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Die Einheit mit der Weltseele und die Mystik im Hinduismus

Nach der hinduistischen Lehre ist das göttliche Eine in allem gegenwärtig, jedoch nicht unmittelbar erfahrbar, weil die alltägliche Wahrnehmung auf vieles gerichtet ist. Mit Konzentrationstechniken wie Askese, Meditation und Yoga kann man Freiheit von den weltlichen Bedürfnissen erreichen.

Von Corinna Mühlstedt | 17.04.2012
    "Jeder, der etwas von Gottes Gegenwart spüren möchte, muss sich selbst auf null reduzieren. Diese Macht, die wir Gott nennen, empfinde ich als uneingeschränkt gut. Denn ich kann sehen, dass mitten im Tod Leben entsteht, inmitten der Lüge Wahrheit und mitten in der Dunkelheit Licht. Gott ist für mich Leben, Licht und Wahrheit. Er ist Liebe, er ist das höchste Gut."

    Sätze von Mahatma Gandhi. Das Gedankengut des berühmten indischen Hindu und Friedensaktivisten wurde von der mystischen Lehre des Advaita-Vedanta beeinflusst. Sie erhielt ihre klassische Ausprägung im 9. Jahrhundert und ist vor allem im Süden Indiens verbreitet. Ihr zu Folge geht alles Leben aus einer einzigen göttlichen Quelle hervor, und die menschliche Seele "Atman" ist eins mit der Weltseele "Brahman". In den Upanishaden heißt es über den "einen Gott", der in allen Dingen wirkt und über allen Dingen steht:

    "Aus ihm strömt die uralte Weisheit. Niemand hat ihn erfasst, es gibt kein Bild von ihm. Seine Gestalt ist nicht sichtbar. Doch wer ihn mit dem Geist als im Herzen wohnend erkennt, der wird unsterblich."
    Die Lehre des Advaita vertritt man auch im Ashram von Tapovanam. Er liegt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und steht unter der Leitung von Swami Nitiananda. Der Hindu-Gelehrte ist überzeugt, dass auch alle Religionen denselben Ursprung haben:

    "Die Mystik ist der Punkt, an dem sich die Religionen treffen. Um die Mystik zu respektieren, muss man verstehen, was sie ist: Es geht in ihr um die unmittelbare Erfahrung Gottes. Das muss Hand in Hand gehen mit einem kontemplativen Lebensstil und der Einsicht, dass alle Religionen das Ergebnis von Gottes Gnade sind. Und warum sollte Gott parteiisch sein, nur die Angehörigen einer Religion lieben und alle anderen in die Hölle schicken?"

    Die Einheit allen Seins zu erkennen und bewusst in dieser Wahrheit aufzugehen, sei das Ziel aller religiösen Übungen, Rituale und Symbole, betont der Swami. Im Tapovanam kommen gläubige Hindus mehrmals am Tag singend und betend im Tempel zusammen. Mit besonderer Spannung erwarten sie dabei die Licht-Zeremonie "Arati", bei der ein Priester zum archaischen Klang der Trommeln eine brennende Öl-Lampe in das dunkle Allerheiligste trägt. Der Münchner Religionswissenschaftler, Professor Michael von Brück:

    "Bei dieser 'Arati', da wird das Licht zunächst vor dem Gottesbild geschwenkt und schafft eine geistige Kommunikation zwischen der Gottheit und den Menschen. Und dann wird das Licht wieder herausgetragen aus dem Sanctum Sanctorum, in die Vorhalle, dort wo die Gläubigen stehen oder sitzen."

    Sobald der Priester zu ihnen kommt, halten die Glaubenden ehrfurchtsvoll ihre Hände über die Flamme und führen sie anschließend an die Stirn. Durch diese Geste soll die Kraft des Göttlichen symbolhaft auf den Menschen übertragen werden.

    Das Licht, das in allen mystischen Traditionen ein Sinnbild des Göttlichen ist, spiegelt sich nach indischen Vorstellungen auch in der menschlichen Seele. Dieser Gedanke spielt vor allem bei der Meditation eine wichtige Rolle. Professor von Brück:

    "Das Bewusstsein gilt als Lichthaft, gilt als leuchtend, gilt als aus sich selbst heraus leuchtend, es bedarf keiner anderen Lichtquelle. Und das ist natürlich eine Erfahrung: Also wenn man in tiefere Bewusstseinsschichten sinkt, wenn man in der Versunkenheit angekommen ist, und seine unterschiedlichen Kräfte geeint hat, dann entsteht so etwas wie eine innere Erleuchtung, eine innere Kraft, und deshalb spricht man natürlich von 'Erleuchtung'."

    Im Ashram von Tapovanam sind Gäste aus aller Welt, die für einige Zeit meditieren und das einfache Leben der Gemeinschaft teilen wollen, von jeher willkommen. Swami Nitiananda setzt sich seit Jahrzehnten in Vorträgen für den Dialog zwischen den Religionen ein. Auf Reisen rund um den Globus, erklärt er, habe er Schätze der Mystik entdeckt.

    ""Es gibt so wunderbare mystische Texte. Die Mystiker aller Religionen müssten von allen Menschen gelesen werden, dann würden die Menschen verstehen, dass uns unser Glaube verbindet. Im Islam gibt es eine mystische Richtung, den Sufismus, im Christentum gibt es Gelehrte wie Meister Eckhart – sie alle sprechen so, dass auch wir Hindus ihre Erfahrungen nachvollziehen können."

    Mahatma Gandhi hat die mystische Erfahrung der Gegenwart Gottes so beschrieben:

    "Es gibt eine undefinierbare Macht, die alles durchdringt. Ich fühle sie, auch wenn ich sie nicht sehe. Diese unsichtbare Macht teilt sich selbst mit und bedarf keiner weiteren Beweise. Sie ist transzendent, das heißt sie liegt jenseits dessen, was meine Sinne wahrnehmen können. Dennoch gibt sie uns die Möglichkeit, die Existenz Gottes in einem ganz bescheidenen Ausmaß zu erfahren."