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"Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt"
Das Leben ist ein Pfannkuchen

Elternhaus weg, Vater blöd, Mutter schwer krank - und trotzdem lässt sich Paulina alias Maulina nicht entmutigen. Kaum sind je in einem Kinderbuch so klare, schonungslose Worte gefunden worden für das, was Trennungskinder fühlen - an Wut, an Verzweiflung, an Ohnmacht.

Von Ina Nefzer |
    Der Hamburger Autor Finn-Ole Heinrich
    Der Hamburger Autor Finn-Ole Heinrich (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Zehn Jahre alt ist Maulina, als sie beginnt, ihre Geschichte zu erzählen. Ein besonderes Mädchen. Schon im Buchtitel wird sie als "einzigartig, ungewöhnlich, spektakulär und grenzenlos mirakulös" angekündigt - von Finn-Ole Heinrich, ihrem Autor:
    "So eine Geschichte, so verworren, so kompliziert und drei Bände, so ungewöhnlich. Dieses ganze Buch ist ja im Grunde völlig überbordend. Allein schon der Titel: viel zu viel, viel zu lang und was für Wörter! Es ist von allem zu viel, das dann extrem komprimiert, mit vielen Auslassungen - das macht diesen Erzählstil aus und das macht die kleine Frau aus!"
    Wer Maulina kennenlernen möchte, muss ihr zuhören - wie sie ohne Punkt und Komma quasselt, auf eine explosive Art und Weise redet - und lebt, mault eben:
    "Wir hatten tausend Namen für mich und Maulina hat das Rennen gemacht, weil ich Paulina heiße und es sich reimt und weil ich das Maulen zur Kunst erhoben habe. Maulen heißt nicht einfach rumstänkern, maulen, das ist eine Lebenseinstellung".
    Paulina spielt mit Worten. Zum Beispiel, wenn sie alles, was für sie wichtig ist, mit der Silbe "Maul" verbindet, und mit "Maul" neue Wörter kreiert wie das "Königreich Mauldawien". Oder, wenn sie ihren Großvater "General für Käse" nennt. Diese spleenige und fantasievolle Sprechweise hatte Finn-Ole Heinrich plötzlich im Ohr, als er seine Hauptfigur erfand:
    "Ich schreibe ja auch wirklich von innen heraus. Es ist Paulinas Geschichte und es ist ihre Sicht auf diese Welt. Und die ist genau das, was die Geschichte für mich auch interessant und erzählenswert macht. Das heißt, ich muss mir diese Figur erst erarbeiten, muss ihren Sound hören, ihre Stimme hören, muss wissen, wie sie wahrnimmt - bevor ich diese Geschichte ihr angemessen erzählen kann."
    Die Prinzessin von Mauldawien
    Und so fängt sie an, Maulinas Geschichte:
    "Es war einmal, da hatten wir noch alles.
    Wir hatten vier Zimmer und meins war das größte, weil ich die kleinste war und noch am meisten Platz zum Wachsen brauchte, klare Sache. Wir hatten gemütliche Schlabbersachen am Wochenende und die längsten Frühstücke der Welt. Das alles hatten wir in dieser Wohnung, diesem Haus, dieser Straße, diesem Reich, meinem Reich, genannt Mauldawien, und ich bin die Prinzessin von Mauldawien und zugleich auch der Maulsident."
    Es wird klar: Die Prinzessin von Mauldawien hat zwar Maul (was auch immer das ganz genau heißen mag), aber auch mindestens ein großes Problem: Ihre Eltern haben sich gerade getrennt. Und sie musste mit ihrer Mutter wegziehen, weg von dem Ort, wo sie als Kind glücklich war, nach "Plastikhausen". Schuld an all dem ist ihrer Meinung nach: "der Mann". So nennt Maulina ab sofort ihren Vater:
    "Der Mann kriegt nichts mehr von mir, kein Wort, nur Wut, nur Maul, nur das, was er verdient. Man kann nicht einfach gehen, wenn es schwer wird!"
