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"Die EU-Politik muss geändert werden"

Die Bahn ist ein Opfer der EU-Marktöffnungspolitik: Durch den Konkurrenzdruck in Europa müsse zwangsläufig in Auslandseinkäufe investiert werden, sagt Holger Krawinkel, Verkehrsexperte des Dachverbandes der Verbraucherzentralen. Leidtragend sind die Kunden des Heimatmarktes.

Holger Krawinkel im Gespräch mit Martin Zagatta | 10.01.2011
    Martin Zagatta: Ausgefallene Züge, verspätete Züge, und wenn sie dann überhaupt gefahren sind, dann haben sie oft irgendwo auf halber Strecke haltgemacht. Ob und wie dieses Winterchaos bei der Bahn künftig verhindert werden kann, darum geht es zur Stunde bei einer Sonderkonferenz der Verkehrsminister in Berlin, bei der der Bahnchef Rüdiger Grube sicher keinen leichten Stand hat. Umstritten ist auch, ob die Bahn einen Teil ihres Gewinnes jetzt überhaupt an den Bund abführen soll, oder ob dieses Geld nicht sofort investiert werden muss.
    Verbunden sind wir jetzt mit Holger Krawinkel, Verkehrsexperte des Dachverbandes der Verbraucherzentralen. Guten Tag, Herr Krawinkel.

    Holger Krawinkel: Guten Tag!

    Zagatta: Herr Krawinkel, ist das Misswirtschaft, was die Bahn betreibt?

    Krawinkel: Nein, das ist nicht alleine Misswirtschaft. Wir haben ja das parallele Markt- und Staatsversagen zu beobachten. Einerseits möchte die EU eine Marktöffnung, das heißt sie treibt die Staatsbahnen, die französische, die niederländische, die dänische, die deutsche, gegenseitig in Konkurrenz. Damit die das machen können, müssen sie aus den Heimatmärkten möglichst viel Gewinne rausziehen, um sie dann im Ausland zu investieren. Das ist, glaube ich, eine völlig verfehlte Marktöffnungspolitik. Das ist das eine Problem.
    Das andere Problem: Natürlich werden auch die Gelder in Deutschland nicht optimal verwendet. Es ist doch aberwitzig, dass der Bund sieben Milliarden Regionalisierungsmittel finanziert, etwa drei, dreieinhalb, vier Milliarden in das Netz investiert, und die Bahn gerade aus diesen Bereichen dann Milliardengewinne erwirtschaftet.

    Zagatta: Sie haben Frankreich angesprochen. Dort scheint das Zugsystem ja einigermaßen zu funktionieren. Warum ist die Deutsche Bahn in einem so schlechten Zustand?

    Krawinkel: Nehmen Sie einfach Vergleichszahlen. In Deutschland werden knapp 50 Euro je Einwohner in das Bahnsystem investiert, in der Schweiz sind es fast 300 Euro, in Österreich 200 Euro, auch in Frankreich ist es deutlich mehr, etwa 80 Euro. Das heißt, wir haben eine permanente Unterfinanzierung des Bahnsystems und wir haben dabei noch sozusagen einen relativ wenig effizienten Mitteleinsatz.

    Zagatta: Aber die Züge, wenn sie fahren, sind voll, die Tickets zum Teil unglaublich teuer. Wo verschwindet denn das ganze Geld?

    Krawinkel: Ja, das ist ja genau diese Rechnung. Elf Milliarden öffentliche Mittel gehen in den Bahnkonzern rein und vor allen Dingen in diesen Bereichen, wo öffentliche Mittel gezahlt werden, erwirtschaftet die Bahn Gewinne, 1,8 Milliarden 2009. Der soll noch bis 2014 auf 2,4 Milliarden gesteigert werden. Das heißt, die Bahn nimmt letztendlich durch diese hohen Rationalisierungsmaßnahmen die öffentlichen Gelder und setzt sie ein für ihre Auslandseinkäufe. Das kann nicht sein, vor allen Dingen, weil es eben andere europäische Bahnen genauso machen. Das ist ein ruinöser Wettbewerb.

