Wagener: Herr Loest, Sie sind 1981 - in der Hochphase der ökologisch-pazifistischen Protestphase - in den Westen gekommen, sozusagen in der dritten Etappe nach der studentischen Revolution von 68 und der terroristischen Phase der RAF in den Siebzigern. Wie haben Sie den Protest der Friedensbewegung damals Anfang der 80er erlebt?
Loest: Ich kam nach Osnabrück, und meine Freunde waren Leute an der Universität und in den Schulen. Es waren zum größten Teil SPD-Mitglieder oder -Sympathisanten. Und so langsam bildete sich eine Friedensbewegung heraus, die dann zu den GRÜNEN wurde. Und in diese Diskussion bin ich hineingekommen.
Wagener: Wie erlebt denn Ostdeutschland heute in diesen Wochen diese sogenannte ‚dritte Vergangenheitsbewältigung'? Ist das überhaupt ein Thema?
Loest: Nein, es ist keins. Wir hatten damals 68 unser Problem; wir starrten auf die Tschechoslowakei, auf Prag, auf Dubcek - was dort geschah. Das hat uns den ganzen Sommer über aufgeregt - bis zum Einmarsch und bis zu den Folgen. Wir haben schon gehört: Da ist auf Rudi Dutschke geschossen worden. Das haben wir schon gehört im Radio, oder die Leute, die Westfernsehen hatten, haben es auch mal gesehen. Wir wussten es, aber es war so weit weg. Und dass es in Paris gebrannt hat im Mai, das hörten wir auch, aber wir starrten auf das Experiment in Prag, diesen sozialistischen Frühlingsversuch.
Wagener: Sie haben in Ihrem Roman ‚Nicolaikirche' auch die Widerstandsfrage eingehend thematisiert. War Joschka Fischers Gewaltanwendung in Frankfurt damals, aus der Sicht von Ihnen, legitim - nach Ihren Kriterien?
Loest: Gewalt ist nie legitim, also gesetzlich. Gewalt ist im Gesetz nicht vorgesehen. Aber die Ausübenden des Gesetzes damals - die Polizei, die Innenminister - waren ja auch nicht zimperlich. Das sind Diskussionen, die wir im Osten nie gehabt haben - Gewalt oder nicht. Wer diese Diskussion begonnen hätte, hätte sie sofort beendet und wäre im Knast gelandet. Und wer in der DDR etwas tun wollte gegen den übermächtigen Staat, der musste von vornherein so listig sein, dass eine Gewalt überhaupt nicht zur Diskussion kam. Wir mussten Lücken finden hier zwischen den Paragraphen; und oft haben wir sie nicht gefunden und die Paragraphen waren stärker.
Wagener: Wird denn jetzt Ostdeutschland sozusagen schweigend die nächsten Wochen neben der Diskussion verbringen und überhaupt nicht teilnehmen?
Loest: Nun, schweigend? Wer von uns, der damals gelebt hat, kann mitreden? Ich sage mal: Da kann niemand mitreden . . .
Wagener: . . . Frau Merkel hat schon mitgeredet im Bundestag . . .
Loest: . . . bitte? . . .
Wagener: Frau Merkel hat schon mitgeredet im Bundestag.
Loest: Ja, sie ist nun auch seit 10 Jahren in der Bundesrepublik angekommen, genau wie ich - oder seit 11 Jahren. Sie hat mitgeredet als Vorsitzende ihrer Partei. Aber sie hat auch auf die Bundesrepublik von damals ein sehr friedfertiges Licht geworfen - ‚es war immer alles in Ordnung, es war ein liberaler Staat und wer gegen diesen Staat auftrat, der sei von vornherein im Unrecht gewesen'. Das ist auch wieder zu einfach. Und da sieht man schon: Die richtige Ahnung haben wir nicht.
Wagener: Hat denn jetzt Deutschland ein Problem, einen solchen Außenminister zu haben, oder ist es nicht eher eine Stärke unserer Demokratie, dass ein Minister, der vor 25 Jahren sich den Helm aufgesetzt hat und auf Polizisten losgegangen ist mit den Fäusten, dass ein solcher durch die Institutionen nun im zweithöchsten Amt in Deutschland angekommen ist?
Loest: Er ist nicht müde geworden in den letzten Monaten - auch in den letzten Jahren -, seinen heutigen Standpunkt klarzumachen. Er hat es eingesehen, dass das falsch war, er hat das bereut. Er muss sich dagegen wehren, mit Brandflaschen geworfen zu haben - und nun wird jeder einzelne Stein, den er geworfen hat, gezählt. Und das kommt auch von Leuten, die - ich weiß nicht - neun Jahre wohl mit ihm zusammen im Bundestag gesessen haben. Und heute kommt diese Diskussion hoch, weil da ein Foto gefunden worden ist. Das ist genau so heuchlerisch wie diese Plakataktion der CDU mit den Verbrecherfotos vom Bundeskanzler.
