Remme: Graf Lambsdorff, markige Sprüche von Herrn Möllemann, die gibt es schon seit vielen Jahren. Und Guido Westerwelle ist ja auch schon länger für fast jeden Scherz zu haben, wenn er nur Schlagzeilen bringt. Wie erklären Sie sich die derart positive Entwicklung Ihrer Partei in den vergangenen zwölf Monaten?
Graf Lambsdorff: Das hat nun sicherlich mit dem Personal etwas zu tun; wir haben eine erstklassige Parteiführung, wir haben eine geschlossene Partei, was sowohl Personen wie Sachen angeht - es gibt keine irgendwie tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten. Meinungsunterschiede in einer liberalen Partei sind etwas ganz Selbstverständliches, aber sie werden intern ausgetragen und nicht auf dem offenen Markt. Und es ist ja nicht nur das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt, das so hervorragend war, sondern auch die davor liegenden Landtagswahlen, die gezeigt haben: Die FDP ist wieder da. Wenn die FDP ihre Positionen inhaltlich richtig und in der Darbietung geschickt vertritt, dann hat sie Zuspruch beim Wähler und kann durchaus mit Erfolgen rechnen. Und so gehen wir auch ganz selbstbewusst auf die Bundestagswahl zu.
Remme: Als Jürgen Möllemann das 'Projekt 18' lostrat, da sprachen selbst FDP-Politiker wie Walter Döring von 'Größenwahn'. Was haben Sie denn damals gedacht?
Graf Lambsdorff: Nein, ich habe nicht von Größenwahn gesprochen. Ich habe ja immer im Kopf gehabt, wie das Projekt 8 in Nordrhein-Westfalen bei der Landtagswahl am Schluss mit 9,8 Prozent im Wahlergebnis endete. Also, die Taktik, mit dem 'Projekt 18' in einen Wahlkampf zu gehen und sich ein hohes Ziel zu setzen, obwohl auch zu wissen, dass man es nur sehr schwer erreichen kann, die habe ich nicht beanstandet. Und es hat sich ja auch herausgestellt, dass das Projekt 18 inzwischen auf einer Erfolgsschiene angelangt ist.
Remme: Und ist die Nominierung eines Kanzlerkandidaten lediglich die logische Verlängerung dieser Linie? Graf Lambsdorff: Nein, das ist sie nicht. Das haben wir ja vor einem Jahr ja auf dem Bundesparteitag in Düsseldorf diskutiert. Damals hatte Guido Westerwelle klar und eindeutig sich dagegen ausgesprochen - aber man muss auch nicht um den heißen Brei herumreden. Die Situation hat sich insoweit verändert, als damals klar war, dass wenn es einen Kanzlerkandidaten gebe, dass Jürgen Möllemann die Absicht hatte, er wolle das werden, und Guido Westerwelle das selbstverständlich oder verständlicherweise nicht wollte. Jetzt gibt es überhaupt keine Diskussion darüber, niemand stellt die Frage überhaupt noch: Wenn es einen Kanzlerkandidaten hier auf dem Bundesparteitag in Mannheim geben sollte, dann kann der nur Guido Westerwelle heißen. Und insofern hat sich die Lage denn doch schon gegenüber dem Zustand von vor einem Jahr geändert.
Remme: Sollte es ihn geben, Graf Lambsdorff?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, darüber kann man diskutieren. Ich bin eher skeptisch - wie andere auch. Ich glaube, dass die Argumente, die vor einem Jahr vorgebracht worden sind - unabhängig von den Personen, die damit verbunden wurden -, nach wie vor gültig sind . . .
Remme: . . . nämlich welche? . . .
Graf Lambsdorff: . . . dass man, wenn man - wie Guido Westerwelle damals richtig gesagt hat - die Schraube um eine Drehung zu weit dreht, dass dann das Gewinde brechen kann, dass das vielleicht zu viel des Guten sein könnte. Aber kriegsentscheidend ist diese Frage in meinen Augen weder in der einen Richtung noch in der anderen Richtung.
Remme: Ist denn diese Kanzlerkandidatur, selbst wenn sie zustande kommt, mehr als ein PR-Werkzeug?
Graf Lambsdorff: Das ist sie schon, weil sie klarzumachen versucht, dass wir auf gleicher Augenhöhe - die FDP auf gleicher Augenhöhe mit CDU und SPD - in diesen Wahlkampf ziehen. Es ist ja auch dadurch verstärkt worden - die Argumentation zugunsten - oder für - einen Kanzlerkandidaten, verstärkt worden dadurch, dass die Herren Schröder und Stoiber sich im Zweierduell sich im Fernsehen treffen wollen. Ich will einmal daran erinnern, dass Hans-Dietrich Genscher und ich unseren früheren Koalitionspartnern das immer strikt verweigert haben, immer darauf gedrängt haben: Das kommt nicht infrage. Es gibt bei uns keinen Präsidentschafts- oder Kanzlerwahlkampf. Wir haben hier einen Wahlkampf, in dem Parteien und Programme antreten. Und wer diesen Wahlkampf verfälscht, der wird mit dem Koalitionspartner FDP gewaltigen Ärger bekommen. Das haben wir Helmut Schmidt beigebracht, und das haben wir Helmut Kohl beigebracht. Die Grünen sind natürlich nicht in der Lage bei ihrer Schwäche, das dem Bundeskanzler Schröder beizubringen, und deswegen kommt es zu diesem Zweierduell. Und dann kann man schon darüber nachdenken, ob die FDP dann nicht sagen muss: 'Also, wenn diese - zwar nicht richtige - Wahlkampfdarstellung hier bevorzugt wird und dieses Bild geboten wird, dann werden wir jedenfalls versuchen, dabei zu sein'.
