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"Die EU muss ihre Austeritätspolitik ändern"

Für den Vizechef des spanischen Gewerkschaftsbundes, Ramón Górriz, bringt die gegenwärtige Politik in der EU das europäische Sozialmodell in ernste Gefahr. Es gelte, Parlamente und Gewerkschaften zu stärken, damit "die Politik wieder der Gesellschaft dient", fordert Górriz.

Ramón Górriz im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 11.05.2013
    Jürgen Zurheide: Die Arbeitslosenzahlen in Europa sind überall auf Rekordständen, vor allen Dingen im Süden Europas. Während in Deutschland Rekorde der anderen Art gefeiert werden mit eher niedrigen Arbeitslosenzahlen, scheint sich die Waage dort in die andere Richtung zu drehen. Vor allen Dingen Jugendliche sind betroffen. 50 Prozent und über 50 Prozent zum Beispiel in Spanien. Und das alles sind möglicherweise auch Folgen der Finanzkrise und der Art und Weise, wie die Sparpakete geschnürt werden, die immer mehr den Mittelstand treffen. Thielko Grieß: Das war ein Bericht über die schwierige soziale und politische Lage in Spanien , die Veränderungen, die es gegeben hat, die immer wieder zu Protesten führen. Über dieses Thema habe ich gesprochen mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des spanischen Gewerkschaftsdachverbandes CCO, Ramón Górriz. Meine erste Frage an ihn war, inwieweit hat die Krise das soziale System in Spanien denn verändert?

    Ramón Górriz: Gleich in mehrerer Hinsicht: Einerseits ist das Tarifvertragssystem geschwächt worden, andererseits trifft dies auch für die Arbeitnehmerrechte zu. Darüber hinaus hat man sehr viele Arbeitsplätze gestrichen. Das Sozialversicherungssystem schrumpft und die Demokratie als gültiges System wurde auch torpediert.

    Zurheide: Könnte man zusammenfassend sagen, dass die Eliten in Europa diese Krise genutzt haben, um soziale Rechte zu schleifen. Ist das die Einschätzung in Spanien?

    Górriz: Ja, aber diese Aussage gilt nicht nur für Spanien, sondern auch für den Rest Europas. Denn wenn sich die Austeritätspolitik der EU nicht ändert – wie es auch der Europäische Gewerkschaftsbund fordert und deshalb zu Demonstrationen zwischen dem 7. und 15. Juni aufgerufen hat – also wenn sich diese Politik nicht ändert, ist die soziale Dimension der EU, sprich das europäische Sozialmodell sehr stark gefährdet.

    Zurheide: Inwieweit leiden ganz besonders die jungen Menschen, die von Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind?

    Górriz: Die jungen Menschen in Spanien leiden ganz besonders, weil sie die Gruppe sind, die die jüngste Entwicklung am stärksten spürt. Denn für sie ist es heute schwierig oder fast unmöglich, einen Arbeitsplatz zu finden. Und die Regierung ignoriert teilweise diese Situation, kümmert sich nicht wirklich darum, diesen Menschen bessere und neue Möglichkeiten zu geben.

    Zurheide: Inwieweit untergräbt diese ökonomische, soziale, politische Situation das Vertrauen in Europa?

    Górriz: Es gibt viele Länder in der EU, ich würde sogar sagen nahezu die ganze Europäische Gemeinschaft, die von dieser Lage betroffen sind und die Konsequenzen spüren werden. Denn die Arbeitslosenzahlen erinnern uns stark an die 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Für die meisten Menschen innerhalb der Gemeinschaft ist dies nicht die EU, die sie haben wollen. Wir wollen eine EU, die Rechte garantiert und absichert. Und wir möchten auch als Gewerkschaften unsere Position stärken, weil wir glauben, dass es ohne Gewerkschaften kein soziales Europa geben kann. Deshalb werden wir auch auf die Straße gehen und unsere Stimme erheben, um unsere Forderungen und Vorschläge gegenüber der Politik und der Gesellschaft bekannt zu machen – auch um einen Richtungswechsel bei den europäischen Wirtschafts- und Finanzeliten zu bewirken."

    Zurheide: Leider sind die politischen Mehrheiten nicht so – was eigentlich erstaunlich ist angesichts dieser Analyse und auch vielleicht der klaren Hinweise, die Sie gerade gegeben haben.

    Górriz: Ein sehr großer und immer größerer Teil der Bevölkerung fühlt sich verlassen und geht auf Distanz zur Politik insgesamt, zu den Mehrheiten dort und den großen Parteien. In dieser Hinsicht glauben wir, dass es wichtig ist, die demokratischen Strukturen, also die Parlamente zu stärken – damit sie ihre Rolle besser wahrnehmen können und die Politik wieder der Gesellschaft dient. Dass zum Beispiel die politischen Parteien, die an der jeweiligen Regierung beteiligt sind, sich auch an ihre Programme und Versprechungen halten. Und wenn man dies auf alle Länder innerhalb der EU überträgt, Europa wieder sozialer und demokratischer wird.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.