Sonntag, 19. Mai 2024

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Imre Kertész: „Heimweh nach dem Tod“
Die Entstehung eines Jahrhundertromans

Imre Kertész‘ „Roman eines Schicksallosen“ über seine Deportation in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald ist eines der bedeutendsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Kürzlich entdeckte Tagebuchaufzeichnungen aus dem Nachlass des Literaturnobelpreisträgers geben Einblick in die Arbeit an dem Roman.

Von Christoph Schröder | 19.04.2022
Imre Kertész: "Heimweh nach dem Tod. Arbeitstagebuch"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover.
Imre Kertész hat das Konzentrationslager nicht als einen Sonderfall der Geschichte, sondern als geradezu zwangsläufige Entwicklung betrachtet (Cover: Rowohlt Verlag / Foto: imago / Mauersberger)
Am 18. März 1960 trifft Imre Kertész einen Entschluss. Er unterbricht die Arbeit an seinem Romanprojekt „Ich, der Henker“, in dem er die Taten eines Nazischergen aus dessen unmittelbarer Perspektive schildern wollte. Stattdessen ist in Kertész die Erkenntnis gereift, dass es an der Zeit sei, seine eigene Mythologie, wie er selbst es nennt, aufzuschreiben: die Geschichte seiner Deportation ins Konzentrationslager. Diese Entscheidung formuliert Imre Kertész in seinem Tagebucheintrag als das Resultat einer inneren Abwägung:
„Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht wird, danach werde ich frei sein – bis dahin aber nie."
Als der „Roman eines Schicksallosen“, wie er in der deutschen Übersetzung von Christina Viragh heißt, nach deren Erscheinen im Jahr 1996 im „Literarischen Quartett“ diskutiert wurde, kam es zu einer kurzen, aber bemerkenswerten Kontroverse. Ausgerechnet der Holocaust-Überlebende Marcel Reich-Ranicki widersprach der These, dass Kertész‘ Roman auch als ein überragendes literarisches Kunstwerk und nicht nur als Augenzeugenbericht gelesen werden müsse. Reich-Ranicki lehnte, nicht nur in diesem Fall, grundsätzlich jegliche Poetisierung von Holocausterzählungen ab, obwohl auch er die epochale Bedeutung dieses Buchs anerkannte.

Ringen um Stil und Struktur

In „Heimweh nach dem Tod“ lässt sich nun nachlesen, wie sehr Imre Kertész mit der Sprache, mit dem Stil, mit der Perspektive und mit der Struktur seines Romans gerungen hat. Seine Angst, eine banale Reportage zu schreiben, war ebenso groß wie die Sorge, lediglich eine eintönige Folge gut geschriebener Szenen zu produzieren, die in ihrem kleingeistigen Realismus vordergründig emotionalisieren und gleichzeitig den Schrecken des Konzentrationslagers effekthascherisch abschöpfen könnten. Stattdessen setzt Kertész in seinem Tagebuch immer wieder die eigene Geschichte ins Verhältnis zu seinen literarischen Maßstäben:
„Authentizität ist nur da, wo es Poesie gibt – und Poesie gibt es nur da, wo es ein eigenes Erleben gibt; alles andere ist nur gedankliches Looping, beachtliches Posieren, unfruchtbares In-Schrecken-Versetzen.“
„Heimweh nach dem Tod“ ist eine faszinierende Lektüre, weil man auf Augenhöhe und im zeitlichen Einklang mit dem Autor selbst den Entstehungsprozess eines bedeutenden Kunstwerks nachverfolgen kann. Seine literarischen Referenzen – Dostojewski, Camus, Thomas Mann – legt Kertész dabei ebenso offen wie seine Selbstzweifel.
Im Jahr 1960 lebt Kertész gemeinsam mit seiner Frau Albina in einer Einzimmerwohnung in Budapest. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Verfasser von Boulevardkomödien. Seine Befürchtung, dass das seine eigentliche, seinen Fähigkeiten entsprechende Bestimmung sein könnte, zieht sich durch die Tagebucheinträge. Sein ästhetisches Wissen, so schreibt Kertész, übersteige bei weitem sein schriftstellerisches Talent.


Der funktionale Mensch als Auschwitz-Ermöglicher

Doch nach zwei Jahren des Ausprobierens und Verwerfens verzeichnet Kertész endlich Erfolgserlebnisse. Zum ersten Mal, so schreibt er 1962, habe er die gedankliche Linie seines Romans klar vor Augen.
Es wird dennoch insgesamt 14 Jahre dauern, bis Kertész den „Roman eines Schicksallosen“ abschließt. Der ursprüngliche Arbeitstitel „Ferien im Lager“ deutet an, warum das Buch Kertész in Ungarn verdächtig machte: Seine Perspektive auf den Holocaust entsprach nicht der offiziellen Darstellung.
Den Tagebüchern angehängt ist ein zehnseitiger, Ende 1963 entstandener Essay mit dem Titel „Erster Entwurf zu einem Porträt des funktionalen Menschen“. Darin offenbart Kertész den philosophischen Kern seiner Arbeit:
„Man könnte auch sagen, dass das einzelne Leben nichts anderes mehr ist als ein Symbol, das Symbol für eine vorgegebene, gleichartige Existenz, ohne Variationen, Verirrungen, abenteuerliche Möglichkeiten, kurzum ohne eigenes Schicksal.“
Das Konzentrationslager hat Kertész nicht als einen Sonderfall der Geschichte, sondern als geradezu zwangsläufige Entwicklung betrachtet: Der Menschentypus, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, ist für Kertész der eines bedingungslos und widerstandslos funktionierenden Rädchens in jenem Mechanismus, der Auschwitz ermöglicht hat. Das ist die Ungeheuerlichkeit im Denken, die den „Roman eines Schicksallosen“ zu einem so solitären Kunstwerk hat werden lassen. Der nun erschienene Tagebuchband ist ein weiterer wichtiger Schlüssel zur Orientierung im Kosmos des Nobelpreisträgers Imre Kertész.
Imre Kertész: „Heimweh nach dem Tod“
Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Ingrid Krüger und Pál Kelemen
Rowohlt Verlag, Hamburg, 142 Seiten, 24 Euro