    Kaum je sind in einem Kinderbuch solch klare, schonungslose Worte gefunden worden für das, was Trennungskinder fühlen - an Wut, an Verzweiflung, an Ohnmacht. Finn-Ole Heinrich interessieren genau solche Lebenssituationen:
    "Es gibt so viele Kinder, die es so verdammt schwer haben! Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie dünn das ist, was man als Sicherheit empfindet. Weil, es könnte im nächsten Moment alles anders sein. Und dann ist die Frage, ob ich mich hier mit den wesentlich wichtigen Dingen beschäftigt habe. Ich glaube, deshalb bin ich immer mit solchen Stoffen beschäftigt."
    Das Leben - so beschreibt es Maulinas Großvater - ist "ein Pfannkuchen, mal süß, mal salzig". Und Maulinas Pfannkuchen wird immer salziger: Ihr Vater, der dort wohnen bleiben darf, wo Maulina glücklich war, schafft sich auch noch eine Freundin an und dann erwarten die beiden auch noch ein Kind. Schlimmer kann es nicht kommen? Doch:
    "'Wir sind aus Mauldawien weggezogen, weil ich die Treppen kaum noch geschafft habe.'
    'Ach Mama, du bist doch noch ganz jung!', lache ich.
    'Paulina, ich hab 'ne Krankheit. Ich bin krank und deshalb sind wir nach Plastikhausen gezogen.'
    'So schwer, dass du nicht mehr Treppen steigen kannst?'
    Ich versteh sie nicht oder ich will sie nicht verstehen und schraube meinen Blick fest in das Gesicht meiner Mutter.
    'So schwer, Paule, dass ich schon bald in einem Rollstuhl sitzen muss'."
    Trotzige Leichtigkeit
    Elternhaus weg, Vater blöd, Mutter schwer krank - und trotzdem lässt sich dieses Mädchen nicht entmutigen. Sie ist, das weiß ihr Autor genau ...
    "... die richtige Figur, um so eine Geschichte zu erzählen, zu ertragen auch. Vor allem auch eine, die es versteht, sich Netzwerke zu bauen und irgendwo Sterne zu finden, die für sie leuchten. Die Bücher sind auf eine gewisse Weise düster und schwer, aber sie sind durchzogen von einer trotzigen Leichtigkeit."
    Die trotzige Leichtigkeit (man könnte auch Maul dazu sagen) entsteht - auf literarischer Ebene - durch diesen wild-lebendigen Schreibstil: der ist verspielt, skizzenhaft - aber auch überbordend. Als würden die Texte wahllos mit Informationen, Details, Ansichten und Einschüben wie Infozetteln und Rezepten gespickt. Dieses Sprunghafte erzeugt eine dichte Abfolge an Vorstellungsbildern beim Lesen und die Illusion, man erlebe die Welt mit Maulinas Augen - wie durch eine Kamera. Finn-Ole Heinrich - der nicht nur Autor, sondern auch Filmemacher ist - inszeniert in vielen kurzen Kapiteln Szenen aus Maulinas Leben. Einstellung und Ablauf sind dabei ganz genau kalkuliert:
    "Es gibt so eine alte Filmregel: So spät rein wie möglich und so früh raus wie möglich, um die Szenen möglichst dichtzuhalten. Ich versuche, so komprimiert wie möglich zu erzählen."
    Mit schweren Themen gute Laune zu verbreiten - das ist kinderliterarisches Neuland. Dass Heinrichs kreative Lebenslust bei der Lektüre geradezu ansteckend wirkt, liegt aber auch an der Isländerin Ràn Flygenring, die das literarische Temperament ihres Entdeckers 1:1 ins Bild setzt. Ihre skizzenhaften Illustrationen in beiden, bereits erschienenen Bänden sehen aus, als habe sie Maulina selbst mit spitzer Feder aufs Papier gekritzelt, beschriftet und dann hier und da koloriert. Im innovativen Layout der Buchseiten wirkt das kindlich-naiv, expressiv, lustig, übermütig, einseitig - wie tagebuchartige Skizzen aus "Maulinas Welt". Und die ist, wie am Anfang angekündigt, tatsächlich "einzigartig, ungewöhnlich, spektakulär und grenzenlos mirakulös" sowie - wichtig zu ergänzen: wahrhaftig. Welch ein Glück, dass für den Herbst der dritte Band angekündigt ist!
    Finn-Ole Heinrich/Ràn Flygenring (Illustrationen): "Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt. Mein kaputtes Königreich". Band 1: Warten auf Wunder, Hanser 2013/2014.