Heinemann: Das heißt, die zehn, die jetzt ins Spiel gebracht wird, halten Sie für inakzeptabel?
Graf Lambsdorff: Ja!
Heinemann: Was erwarten Sie von der US-Regierung?
Graf Lambsdorff: Von der US-Regierung erwarte ich erstens, dass sie die Klägeranwälte zum Einlenken bewegt, man könnte auch sagen zur Vernunft bringt, denn die Zahlen, die dort genannt werden, sind nach wie vor total unrealistisch. Außerdem muß die US-Regierung - das ist ja seit langem bekannt und sie ist auch willens, das zu tun - den Rechtsfrieden für die deutschen Unternehmen herstellen, denn die deutschen Unternehmen - darin unterstützt sie auch die Bundesregierung - sind nicht bereit, eine Stiftungsinitiative zu fördern und zu finanzieren, wenn sie Gefahr laufen, dass sie für dieselben Vorgänge anschließend ein zweitesmal bezahlen müssen. Dieser Rechtsfriede muß hergestellt werden, und ich hoffe, dass wir das erreichen. Da sind wir, das heißt die deutsche Industrie und die Bundesregierung gemeinsam, auch zuversichtlich.
Heinemann: Sie sind zu weiteren Verhandlungen in der kommenden Woche eingeladen. Werden Sie in die USA fliegen, wenn die Seite der Kläger auf ihrer Position beharrt?
Graf Lambsdorff: Nein. Wenn es keine Antwort auf unsere Frage gibt, die auch nur einigermaßen verhandlungsfähig aussieht, werde ich nicht in die USA fahren.
Heinemann: Und wenn dieser Termin nicht zustandekommt, kann man dann von einem Scheitern sprechen?
Graf Lambsdorff: Nein. Man kann von einem Scheitern erst einmal nur dann sprechen, wenn wir kein vernünftiges Angebot, wenn wir keine Antwort auf unsere Offerte bekommen. Jetzt ist die andere Seite am Zuge und nicht wir. Die Taktik der Anwälte ist völlig klar: Sie wollen uns von einer Konferenz zur anderen bewegen und erwarten auf jeder Konferenz, dass das deutsche Angebot um eine halbe, eine ganze oder gar noch mehr Milliarden erhöht wird. Das kommt nicht in Frage!
Heinemann: Der Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Wolfgang Gibowski, hat gesagt, es werde dennoch eine Entschädigung geben. Die Firmen hätten erklärt, dass sie dann nach eigenen Wegen suchen würden, um das Geld den überlebenden Opfern zukommen zu lassen. Gäbe es denn in diesem Fall überhaupt diese Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in den USA?
Graf Lambsdorff: Nein, es gäbe die Rechtssicherheit nicht. Das weiß Herr Gibowski selbstverständlich auch. Wenn eine Gesamtlösung nicht zustandekommt, was ich außerordentlich bedauern würde und vor allem im Interesse der Opfer, der überlebenden Sklaven und Zwangsarbeiter - manchmal geht ja das Denken an diese Menschen in dem Verhandeln über das Geld völlig zugrunde -, dann werden die Firmen "ihre" Zwangsarbeiter, die bei ihren Firmen früher beschäftigten Zwangsarbeiter entschädigen. Das heißt aber, dass zig Tausende, wenn nicht hundert Tausende von Zwangsarbeitern, die eben keinen Ansprechpartner in Gestalt von noch existierenden deutschen Firmen haben, die werden dann leer ausgehen. Deswegen sage ich noch einmal: Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass jemand so verantwortungslos sein könnte, ein Angebot von acht Milliarden auf dem Tisch liegen zu lassen und zu sagen, dann machen wir es weiter mit Prozessen, dann machen wir es weiter mit Auseinandersetzungen. Das dauert dann Jahre und das bedeutet, dass die heute noch lebenden Sklaven und Zwangsarbeiter - und die sind ja alle im Durchschnitt schon deutlich über 70 Jahre alt - zu ihren Lebzeiten kein Geld mehr sehen könnten.
Heinemann: Sind die fünf Milliarden Mark der deutschen Wirtschaft inzwischen zusammen?
Graf Lambsdorff: Nein, das sind sie nicht, aber die Wirtschaft hat sich verpflichtet: zu vier Milliarden fest verpflichtet und zu einer Milliarde zugesagt, die größten Anstrengungen zu unternehmen. Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wenn ein Gesamtbetrag feststeht und der Rechtsfrieden angeboten und gesichert wird, bin ich ganz zuversichtlich, dass die Wirtschaft diese fünf Milliarden auf die Beine bringen wird.
Heinemann: Haben Sie in den letzten drei Wochen noch weitere Firmen bewegen können?