Remme: So richtig klar ist mir Ihre Meinung noch nicht geworden in Sachen Kanzlerkandidatur und auch Beteiligung an einem Fernsehdiskussionsduo.
Graf Lambsdorff: Also, eine Beteiligung an einer Fernsehdiskussion halte ich für absolut richtig und notwendig. Dann muss es im Grunde eine Diskussion der Parteivorsitzenden sein, das ist ja früher auch so gelaufen. Denn darum geht es: Es treten Parteien in diesem Wahlkampf an. Diese Parteien werden durch Personen repräsentiert, das ist richtig. Aber hier wird niemand mit seiner Stimme unmittelbar und direkt einen Bundeskanzler wählen können; er kann nur eine Partei wählen. Und im Zweifel müssen es sogar zwei Parteien sein, die hinterher dann einen Bundeskanzler wählen. Und insofern sind diese Fernsehauftritte in meinen Augen ein Beitrag dazu, die politische Lage zu verunklaren und dem Bürger gegenüber zu verfälschen. Aber wenn es denn nun so ist, und da läuft ja die Entwicklung hin, dann halte ich es schon für durchaus diskutabel, dass die FDP sich überlegt, hier - wie gesagt - auf gleicher Augenhöhe anzutreten.
Remme: Graf Lambsdorff, egal ob im Fallschirm oder im 'Guidomobil' - Hauptsache schrill scheint die Devise zu sein. Nimmt diese Spaßmentalität überhand? Graf Lambsdorf: Ja, man muss aufpassen, ich werde das heute auch in meiner Rede mit ein paar Anmerkungen sagen. Man muss aufpassen, dass die Darstellung 'Politik soll Spaß machen' - das ist völlig richtig, immer nur mit Bierernst und sauertöpfischer Mine kann man Politik nicht betreiben. Das haben wir auch früher gesagt. Diese Art der Darbietung, die heute notwendig ist und die heute richtig ist, gegen die habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Aber die Substanz und der Inhalt darf dabei nicht zu kurz kommen. Das muss in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Darum wird es auch auf diesem Parteitag gehen. Da gibt es viele Stimmen in der Partei, die dieses Thema durchaus mit einigem Stirnrunzeln ansehen.
Remme: Und sehen Sie da die Grenzen in Gefahr?
Graf Lambsdorff: Die können in Gefahr sein. Aber die Führung der Partei, und ich glaube auch, alle Verantwortlichen sind klug genug, diese Grenzen nicht zu überschreiten, sondern sie eher etwas zurückzunehmen.
Remme: Graf Lambsdorff, Sie waren einmal Bundeswirtschaftsminister. Gerhard Schröder hat vor der letzten Wahl deutliche Erfolge auf dem Arbeitsmarkt versprochen. Er hat konkrete Ziele gesetzt, die nicht annähernd erreicht wurden. Hat Schröder damals Unhaltbares versprochen, oder lassen Sie angesichts der Weltkonjunktur mildernde Umstände gelten?
Graf Lambsdorff: Nein, er hat nichts Unhaltbares versprochen, aber nicht das getan, was dafür notwendig wäre. Und die Weltkonjunktur lasse ich als Entschuldigung überhaupt nicht gelten. Die Weltkonjunktur kann doch keine Entschuldigung dafür sein, dass Deutschland in vielen volkswirtschaftlichen Kennzeichen das Schlusslicht in Europa ist. Wir haben auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik und der Arbeitsmarktpolitik rundum versagt. Und das ist die Verantwortung dieser Bundesregierung und nicht die Weltkonjunktur oder sonst irgendein böses Ereignis. Wir haben selber nicht das getan, was notwendig ist. Wir haben vor allem die Arbeitsmärkte nicht flexibilisiert und dereguliert, und das ist uns von allen Enden und Wänden immer wieder angeraten worden. Wir haben das Gegenteil getan. Es sind neue Regelungen in den Arbeitsmarkt eingeführt worden. Der Arbeitsmarkt ist nicht flexibler, er ist unbeweglicher gemacht worden, und das sieht man dann jeden Monat bei der Bekanntgabe der Arbeitslosenzahlen.
Remme: Die Partei wird in Mannheim auch das Wahlprogramm verabschieden - die entsprechenden Teile. Was werden Sie auf dem Arbeitsmarkt bewirken können, wenn es denn dazu kommt?
Graf Lambsdorff: Nun, man kann auf dem Arbeitsmarkt eine ganze Menge bewirken. Sie haben das ja gesehen, als der neue Chef der Bundesanstalt für Arbeit in der Person von Herrn Gerster angetreten ist und seine Vorschläge gemacht hat, die sich sehr weit mit der Vorstellung deckten, die jedenfalls ich für richtig halte und die Sie auch im FDP-Programm finden, hat es sofort Gegenwind von den Gewerkschaften und auch von der sozialdemokratischen Partei gegeben. Aber das ist schon richtig. