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"Die Eroberung der Zeit"
Dem Tod den Stachel ziehen

Angenommen, wir könnten das Altern aufhalten: Wäre das wirklich ein Vorteil? Oder bringt ein verlängertes Leben nicht auch Nachteile und moralische Verpflichtungen mit sich, über die wir uns bisher kaum Gedanken machen? Sebastian Knell hat sich in "Die Eroberung der Zeit" auf rund 700 Seiten mit diesen Fragen auseinandergesetzt und kommt zu beeindruckenden Gedankenspielen.

Von Manfred Schneider | 11.12.2015
    Ein roter Laserpointer markiert am 23.10.2014 in Ravensburg (Baden-Württemberg) auf einer alten Taschenuhr einen der Uhrzeiger, der für die Winterzeit neu gestellt werden muss. Am 26.10.2014 werden die Uhren um eine Stunde auf Winterzeit zurückgedreht.
    Je älter wir werden, um so mehr merken wir, dass uns die Zeit wegläuft. (dpa / Felix Kästle)
    Während sich heute Politiker, Ärzte, Pfleger, Angehörige darum sorgen, wie sie den Alten, Dementen, unheilbar Kranken das Recht auf ein menschenwürdiges Leben oder gar auf einen menschenwürdigen Tod gewährleisten können, verfolgen Biotechnologen unbeirrt das Ziel, die menschliche Lebenszeit zu verlängern. Manche Forscher glauben, dass sie bald das Rätsel des Alterns lösen können. Sie stellen Mittel und Wege in Aussicht, die Lebenszeit eines Menschen, die in der westlichen Welt immer häufiger die 80 Jahre übersteigt, zu verdoppeln, zu verdreifachen, ja, vielleicht dem Tod überhaupt den Stachel zu ziehen.
    Es ist nicht immer Sache der Wissenschaftler, ihre Forschung auch auf den Sinn oder Nutzen hin zu befragen. So gibt es also gute Gründe, dass Philosophen über diese Aussicht eines beträchtlich verlängerten Lebens nachdenken. Seit ihren Anfängen diskutiert die abendländische Philosophie die Frage, wie denn ein gutes Leben zu führen sei und mit welchen Grundsätzen das Glück, das die Griechen "Eudaimonia" nannten, erreicht werden könnte. Jetzt fassen sie dieses alte Problem neu und fragen sich, ob und wie unter der denkbaren Möglichkeit eines biotechnisch verlängerten Lebens auch ein höheres Glück zu erreichen sei.
    Der Traum vom ewigen Leben
    Der Philosoph Sebastian Knell hat in einem umfangreichen Buch das Gedankenexperiment durchgeführt, ob für jeden Einzelnen die Aussicht auf eine verdoppelte Lebenszeit ein Vorteil sei und welche Folgen sich für die ganze Gesellschaft daraus ergeben könnten. Sein Buch trägt den Titel "Die Eroberung der Zeit", und damit spielt Knell auf die Eroberung des Raumes seit gut 100 Jahren an. Unsere Flugmaschinen haben auch etwas einst Undenkbares möglich gemacht. Wenn wir inzwischen auf fernen Planeten Platz nehmen oder über Jahre hinweg eine Raumstation bewohnen können, warum soll nicht jetzt der andere Traum wahr werden, dass wir auch die Zeit erobern und uns in einer verlängerten Lebenszeit oder gar in der Unsterblichkeit einrichten? Und so fragt sich:
    "In welchen Hinsichten ist ein längeres Leben dem (...) Wohlergehen des Individuums zuträglich? Oder pointierter ausgedrückt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Zeit und Glück?"
    Seine Untersuchung gliedert Knell in zwei Teile. In einem ersten Abschnitt denkt er darüber nach, inwieweit ein verlängertes Leben für den Einzelnen einen Zuwachs an Glück bedeuten könnte. Diese Überlegungen teilt er in weitere Unterfragen: Soll man eine verdoppelte Lebenszeit nutzen, um große zeitraubende Pläne zu verwirklichen? Oder soll man eine verlängerte Biografie durch sinnvolle Erfahrungen, Reisen, Konzerte, Freundschaften füllen? Ist es für jeden Menschen wirklich ein Gewinn, solche Erlebnisse zu vervielfältigen?
    Verlust oder Gewinn?
    Zu bedenken bleibt andererseits, dass das Altern nicht selten auch geistige und körperliche Einschränkungen mit sich bringt. So könnte am Ende von 150 gelebten Jahren ein völlig anderer Mensch stehen, dem die Erinnerung an frühere Lebensphasen gänzlich verkümmert ist. In seiner Untersuchung dieser Fragen gelangt Knell dennoch zu der Ansicht, dass eine verlängerte Lebenspanne unter bestimmten Voraussetzungen einen, wie er es ausdrückt, "eudaimonistischen Gewinn" darstellen kann:
    "Selbst wenn sich Personen, die sich gesteigerter Langlebigkeit erfreuen könnten, während des größten Teils der hinzugewonnenen Lebensjahre nicht mehr im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte befänden, würden der unverminderte externe Wohlstand sowie die unterstellte Fähigkeit zur praktisch klugen Lebensgestaltung sie fraglos weiterhin in die Lage versetzen, sich genussreiche Erlebnisse zu verschaffen und (...) allzu gravierenden Leiden aus dem Weg zu gehen."