Wagener: In der aktuellen Diskussion fällt ja auf, dass es zwei Argumentationsströme gibt: Die pro-Fischer-Leute berufen sich auf die positiven Bedeutungen und Wirkungen der 68-er Zeit, und die kontra-Fischer-Riege sieht häufig eine direkte Verbindung zwischen dem Prügeln von Fischer seinerzeit und der terroristischen Episode 1970. Sind da wieder viele Geschichtsklitterer am Werke jetzt?
Loest: Hier wird zusammengerührt, was nicht zusammengehört. Aus einem berechtigten Protest wird nun auch das abgeleitet, was dann völlig schiefgegangen ist - dieser Aufstand einer kleinen Fraktion mit Gewalt gegen Sachen erst einmal und dann gegen Menschen. Und hier nun Fischer einholen zu wollen mit einer solchen Diskussion, ist heuchlerisch und politisch falsch. Die werden es nicht schaffen. Es wird in vier Wochen von etwas ganz anderem geredet werden müssen, und das ist gut so.
Wagener: Ist das so etwas wie eine Generalabrechnung mit einer ganzen Generation in Westdeutschland - aus Ihrer Perspektive?
Loest: Ja, es ist ein Versuch. Und die 68-er wissen ja auch, wo sie übers Ziel hinausgeschossen sind - gegenüber den Drogen zum Beispiel, in der Schulpolitik. Und sie wissen ja auch, was an Fehlern dann begangen worden ist, die bis heute - gerade in der Erziehung - nachwirken. Und darüber zu reden ist immer wieder nützlich und nötig. Weder das eine war fleckenlos - noch das andere.
Wagener: Was wird sich am Ende der Debatte verändert haben bei uns, was mutmaßen Sie?
Loest: Es wird hoffentlich einiges an Klarheit erreicht werden: was war nötig, gegen diesen Staat zu unternehmen, was war falsch? Natürlich war Gewalt falsch, war Prügeln falsch. Das wird Fischer noch bei jeder Gelegenheit sagen müssen und wird es sagen. Und dann wird es hoffentlich etwas klarer sein. Und wir im Osten, die wir jetzt nun zuhören und die selben Medien haben wie im Westen, wir werden auch daraus etwas lernen - auch für unsere eigene Geschichte damals.
Wagener: Erleben wir jetzt eine neue Teilung des größer gewordenen Deutschlands? Im Westen hat man die Stasi-Diskussion lange Jahre - teilweise bis heute - mit einem gewissen Unverständnis, einer Ignoranz, betrachtet. Jetzt schaut der Osten mehr oder weniger teilnahmslos zu, wie hier die 68-er und 70-er Jahre diskutiert werden. Da geht doch wieder ein Bruch durch das Land.
Loest: Das ist keine neue Teilung, sondern wir sollten begreifen, wie weit wir uns in diesen 40 Jahren auseinandergelebt haben. Wenn wir das vor 11 Jahren so gesagt hätten ‚wollen wir doch mal abwarten' - und nicht schnell sagen ‚jetzt wächst zusammen, was zusammengehört und in fünf Jahren ist alles geschafft und dann sind die blühenden Landschaften da', wenn wir begriffen hätten, wie weit wir uns auseinandergelebt haben, dann würden wir heute nicht überrascht sein, dass es so ist. Es sind keine neuen Gräben, es sind die alten Gräben, die sichtbar werden.
Wagener: Und wo erkennen Sie Parallelen zwischen der Stasi-Diskussion, die ja jetzt schon zehn Jahre andauert, und der ganz frischen Diskussion über die 68-er und 70-er Jahre?
Loest: Ja, wenn es eine Parallele gibt, dann ist es die, dass wir - ich sagte es gerade und kann mich jetzt wiederholen - dass wir so weit voneinander getrennt waren - 40 Jahre lang, dass diese Trennung heute noch sichtbar ist und sichtbar werden wird noch auf Jahre hinaus. Und darüber sollten wir uns nicht wundern.
Wagener: Aber es ist eine gute und notwendige Diskussion?
Loest: Sie ist gut und sie ist notwendig - und sie wird sich allmählich beruhigen. Ich glaube, wir sind da schon über den Berg und kommen in eine gewisse Sachlichkeit hinein. Und wenn sie ausgestanden ist, kommt Gott sei Dank das nächste Thema.
Wagener: Erich Loest, Schriftsteller aus Leipzig, zur sogenannten ‚Dritten Vergangenheitsbewältigung'. Ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Auf Wiederhören.
Loest: Ich danke Ihnen auch, Herr Wagener.
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