Mit ihrer Reise quer durch Südamerika wollte Mariel McLaughlin sich verändern. Begegnungen mit unberührten Kulturen, der Kampf gegen Unwetter und widrige Situationen, von all dem versprach sie sich eine einschneidende Erfahrung, zumindest aber eine attraktive Station im Lebenslauf.
Diese Sendung wurde erstmals am 29. Januar 2023 ausgestrahlt.
Doch McLaughlin stellte ernüchtert fest: Auf Reisen nimmt sie sich immer selbst mit. Die Einheimischen bleiben Fremde und spiegeln ihr nur ihren exotisierenden Blick wider. Damals Grand Tours oder Hippie Trails und heute Backpacker-Reisen folgen alle tiefen kolonialistischen Mustern. Reisen hält nicht, was es verspricht, aber es erschüttert auf unerwartete Weise.
Was auf die einsame Insel mitnehmen, damit es nie langweilig wird? Wie wäre es mit „Die Dinge des Lebens“, dem Essay-, Hörspiel- und Featureprogramm für den Sommer? In 13 Kapiteln geht es hier um alle großen Lebensthemen: um Kindheit, Liebe, Drogen, Familie, Sex, Reisen und zuletzt auch um den Tod. Um Anfänge und Abschiede. Und um alles, was dazwischen passiert. „Die Dinge des Lebens“ ist eine Sendereihe in Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur von Anfang Juli bis Ende September 2023.
Erstes Versprechen: Auf Reisen wird man eine andere
Ob ein Versprechen gehalten wurde, weiß man meistens erst zum Schluss. Ich möchte daher da anfangen, wo das Reisen schon fast vorbei zu sein scheint: beim Nachhausekommen. Nach einer neunmonatigen Reise durch Südamerika war ich recht ernüchtert zu einer Schlussfolgerung gelangt: Reisen, so banalisierte ich es danach gerne, ist doch nur die Organisation von Schlafen, Essen und Transport – unter erschwerten Bedingungen, an einem anderen Ort. Das Reisen, so fühlte ich, hatte sein Versprechen nicht eingelöst. Was es mir versprochen hatte, war, dass ich losziehen und als eine andere zurückkehren würde. Es hatte mir versprochen, dass ich Teile von mir, die mein Leben erschwerten, unterwegs fallen lassen, neue dagegen auflesen und mit nach Hause bringen könnte. Stattdessen hatte ich aber nur fünf Liter argentinischen Rotwein und eine Binsenweisheit im Gepäck: Man nimmt sich selbst immer mit. Auf Reisen wurde ich also erst mal keine andere. Wieso war ich aber mit einer gegenteiligen Überzeugung ausgezogen? Ich möchte mich an einer Antwort in Fragmenten versuchen.
Die brasilianische Sonne versengte mir den Nacken, in meine verbrannte Haut schnitten die Träger meines viel zu schweren Rucksacks, unter dessen Gewicht ich aus meinen ausgetretenen Sandalen zu rutschen drohte - und ich hoffte auf Transzendenz. Zumindest interpretiere ich die Anstrengungen, die ich unternahm, in der Retrospektive so. Ich würde am nächsten Tag Bauwerke und Ausstellungsstücke betrachten. Ich würde in den kommenden Wochen Strände, Wasserfälle und Berge besuchen. Und ich hoffte, dass sie alle etwas in mir verändern, sich in mich einschreiben würden. Ich hoffte auf eine Durchlässigkeit zwischen der äußeren Welt und meiner persönlichen Erfahrungswelt.
Ich nahm an, es gebe eine Wechselwirkung zwischen Ort und Selbst und reihe mich damit in eine kulturgeschichtliche Tradition ein. Der Drehbuchautor Christopher Vogler sammelte in seinem Buch The Writer's Journey die Stationen der Held*innenreise. Dies sind Stationen, die Protagonist*innen in Narrativen häufig durchlaufen. Es gibt sie schon seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden. Zunächst in Mythen, später in der Literatur, dann auch in Film und Fernsehen. Bei Vogler sieht man, wie Stationen der Held*innenreise, die einen örtlichen Wechsel auslösen, meistens auch eine Veränderung der psychischen Landschaft zur Folge haben.