    Der Anspruch auf biotechnische Verjüngung
    Am Ende seiner sorgfältigen Abwägung alle Argumente pro und contra erteilt Knell der normalmenschlichen Abneigung gegen den Tod und dem Wunsch nach einem längeren Leben den Segen der Philosophie.
    Das Nachdenken darüber wird allerdings erst wirklich interessant, wenn es um die Frage der Rechte und moralischen Pflichten geht. Soll es in dieser Zukunft auch einen Anspruch auf biotechnische Verjüngung geben? Müssten die Ärzte, die verpflichtet sind, das Leben zu erhalten, auch lebensverlängernde Anti-Aging-Therapien verschreiben, die die natürlich gegebene Lebensspanne weit überschreiten? Knell bejaht das nachdrücklich:
    "Wer trotz eines bereits erreichten hohen Alters weiterhin den klaren Wunsch hegt, das Leben fortzusetzen, dem wird es eine kaum erträgliche Anmaßung erscheinen, wenn andere Personen über sein Leben das Urteil fällen, es habe bereits lange genug angedauert und der Anspruch auf weitere Beihilfe zum Lebenserhalt sei erloschen."
    Die Frage nach der Notwendigkeit
    Gegenwärtig sind solche Biotechnologien noch ein Versprechen. Und so ist es noch Zeit, die viel grundsätzlichere Frage zu stellen: Besteht überhaupt eine moralische Notwendigkeit, die Forschung nach lebensverlängernden Techniken zu betreiben? Stehen dem nicht höhere moralische Pflichten entgegen? Die Menschheit hat ja, global gesehen, eher mit dem Problem zu kämpfen, ihren irdischen Fortbestand zu sichern, als der Natur ein ewiges Leben abzutrotzen: Sollten nicht alle Kräfte auf die Überwindung von Hunger, Überbevölkerung, Krieg und Klimawandel konzentriert werden? Dennoch kommt Knell zu der Ansicht:
    "Geht man erst einmal von der Existenz eines moralischen Gebotes aus, solche Therapien, (...) sofern das Fortleben im Interesse der Betroffenen liegt, zugänglich zu machen, scheint es (...) erforderlich, in Ergänzung dazu auch das Gebot anzuerkennen, (...) die Erforschung und Entwicklung entsprechender Therapiemöglichkeiten aktiv voranzutreiben oder mindestens solidarisch zu unterstützen."
    Damit aber stößt der Philosoph auf die Frage der Gerechtigkeit. Wird nicht eine mögliche Anti-Aging-Therapie - neben den bereits bestehenden großen sozialen und ökonomischen Unterschieden - noch für weitere Ungleichheiten sorgen? Unvermeidlich wird es Personen geben, die sich eine biomedizinische Verjüngungskur leisten können, und solche, die sich mit der von der Natur vorgesehenen Lebenszeit begnügen müssen. Der Philosoph erklärt dazu, dass es nicht in erster Linie auf die reine Dauer des langen Lebens ankomme, sondern auf die Norm eines "erfüllten Lebens".
    Würde Langlebigkeit zu einer für viele, aber nicht für alle erreichbaren Möglichkeit, dann entstünde zwangsläufig eine Vorstellung des erfüllten Lebens, das allerdings den "Kurzlebigen" vorenthalten bliebe. Andererseits sieht Knell auch politische Risiken für die Langlebigen:
    "Zum Beispiel könnte dann eine Majorität kurzlebiger Stimmberechtigter eine Politik durchsetzen, die eine mittelfristige Wohlfahrtssteigerung durch ökonomische Verwerfungen (...) oder durch langfristig eintretende Umweltschäden erkauft, deren prekäre Last allein den Langlebigen zugemutet wird."
    So bringen in unserer Epoche die Life-Sciences manche sozialen und moralischen Normen ins Wanken, unter die sich die modernen Gesellschaften gestellt haben. Wir kommen daher nicht umhin, auch darüber nachzudenken, was wir wissen und können wollen.
    Vor allem dieses Dilemma der Freiheit der Forschung und der Wünschbarkeit ihrer Errungenschaften macht Knells Buch eindrucksvoll sichtbar. Ein wenig einschränkend muss man sagen, dass diese 750 Seiten sowohl die guten wie die weniger guten Aspekte des Philosophierens vor Augen führen. Die deutsche philosophische Tradition hat vieles für das Nachdenken über gutes Leben geleistet, jedoch wenig für die Kunst des guten Schreibens. Sebastian Knells Buch führt den Leser durch ein hartes Exerzitium theoretischer Sprachen. Wer sich jedoch davor nicht fürchtet, der gewinnt dankbar Einblick in ein anspruchsvolles Denken von unbestreitbarer Aktualität.
    Sebastian Knell: "Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen"
    Frankfurt am Main, Suhrkamp 2015, 750 Seiten, 39,95 Euro.