Graf Lambsdorff: Das ist nicht meine Aufgabe, Herr Heinemann; das ist die Aufgabe der deutschen Wirtschaft selber, der Stiftungsinitiative. Ich weiß aber von der Stiftungsinitiative, dass inzwischen neue Firmen sich angeschlossen haben, beigetreten sind. Viele davon standen ja auch in der Zeitung: nennen Sie Lufthansa, Henkel oder Bosch. Das sind nur drei Namen, die mir gerade einfallen. Jetzt hat sich selbst eine schweizerische Firma Nestle bereit erklärt, der Stiftungsinitiative beizutreten. Das kommt also, aber die Voraussetzung dafür, dass das zügig weitergeht und wirklich dann auch zu den Beträgen führt, die zugesagt worden sind, die Voraussetzung dafür ist, dass wir in der Gesamtsumme eine Einigung finden.
Heinemann: Leiden die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die politischen wie die wirtschaftlichen, unter dem gegenwärtigen Stillstand?
Graf Lambsdorff: Noch nicht, aber wenn die Sache schiefgeht und wenn wir zu keiner Einigung kommen und die angekündigten Boykotts und Sanktionsmaßnahmen eingeleitet werden sollten, dann sind Schädigungen der deutschen wirtschaftlichen Interessen in den Vereinigten Staaten nicht auszuschließen. Das kann nicht auf die wirtschaftspolitischen Beziehungen beschränkt bleiben. Nach aller Erfahrung greift das auch in die allgemeinpolitischen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA über. Deswegen sind ja mein amerikanischer Gesprächspartner und Verhandlungspartner Eizenstat, stellvertretender Finanzminister, und ich von Anfang daran interessiert gewesen, dass wir hier zu einem Ergebnis kommen. Ich habe immer gesagt, wir sind zu einem Erfolg verurteilt, im Interesse der Menschen und der Leiden, die sie erlitten haben, aber auch im Interesse der deutschen wirtschaftlichen Interessen und im Interesse der deutsch-amerikanischen Beziehungen.
Heinemann: Graf Lambsdorff, Stichwort Schlußstrich. Was sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern hierzulande, die meinen, dass die Verbrechen der Deutschen in der Vergangenheit nicht ewig die Bundesrepublik beherrschen oder belasten sollten?
Graf Lambsdorff: Schlußstrich ist ein schlechtes Wort, wenn Schlußstrich etwa im moralischen Sinne gemeint wird. Es gibt keinen Schlußstrich unter die deutsche Verantwortung für das, was in Auschwitz und anderswo geschehen ist. Es muß einen finanziellen Schlußstrich geben. Dass der erst nach 50 Jahren kommt, wird bei uns in der Bundesrepublik von vielen mit einem Fragezeichen versehen. Aber da wird man wohl die Gegenfrage stellen müssen: sind wir es denn nicht selber schuld, dass es erst so spät zu einer notwendigen Regelung kommt. Im übrigen finde ich es erfreulich, dass die Medien in Deutschland unsere Bemühungen einhellig positiv begleiten und dass auch die Meinungsumfragen ergeben, dass die Öffentlichkeit auf der Seite der Entschädigungsbemühungen steht. Nur jeder weiß, dass das irgendwo seine Grenzen hat. Wenn es überzogen wird, wenn zu viel von uns gefordert wird, dann kann diese Zustimmung sehr schnell in Ablehnung umkippen. Auch das möchten wir vermeiden, möchte vor allem aus verständlichen Gründen der Bundeskanzler und die Politik insgesamt vermieden sehen.
Heinemann: Wird die Entscheidung so oder so noch vor Weihnachten fallen?
Graf Lambsdorff: Das weiß ich nicht, Herr Heinemann. Ich kann es nicht sagen. Ich wünsche es mir allerdings sehr, denn wenn sie nicht bald fällt, dann läuft die Stiftungsinitiative auseinander. Es gibt durchaus nennenswerte und mir auch bekannte Unternehmen, die ich aber jetzt nicht bezeichnen will, die ein Interesse daran haben, eigentlich aus der Stiftungsinitiative auszuscheiden - das ist ihnen alles viel zu lästig geworden - und individuelle Lösungen mit den früher bei ihnen als Zwangsarbeiter tätigen Menschen zu finden. Ich hielte das wirklich nur für die zweitbeste Lösung. Herr Gibowski hat das so genannt: es ist ein großer Abstand zwischen der besten und der zweitbesten Lösung.
Heinemann: Bis wann glauben Sie bleibt die Initiative zusammen?
Graf Lambsdorff: Das weiß ich nicht. Wenn nicht sehr schnell ein Verständigung über die Gesamtsumme zustandekommt, dann besteht die Gefahr, dass die Stiftungsinitiative sich in wenigen Tagen auflöst.
Heinemann: Otto Graf Lambsdorff, der Beauftragte der Bundesregierung für die Entschädigungsverhandlungen für NS-Zwangsarbeiter. Das Gespräch haben wir gestern Abend aufgezeichnet.