Zweites Versprechen: Wer reist, schwebt
Der Anthropologe Victor Turner prägte in den 1960er-Jahren den Begriff der Liminalität. Mit dem Begriff beschreibt er einen Schwellenzustand von Individuen, wenn diese in einer Gesellschaft zwischen Kategorien wechseln. Turner erforschte diese liminalen Phasen zunächst anhand von Initiationsriten in der Pubertät bei der indigenen Gruppe der Ndembu, eines Volks aus dem Gebiet des heutigen Kongo. In der Pubertät finden wir bei binär-geschlechtlich geprägten Gesellschaften wie den Ndembu einen Schwellenzustand zwischen den Kategorien "Junge“ und "Mann” oder “Mädchen” und “Frau”. Wenn das Individuum von der einen in die andere Kategorie wechselt, verändert das immer seine Stellung in der sozialen Ordnung. Turner bezieht sich auf die Forschungen des Anthropologen Arnold van Gennep und nennt drei Phasen bei solchen Übergangsriten: Die Ablösungsphase, bei der das Individuum symbolisch von seiner vorherigen Position oder aus einem Zustand gelöst wird. Die Zwischenphase oder die Liminalität, bei der sich das Individuum in einem Bereich befindet, der kaum oder gar keine Merkmale des zurückliegenden, als auch des kommenden Zustandes aufweist. Und schließlich die Integrationsphase, in der das Individuum eine neue Position innerhalb der Gesellschaft einnimmt. 1978 veröffentlichte Turner zusammen mit seiner Ehefrau Edith Turner Forschungen zur Liminalität von christlichen Pilgerreisen. In diesen bezeichnen sie das Pilgern als eine liminale Phase, in der sich die Pilgernden in einem Schwebezustand wiederfinden, losgelöst von ihrem gewöhnlichen Alltag und ihrer vorgängigen gesellschaftlichen Position. Die Pilgernden streifen so eine alte Identität ab und formieren eine neue.
Ich persönlich testete diese Theorie der Liminalität mit Anfang 20. Damals hatte ich genug vom Studieren. Ich hatte das Gefühl, mich nur noch in abstrakten Theorien zu bewegen, die vom tatsächlichen Leben abgekoppelt waren. Ich tat mich schwer mit einer beruflichen Perspektive, fühlte mich in meinem sozialen Umfeld zu sehr in bestimmten Rollen fixiert – als Tochter, Schwester, Freundin und junge Frau. Ich war stark auf die Erwartungen der anderen konzentriert und stellte oft meine eigenen Bedürfnisse zurück. Und generell fehlte es mir an neuen Reizen. Ich weiß nicht mehr, wie genau ich auf Argentinien kam. Ich hatte zuvor nie einen Bezug zu Südamerika gehabt und ich kannte vielleicht fünf spanische Wörter. Doch in der Zeit, in der ich mich mit meiner Abschlussarbeit plagte, fand ich Zuflucht bei dem Gedanken an Argentinien. Vielleicht war es gerade der Aspekt, dass ich so lange keinen Bezug zu diesem Land hatte, der nun so eine Anziehung auf mich ausübte. Wenn ich in ein Land reisen würde, von dem ich eigentlich zuvor die meiste Zeit vergessen hatte, dass es existiert – vielleicht würde ich dann auch bei mir selbst auf Eigenschaften stoßen, von denen ich nichts geahnt hatte. Ich hoffte, mich auf meiner Reise in neuen sozialen Rollen ausprobieren zu können, eigene Schreibprojekte zu realisieren und neue Ideen für meine berufliche Zukunft zu bekommen – und ganz nebenbei irgendwie auch noch Spanisch zu lernen. Auch, wenn ich es mir selbst gegenüber so nie artikulierte, versprach ich mir wohl, meine vorherige Position in der Gesellschaft zu verlassen und nach der Reise eine neue einnehmen zu können. Ich würde reisen und schweben.
