade mit den neuen Medien, mit den Finanzmärkten, mit der Globalisierung der Wirtschaft kommen. Das hängt alles mit Computer, Internet zusammen. Das sind tiefgreifende Umwälzungen, wie sie in der Menschheitsgeschichte vielleicht vor 500 Jahren stattgefunden haben. Da kommen viele nicht zurecht und dann wollen sie in die alte Idylle zurück, in die alte Ordnung. Ich warte nur darauf, dass hier mal ein Buch erscheint, "Hin und wieder ein Klaps schadet nicht". Wahrscheinlich hat das dann wieder eine Auflage von 300 000. Es ist ein Skandal, weil die Liebe geht verloren.

    Liminski: Herr Bergmann, produzieren wir denn eine neurotische Gesellschaft? Wo möglich fördern wir sogar das Potenzial an Amokläufen, wenn wir ein Übermaß an Disziplin den Kindern beibringen?

    Bergmann: Na ja, das ist gar nicht so entlegen, dieser Gedanke. Es fehlt an der geduldigen, nicht hektischen Liebe, der Eltern zu den Kindern. Die Eltern können nichts dafür. Im Augenblick zeigen ja alle mit dem Zeigefinger auf die Eltern. Da sollten wir vorsichtig sein. Wir stürzen gerade die jungen Familien in einen Zustand, auch einen finanziellen Zustand. Ich kenne kaum eine junge Familie mit ein, zwei oder gar drei Kindern, wo Vater und Mutter nicht bis auf die Knochen erschöpft sind, und dann sind sie hektisch, dann wird man unruhig, oder man will sich ausruhen. Das weiß man doch. Kinder brauchen im Grunde ausgeruhte Eltern, die brauchen Eltern, die sich mit ihrer ganzen Liebe ganz vorbehaltlos ohne irgendwelche Sorgen im Hinterkopf ihren Kindern zuwenden. Wir stellen unseren Familien das nicht zur Verfügung.

    Das ist das Eine und dann hetzen wir die Kinder schon ganz früh in eine Leistungsmoral. Es geht ja inzwischen mit zweieinhalb Jahren in den frühen Kindergärten los. Da fangen die an, Englisch zu lernen oder gar in manchen Kindergärten Chinesisch, als wenn unsere Kultur wahnsinnig geworden ist. Es heißt, die Kinder haben noch gar nicht ihr soziales Wesen, ihr vergnügtes Spielen mit den anderen Kindern gelernt, da werden sie schon in Rivalität getrieben, auch in Leistungsangst, guck mal, der kleine Daniel, der schreibt schon das F und du schreibst erst das B, der kann schon Chinesisch, jedenfalls vier oder fünf Sätze, und du kannst noch gar nichts, und dann geht das in der Grundschule weiter.

    Spätestens mit zehn Jahren, wie wir wissen, werden die Kinder selektiert. Etwa 10 bis 12 Prozent werden gleich ausgegliedert: Aus dir wird nichts, du kommst auf die Hauptschule. Da nistet wieder Feindschaft und mindestens Dissozialität, schon bei den Kleinsten, schon in den Schulräumen, und dann kommen eben diese Disziplinpädagogen. Gehen sie mal auf eine pädagogische Tagung, auch bei Profis: Kontrolle, Strafe, wie kontrolliert man das, wie bestraft man das. Das sind die einzigen Fragen, die kommen.

    Diese Disziplinpädagogik ist ein Symptom einer abstürzenden Kultur. Ich mache mir wirklich Sorgen. Wir erziehen unsere Kinder zur Dissozialität, zu Tyrannen, und einzelne halten es dann gar nicht aus. Die schießen dann um sich, die meisten nur auf sich selber.

    Liminski: Hat es denn mit der deutschen Mentalität zu tun, dass Gehorsam und Disziplin wieder so "en Vogue" sind, oder ist die derzeitige Diskussion ein Spiegelbild der Hilflosigkeit oder gar eine Reaktion auf antiautoritäre Erziehungsstile?

    Bergmann: Also das Erste ist – das taucht ja immer wieder auf -, das ganze Unheil habe begonnen mit den 69er- oder 68er-Generationen. Das ist natürlich falsch. Die meisten aggressiven Jugendlichen und die meisten Körperverletzungen unter Jugendlichen haben wir in der DDR, und da gab es bekanntlich keine antiautoritäre Bewegung. Das kann man also mal zur Seite tun.

    Es ist schon ein internationales Phänomen. Auch in Frankreich und in England wird diskutiert, nur auf einer anderen Ebene, wie stiften wir den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft kann ja nur funktionieren, wenn eine Art von Gewissen, von Verantwortung im Kern der Menschen verankert ist. Vor diesem Problem stehen alle modernen Gesellschaften.

    In Deutschland kommt noch was Spezifisches dazu. Wir sind eines der ganz wenigen Länder, in denen die Kinder gezwungen sind, von Staats wegen gezwungen sind, in die Schule zu gehen, auch wenn sie in der Schule seelisch krank werden. Man kriegt sie kaum raus und die Bürokratie ist stur. Wir haben eben die preußische Staatsschule noch immer als Modell und bei manchen Sätzen, die bei uns ganz hoch angesehen sind, Ordnung, Disziplin, jawohl, eine ganze Pädagogengeneration steht stramm, da brauchen sie nur 300 Kilometer von Hannover aus nach Dänemark zu fahren; die krümmen sich vor Lachen, wenn sie die Deutschen wieder mal in Reih und Glied stehen sehen.

    Nein, da sind wir schon einzigartig in der Welt. Das Wort Disziplin mit diesem unterwerfenden Klang, mit diesem herrischen Klang, mit dem "die machen wir fertig", "denen werden wir es zeigen", das ist etwas sehr deutsches und das wird unsere Kultur auch weiter im Inneren zerbröseln. Die Disziplinpädagogen zerstören die Liebe der Kindheit und damit Kindheit insgesamt.

    Liminski: Mehr Verständnis und weniger Kälte, mehr Liebe und weniger Kadavergehorsam. Das war aus Hannover zur derzeitigen Diskussion über Disziplin in der Erziehung der Kinder- und Familientherapeut Wolfgang Bergmann. Besten Dank für das Gespräch, Herr Bergmann.

    Bergmann: Gerne.