    Zagatta: Also da müsste sie sich aus Ihrer Sicht zurückziehen und dieses Geld dürfte dann nur noch oder fast ausschließlich in Deutschland angelegt werden?

    Krawinkel: Nein. Ich denke, die EU-Politik muss geändert werden, weil die Bahn ist ein Opfer dieses Systems. Wenn sie im Wettbewerb bestehen will, muss sie genauso handeln. Deswegen ist das System falsch. Wir bräuchten eigentlich viel mehr Kooperation zwischen den Staatsbahnen, damit sie sich eben nicht gegenseitig Konkurrenz machen. Wenn sie heute von Köln nach London fahren, haben sie möglicherweise mit vier verschiedenen Zügen zu tun, TGW, ICE, Eurostar und Thalys. Das ist ja auch nicht gerade im Interesse der Kunden und die Probleme bestehen dann auch darin, diese Ziele zu erreichen, unabhängig von den ganzen Problemen, die jetzt im Winter aufgetreten sind.

    Zagatta: Steht denn dann aus Ihrer Sicht die Privatisierung der Bahn, an der ja grundsätzlich festgehalten werden soll, unter diesen Umständen vernünftig überhaupt noch zur Debatte?

    Krawinkel: Ich halte das für den zweiten Schritt vor dem ersten. Zunächst einmal muss die Bahn insgesamt wieder funktionieren. Es muss deutlich mehr Geld investiert werden, durchaus auch in Hochgeschwindigkeitsverkehr. Der ist ja auch sehr attraktiv. Wir haben zum Beispiel ganz Osteuropa nicht erschlossen. Sie fahren von Berlin nach Wien 700 Kilometer heute in sieben, acht Stunden. Das könnte man deutlich schneller machen, würde sicher auch angenommen werden. Vor allen Dingen muss mehr Geld rein. Ob dann eine Privatisierung wirklich sinnvoll ist, da habe ich Zweifel. Ich denke, es geht allenfalls im Güterverkehr, aber weniger in den anderen Bereichen.

    Zagatta: Jetzt wird ja in Berlin zur Stunde auch um die Dividende der Bahn, also um einen Teil des Gewinnes gestritten. Muss der Bund und damit wir alle, müssen wir in diesen saueren Apfel beißen und auf Geld von der Bahn, also auf diese Dividende verzichten?

    Krawinkel: Ich sagte ja schon, das ist eigentlich unsinnig. Der Bund steckt eine Menge Geld rein und holt sich dann hinterher die Dividende wieder zurück. In diesem System kann irgendwas nicht stimmen. Offensichtlich hat man die Verträge falsch verhandelt, wenn dort solche Gewinne gemacht werden können. Ich denke, es muss das gesamte Finanzierungssystem für die Bahn neu überdacht werden und die Gewinne sollten insgesamt im Unternehmen bleiben. Hilfsweise müsste jetzt dafür gesorgt werden, dass diese 500 Milliarden Euro tatsächlich wieder in das Bahnsystem hineingesteckt werden.

    Zagatta: Herr Krawinkel, letzte Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Jetzt dieser ganze Streit hin und her, ist Bahnfahren aus Verbrauchersicht nicht viel zu teuer?

    Krawinkel: Es gibt ja verschiedene Befragungen, die zeigen sehr deutlich, dass die Kunden eigentlich die Kosten des Bahnfahrens überschätzen. Man muss es vergleichen mit anderen Verkehrsmitteln. In der Tat: Es gibt teilweise sehr billige Flugverbindungen. Aber das Auto ist auf jeden Fall, wenn sie die Gesamtkosten sehen, immer teuerer, es sei denn, sie fahren tatsächlich mit einer gesamten Familie mit vier Personen in den Urlaub. Da wird es die Bahn schwer haben.

    Zagatta: Holger Krawinkel, Verkehrsexperte des Dachverbandes der Verbraucherzentralen. Herr Krawinkel, ich bedanke mich für das Gespräch.

    Krawinkel: Ich danke Ihnen.