Drittes Versprechen: Reisen ist Arbeit an sich selbst
Victor und Edith Turner hielten die Pilgerreise für die früheste Form der Reise und stellten dort die Liminalität fest. Aber auch weitere Arten des Reisens lassen sich mit diesem Konzept fassen. Etwa ab dem Ende des 16. Jahrhunderts schickte der Adel seine Söhne meist per Postkutsche auf lange Bildungsreisen, “Grand Tour” oder auch “Kavalierstour” genannt. Eine solche Reise sollte die Reisenden intellektuell stimulieren. Auch hier haben wir es mit einem Schwebezustand zwischen zwei gesellschaftlichen Verortungen zu tun. Vor dem Antritt der Reise waren die Adelssöhne noch Heranwachsende, danach wurden sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft verstanden. In den 1960er Jahren entstand der sogenannte “Hippie Trail”. Mit dem Rucksack und im VW-Bus oder per Anhalter fuhren nun Scharen junger Menschen von Europa aus über die Türkei, den Iran und Afghanistan nach Indien. Häufig waren es Studierende, die der Mittelschicht angehörten. Sie hofften darauf, das eigene Bewusstsein zu verändern – durch ihren Drogenkonsum und durch die Begegnungen mit dem, was sie als kulturell anders wahrnahmen. Anders als die Adelssöhne ab dem 16. Jahrhundert wurden diese Reisenden skeptischer beäugt. Viele bezweifelten, dass die Reisenden des “Hippie Trails” nach der liminalen Phase eine produktive Position in der Gesellschaft einnehmen würden. Gerne wurden sie als Individuen gelesen, die sich nur um ihr eigenes Vergnügen kümmerten und nichts zur Gesellschaft beitragen wollten.
Schließlich fand sich auch ein neues Narrativ für das Backpacking – mit dem Aufschwung des Neoliberalismus und dem Verklingen der kritischen Stimmen der 68er-Bewegung. Ich selbst kam damit einmal ganz explizit in Kontakt: Nach ein paar Monaten des Reisens war ich ein wenig frustriert. Ich fühlte mich intellektuell unterfordert, meine Spanischkenntnisse stagnierten und ich spürte zunehmend, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen unverbindlich waren und etwas in mir unbefriedigt ließen. Ich telefonierte mit dem Referenten einer Stiftung, die mich zuvor im Studium gefördert hatte, und teilte ihm meine Überlegungen mit, wieder nach Deutschland zurückzukommen. Er erzählte mir, wie sehr er sich im Nachhinein geärgert hatte, einen Auslandsaufenthalt während seines Studiums nicht verlängert zu haben. Und ohne dass ich von mir aus das Thema angesprochen hätte, machte er mich darauf aufmerksam, dass meine potentiellen Arbeitgeber*innen eine Reiseepisode im Lebenslauf absolut zu schätzen wissen würden. In der aktuell vorherrschenden neoliberalen Logik implizieren Stationen im Lebenslauf wie Auslandssemester, Auslandsreisen oder ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Fremde, dass man bestimmte Kompetenzen erwirbt, was nur in der Begegnung mit dem kulturell Anderen erfolgen kann.
Ein Narrativ, das man zu Hauf in Backpacker*innen-Kreisen findet, ist, dass man sich gegen widrige Bedingungen durchgesetzt hat. Das kann ein fieser Einheimischer sein, der einen abzocken wollte. Oder ganz klassisch: Magendarmgrippe. Sehr beliebt sind auch die Erzählungen mit existentieller Färbung. Ich für meinen Teil spiele gern auf das Versprechen von persönlichem Wachstum an – mit einer Geschichte davon, wie ich während eines Unwetters in der kolumbianischen Sierra Nevada Todesangst erlebte. Ein Blitz schlug in einen ein paar 100 Meter entfernten Baum ein, sodass ich daran zweifelte, ob ich diese Wanderung überleben würde. Es gibt eine ganze Reihe solcher Geschichten, die ich gerne zum Besten gebe. Denn sie lassen meine Reise als einen Grenzgang erscheinen: Die Banalität des Alltags zu Hause wird mit den echten Gefahren von unterwegs kontrastiert. Zu Hause hat man Arbeit, Termine, enge soziale Beziehungen. Aber stets kann man sich an dem Mantra festhalten, dass einem wohl nicht der Kopf abgerissen wird. Zuhause fällt man nie ganz so hart. Auf Reisen dagegen kommt man mit den Bedingungen der eigenen Existenz in Kontakt. So imaginieren es zumindest die Reise-Romantiker*innen.
Die Soziologin Kristin Lozanski führte 2005 eine Feldstudie unter Individualreisenden in Indien durch. In ihrem Artikel „Independent Travel: Colonialism, Liberalism and the Self” vertritt sie die These, dass Grenzerfahrungen und Mühsal auf Reisen als notwendiges Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung des modernen liberalen Selbst gedacht werden. Reisen wird als Verlassen der Komfortzone verstanden, welches notwendig für persönliches Wachstum ist. Mit der Annahme, dass persönliches Wachstum überhaupt notwendig ist, schließt dieses Reiseverständnis an die moderne Subjektivierung an.
