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Die dritte Dimension

Die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe zeigt mit "Die dritte Dimension" eine Skulpturenschau, die sich nicht hinter dem Bildhauerland Frankreich verstecken muss. Die Ausstellung will die Wechselwirkung zwischen den französischen Ideengebern und ihren Kollegen aus aller Herren Länder erläutern.

Von Martina Wehlte |
    Der Blick auf die spannenden und spannungsreichen ersten vier Jahrzehnte in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts kann sich heute nicht mehr einseitig auf Paris als der impulsgebenden Kunstmetropole richten, sondern er muss über ganz Europa bis nach Moskau und New York schweifen. Die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe hat endlich das Unerhörte gewagt, nicht länger wie das Kaninchen auf die Schlange so auf Paris zu starren, sondern den europäischen Kontext zu erfassen und den bedeutenden deutschen Beitrag zu diesem Kapitel der Skulptur zu würdigen: von Käthe Kollwitz über Georg Kolbe, den zeitweisen Malerbildhauer Max Beckmann bis zu den abstrakten Positionen Kurt Schwitters und Oskar Schlemmers. Die Ausstellung will die Wechselwirkung zwischen den französischen Ideengebern und ihren jungen Kollegen aus aller Herren Ländern zeigen, ihre Emanzipation und eigene Leistung bis hin zur konstruktivistischen Formensprache Kasimir Malewitschs, Karl Iogansons und dem ersten Mobile der Kunstgeschichte von Alexander Rodtschenko.

    Der Kurator Siegmar Holsten verfügt nicht nur über jahrzehntelange Ausstellungserfahrungen und über herausragende Fachkenntnis, sondern auch über eine jugendliche Neugier, Begeisterungsfähigkeit und Lust zum Wagnis. Das wird an der Ausstellung in jeder Hinsicht anschaulich. Dass das renommierte Haus 110 erstklassige Werke der Jahre 1900 bis 1945 aus 50 Sammlungen zeigen kann – darunter 15 aus eigenem Bestand -, macht die Schau per se attraktiv. Wie die dreidimensionalen Objekte unter dem Generalthema "Figur und Raum" aber präsentiert werden, macht den Rundgang zu einem wahren Erlebnis: Nicht linear chronologisch, sondern wie ein Gewebe sich entfaltend mit einer komplexen Verweisstruktur, die das Einzelwerk aus verschiedenen Blickwinkeln angeht, zum Beispiel 'Gebärdefigur', 'Tanz', 'Exotik', 'Torso' oder 'Porträtköpfe' (diese in gleicher Augenhöhe und daher auf verschieden hohen Stelen gezeigt). Oder winzige Giacometti-Figuren auf pyramidalen Sockeln, die dem Betrachter die Spannung zwischen Distanz und Nähe bewusst machen.

    Man tritt in ein interaktives Verhältnis zu den Marmor-, Bronze-, Holz-, Draht und Gipsfiguren, die im großzügig von der Seite einfallenden Licht je nach Wetter und Tageszeit ihren Ausdruck verändern. Untereinander stehen die Figuren durch ihre wohldurchdachte räumliche Positionierung im Dialog, - Maillols Pomona mit Wilhelm Lehmbrucks sinnendem weiblichen Akt von 1910 aus dem Duisburger Museum; Brancusis urförmiger Kuss mit den Holzfiguren der Brücke-Künstler. Und Max Ernsts langhalsiger Vogel, eine skurrile Assemblage von 1924, wendet sich dem grotesken Federvieh Oskar Schlemmers zu, so dass man über das streng geometrisierte Imponiergehabe der beiden schmunzeln muss. Mit großer Souveränität hat die Ausstellung Bezüge und Gegenüberstellungen gewagt, die einem das Widersprüchliche, schmerzhaft Tragische dieser zwei Weltkriege umspannenden Epoche vor Augen führen:
    Hierzu Siegmar Holsten:

    "So steht ein Herakles von Bourdelle, ein Schüler von Rodin, nicht Seite an Seite, aber Kabinett an Kabinett mir einem Berserker von Barlach. So verschieden wie man sie nur denken kann, der klassische Traditionalist mit expressivem Impetus Bourdelle und der fast vom Jugendstil kommende aber blockhaft ernste Barlach. Im Kern sind sie aber gleich -: Aggressionspotenzial, das kann man dann auch nachlesen in ihren Briefen."

    Wie ein Kommentar darauf erscheint Lehmbrucks Gestürzter, das ergreifendste Kriegerdenkmal der europäischen Kunstgeschichte.

    Die Verschränkung der Figur in den Raum wird auf besonders überzeugende Weise an einer Tänzerin Alexander Archipenkos ersichtlich, deren Hohlform des Busens und Leerform des Kopfes das erfahrene Auge automatisch füllt. Alexander Calder, der mit zwei Drahtarbeiten vertreten ist – einem dynamisch ausgreifenden Kugelstoßer und einer hängebäuchigen Kuh -, Henry Moore mit kleinen, schon typischen hohlräumigen Plastiken warten mit ihren Erfindungen zum Thema Figur und Raum schon in den späten 20er- und 30er-Jahren auf, haben aber erst in den 50ern ihren internationalen Durchbruch. Damit verweisen sie in die Zukunft; und ausstellungsgeschichtlich hoffentlich noch auf eine Folgeausstellung in Karlsruhe, mit der ein Überblick zu zwei Jahrhunderten europäischer Skulptur und Plastik gegeben wäre.

    Von Rodin bis Giacometti. Plastik der Moderne.
    Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, bis 28.02.2010; Katalogpreis: 34,-Euro