Viertes Versprechen: Touris – das sind die anderen
Als ich reiste, war es Konsens unter uns Backpacker*innen, dass Orte, an denen sich auch Einheimische aufhalten, einen besonderen Wert haben. Einheimische, im Backpackerslang “Locals” genannt, waren die, die anders waren als wir Backpacker*innen.
Lozanski beschreibt, wie Backpacker*innen häufig daran scheitern, bedeutsame Beziehungen mit den Locals, den Anderen, zu knüpfen. Als einen Grund nennt sie die extreme Mobilität der Reisenden. Aber auch der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden, den die Reisenden reproduzieren, wirkt daran mit. Die Locals werden exotisiert und das Zugehörigkeitsgefühl der Reisenden bezieht sich auf andere Reisende. Ich selbst weiß noch, wie ein mulmiges Gefühl in mir aufstieg, als ich realisierte, Touristin allein auf weiter Flur in einer verarmten kolumbianischen Küstenstadt zu sein. Und wie sich dann am nächsten Tag Erleichterung breit machte, als ich im Hafen sah, wie andere ähnlich verloren wirkende Menschen ihre Rucksäcke in das Motorboot hievten.
Damit geht eine wirtschaftlich privilegierte Stellung unter den Backpacker*innen bei Reisen im globalen Süden einher, zum Beispiel auf Trips durch Indien. Lozanski beobachtete, wie sich diese Stellung bei den Reisenden als ein verbindendes Element herauskristallisierte. Localsund Backpacker*innen finden also nicht nur nicht zueinander, weil der Lebensmittelpunkt der Reisenden im Gegensatz zu dem der Einheimischen stetig seine Koordinaten ändert. Sondern auch nicht, weil Reisende des globalen Nordens im globalen Süden schon allein aufgrund ihrer Herkunft über größeres wirtschaftliches Kapital als die Einheimischen verfügen.
Dieses wirtschaftliche Kapital scheint wenigen Backpacker*innen bewusst zu sein. Es gibt wahrscheinlich kaum Personen, mit denen ich so viel über Geld gesprochen habe, wie andere Backpacker*innen. Es ging darum, wo es die günstigsten Preise gab, mit welchem Budget pro Tag man rechnete, wie man das Geld für die Reise zusammengespart hatte und wie man jetzt am sparsamsten damit umgehen könnte. Unter denen aufgrund ihrer Herkunft sowieso schon privilegierten Backpacker*innen kam mir obendrauf noch ein weiteres Privileg zu: Meine Eltern hatten mich während der Reise finanziell unterstützt. Außerdem hatte ich schon im Studium ein wenig Geld ansparen können: Ich hatte ein Stipendium und einen sehr laxen Studienjob gehabt und meine Eltern hatten mich auch damals schon unterstützt. Das müsste man fast schon als massive Privilegien bezeichnen. Und trotzdem: Ich erinnere mich gut an meine Entrüstung, als mir auf einem Markt ein kleines Stofftäschchen für umgerechnet zehn Euro angeboten wurde. Im Vergleich zu den anderen Preisen auf dem Markt kam mir diese Summe horrend vor. Ich hatte das Gefühl, diesen Preis zahlen zu sollen, weil ich als reiche, weiße Touristin eingestuft wurde. Dem wollte ich mich widersetzen, mir mein Privileg vielleicht nicht eingestehen.
Individualreisende mögen auf den ersten Blick weniger invasiv anmuten als die “Normalo”-Pauschaltourist*innen. Es sind schließlich nicht die Individualreisenden, die ganze Innenstädte überrennen, wenn ein Kreuzfahrtschiff im Hafen anlegt. Sie mögen Orte und Tätigkeiten ablehnen, die gezielt für einen exotisierenden Blick inszeniert werden, im Gegensatz zu klassischen Tourist*innen. Dadurch mögen Individualreisende zunächst als kulturell sensibler erscheinen. Und damit den Anschein erwecken, weniger in neokolonialen Strukturen verhaftet zu sein. Mit “neokolonialen Strukturen” meine ich Strukturen, durch die ehemalige Kolonien nun auf andere Weisen dominiert werden. Dies kann auf wirtschaftliche, aber auch auf ideologische oder kulturelle Weise versucht werden. Lozanski hält aber fest, dass auch Backpacker*innen – das sind auch die Backpacker*innen.
Fünftes Versprechen: Auf Reisen begegnet man dem Anderen
Ein Jahr nachdem ich aus Südamerika wiedergekommen war, dachte ich an einem Abend intensiver über meine Reise nach. Ich schrieb in ein Notizbuch:
„GAP YEAR:
[…] Ich war doch auf einer Mission / aber die Länder sind längst zivilisiert“
Zeichnet sich hier nicht eine zutiefst imperialistisch geprägte Sehnsucht ab? Trägt das Reisen auch noch heute eine Komponente kolonialer Entdeckungsreisen? Es ist doch bezeichnend, dass man nur genau so lange von einem unberührten, einem unentdeckten Ort spricht, wie noch niemand anderes aus der eigenen Bezugsgruppe dort hingelangt ist. Ich glaube, dass das vermeintlich Unberührte beim Reisen auch noch heute fetischisiert wird. Der beliebteste Reiseführer unter Backpacker*innen heißt sicher nicht zufällig Lonely Planet.
Retrospektiv glaube ich: Ich habe mich insbesondere in neokolonialen imperialistischen Mustern bewegt, als ich durch die kolumbianische Sierra Nevada wanderte. Mein Ziel damals war es, eine heilige Stätte der indigenen Gruppen der Tayrona in den Bergen zu besuchen. Diese kann man nur zu Fuß erreichen. Bei den Tayrona heißt diese Stätte Teyuna. Im Spanischen nennt man sie “Ciudad Perdida“, also “verlorene Stadt“. Der Guide erzählte uns, dass es Spannungen zwischen den verschiedenen Lagern der Tayrona gibt. Manche sind dafür, diese Stätte für Tourist*innen zu öffnen, andere dagegen. Bei der Wanderung kamen wir an einer Tayrona-Siedlung vorbei. Ein paar Kinder standen nackt davor und unsere zwanzigköpfige Gruppe starrte neugierig zu ihnen herunter. Ein brutal voyeuristischer Blick von oben auf ihre entblößten Leiber herab, vor dem sie ihre Eltern vielleicht hatten beschützen wollen.
Es gibt noch eine andere Szene von dieser Wanderung, die sich besonders in mein Gedächtnis eingebrannt hat: Gerade erst hatten sich die Regenwolken abgeregnet. Wir wanderten an einem unruhigen Fluss entlang. In der noch feuchten Luft stiegen wir über glitschige Steine. Nach einer Biegung sahen wir auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses einen Tayrona-Mann. Er trug eines der schlichten weißen traditionellen Gewänder und saß auf einem dunklen Pferd. Ich empfand dieses Bild als unglaublich majestätisch. In seinem Weiß vor dem Hintergrund des Waldes und der matschigen Pfade wirkte er deplatziert auf mich. Wie ein magisches Wesen, das dort von Zauberhand erschienen war. Er trug sein Gewand mit solch einer Selbstverständlichkeit, dass ich an meiner eigenen Überzeugung zweifelte, mit der ich am selben Morgen meine Funktionskleidung angezogen hatte. Im Vergleich zu unserer Wandergruppe, die ungelenk über die feuchten Steine kraxelte, ging von ihm eine Souveränität aus. Ruhig und aufrecht saß er auf dem Pferd. Ich glaube, ich hatte nie zuvor einen Menschen wahrgenommen, der sich mit so einer Anmut und Sicherheit durch die raue Natur bewegte. Ich vermutete die Quelle seiner Souveränität in einem Weltbild, das ich nicht erfassen konnte. Ich würde ihn nie verstehen können. Er war eine andere Spezies, unerreichbar für mich.
Bei meinen Projektionen auf den Tayrona-Mann waren viele kulturelle Sedimente im Spiel. Als ich schon wieder in Deutschland war und an dieses für mich so poetische Bild dachte, fragte ich mich, was ein Pendant sein könnte, das in die andere Richtung exotisiert. Wollte man meine Perspektive von jeder Ästhetisierung und Sentimentalität befreien, könnte man sagen, ich hatte ganz banal einem Menschen dabei zugesehen, wie er in seiner Heimatgegend von A nach B kommt. Übertrüge man das auf meine Lebenswelt, wäre das vielleicht so, als wenn jemand Außenstehendes unglaublich fasziniert davon wäre, wie ich morgens in Wien in die U4 steige.
Auch wenn Kolumbien auf einer klassischen Weltkarte westlich von Europa liegt, hilft vielleicht Edward Saids Konzept des Orientalism, um meiner exotisierenden Perspektive auf den Grund zu gehen. Said stellt die Konstruiertheit von Orient und Okzident heraus. Er sagt, dass diese keinesfalls in der Welt unabhängig von der kulturell geprägten Perspektive vorzufinden wären. Stattdessen entstehen Orient und Okzident mit ihren jeweiligen Konnotationen laut Said durch eine Tradition der Gedanken, der Bilder und der Sprache. Diese produzierten den Orient in politischer, soziologischer, militärischer, wissenschaftlicher und fantastischer Hinsicht. Immer, wenn der Orient konstruiert werde - ob das jetzt durch anthropologische, soziologische oder historische Studien passiere, sei das Orientalism. Orientalism äußert sich dabei als eine Praxis der Dominanz, bei der der Westen den Orient auf der Bedeutungsebene in bestimmten Strukturen fixiert.
Was Said für die Konzeption des Orients feststellt, lässt sich leicht auf die Konzeption von indigenen Gruppen übertragen. Diese werden umgangssprachlich oft “Naturvölker“ genannt, was sie abwertet und reduziert, wie die heutige Anthropologie es herausgearbeitet hat. Das führt uns eigentlich auch schon zum Kern des Problems. Jahrhundertelang wurden indigene Gruppen – was nebenbei gesagt auch nur “Eingeborene“ bedeutet und damit wahrscheinlich auch problematische Ebenen hat – als “Primitive“, “Wilde“ und dann irgendwann als “Naturvölker” betitelt. So wie orientalistische Konstruktionen eine Dichotomie von Orient und Okzident aufmachen, bauen alle drei Begriffe auf der Annahme eines Gegensatzes von Natur und Kultur auf. Natur als die ursprüngliche, unbehandelte Substanz der Erde, Kultur als das Menschengemachte. Die indigenen Gruppen werden eindeutig der Seite der Natur zugeordnet. Wenn wir bei “Kultur” als Begriff für das Menschengemachte bleiben, werden indigene Gruppen mit ihrer Zuordnung zur Natur vom Menschlichsein abgerückt. Die Kultiviertheit, die seit der Aufklärung ein zentrales Element des menschlichen Selbstbildes ist, fehlt ihnen. Diese Bedeutungskonstruktion des Indigenen baut wie der Orientalism auf einer Tradition von Gedanken, Bildern und Sprache auf. Mein Blick auf den Tayrona-Mann war dabei geprägt vom Topos des edlen Wilden.
Dies ist eine Figur, die indigene Personen aufgrund ihrer angenommenen Unzivilisiertheit als unverdorben und autonom darstellt. Man findet sie in frühen ethnologischen Studien, später in Abenteuerromanen oder heute im Hollywoodkino. Reduktive Bedeutungskonstruktionen stellen Indigene als noble autonome Naturwesen oder als barbarische Wilde dar. Diese sind im Diskurs enorm präsent,genauso wie orientalistische Konstruktionen. Dadurch wird es eigentlich unmöglich, indigene Menschen unabhängig von diesen Konnotationen wahrzunehmen. Mein Bild des Tayrona-Mannes ist also gar nicht mein eigenes. Es ist ein kulturell-medial geprägtes, in dem sich Bedeutungsebenen niederschlagen, die ein gesamtgesellschaftliches Produkt sind.
Die Begegnung mit dem Anderen – beziehungsweise dem, was als kulturell anders konstruiert wird, ist ein zentraler Reiz des Reisens: Der Abgleich mit dem Anderen, um sich selbst zu erkennen. Und auch: Die Begegnung mit dem Anderen, um sich das Andere einzuverleiben – als Ausdruck und Ausbau der eigenen Souveränität und Dominanz. Es besteht also ein hohes Risiko: Man begegnet dem Anderen nicht nur nicht auf Augenhöhe, sondern überhaupt nicht und sieht allenfalls die Bilder, die man schon auf die Reise mitgebracht hat.
Sechstes Versprechen: Der Reisemythos erledigt sich nach der Reise von selbst
Ich dachte also, ich hätte mit dem Reisen abgeschlossen. Nicht in dem Sinne, dass ich nie wieder zur Erholung an einen anderen Ort fahren wollte. Sondern in dem Sinne, als dass ich mich vom Reisen als Vehikel der Selbstfindung oder Selbstkreation verabschiedet hatte. Ich hatte das Gefühl, einem lang tradierten Irrtum aufgesessen zu sein. Neue Erfahrungen hatte ich nicht in der Intensität gemacht, die ich erwartet hatte. Die Hoffnung auf Transzendenz, die mich auf meiner Reise begleitet hatte, war ins Leere gelaufen. Die Blicke aus Bussen auf vorbeiziehende Landschaften und auf Häuserfassaden in unbekannten Städten hatten nichts in mir verändert, die Landschaften sich nicht in mich eingeschrieben, die Bauwerke nichts in mir verschoben, mit meiner Umwelt war ich nicht verschmolzen. Alles war an Ort und Stelle geblieben – anders als es mir der Topos der Held*innenreise, der Lebensreise, die Roadmovies oder die Blogs anderer Backpacker*innen nahe gelegt hatten. Es ist nicht so, dass ich die Erfahrung meiner Reise nicht schätzen würde. Sie hatte durchaus ihre schönen Momente und interessanten Begegnungen. Letztendlich lernte ich auch Einiges über mich: dass ich verbindliche Beziehungen schätze. Vielleicht schreiben sie mich in einer sozialen Rolle fest, können dafür aber eine andere Tiefe generieren. Ich verstand, dass mir das Reisen in der Form, wie ich es praktiziert habe, zu passiv war. Vielleicht könnte man auch sagen, dass sich das Versprechen des Reisens letztendlich auf eine andere unerwartete Art zumindest teilweise einlöste – auch wenn für mich das Gefühl, vom Reisen erfüllt zu sein, ausblieb. Denn die Orts- und Alltagsveränderung hatte am Ende ja doch etwas mit meinem Selbst gemacht. Zuhause hätte ich diese Dinge über mich selbst wohl kaum herausgefunden. Vielleicht habe ich mich auf Reisen auch mit der Undefinierbarkeit der eigenen Position in dieser liminalen Phase schwer getan. An das Gefühl, mich auf etwas unangenehme Weise in der Schwebe zu befinden, kann ich mich gut erinnern.
Ich dachte also, ich hätte mit dem Reisen als Vehikel der Selbstkreation abgeschlossen. Doch dann kam die Pandemie. Die ausbleibenden sozialen Kontakte und das ständige Zuhausesein machten etwas mit mir. Ich hatte das Gefühl, ein regelrechtes Pandemie-Ich zu entwickeln. Eines, für das es normal wurde, an einem Freitag um zehn Uhr abends mit einem Buch im Bett zu liegen. Das Gefühl, gerade etwas zu verpassen, kannte ich gar nicht mehr. Doch als es auf den Sommer 2022 zuging und Reisen wieder zur Normalität wurde, formierte sich wieder ein Bild in meinem Kopf. Dieses Mal: Italien. Und das trotz meiner Enttäuschung darüber, wie das Reisen seine Versprechen nicht eingelöst hatte – oder mindestens auf eine ganz andere Art und Weise. War ich lernresistent? Gewillt, dem Irrtum ein weiteres Mal aufzusitzen? Ich glaube, die Antwort ist ein schlichtes Ja. So wie ich trotz des Wissens um die Gräuel der Fleischindustrie gelegentlich Fleisch esse, weil es mir schmeckt, kann ich mich nicht vollends vom Reisemythos lösen. Zu verheißungsvoll ist die Aussicht, bei Unzufriedenheit über das alltägliche Leben durch eine so simple Veränderung wie einen Ortswechsel auch die Psyche einem Tapetenwechsel unterziehen zu können und den Begrenzungen des eigenen Charakters entfliehen zu können. So halfen mir Gedanken an Zitrusfrüchte und Häuser mit Patina über pandemiebedingte Ermattung und Weltschmerz hinweg. Sie hatten eine alte Bekannte im Schlepptau: Die Sehnsucht, anderswo dem Anderen zu begegnen und eine Andere sein zu können. Und ich wandte mich nicht ganz von ihr ab. Der Mythos des Reisens bleibt dann doch verführerisch. Und gebrochene Versprechen werden ihm sogar verziehen.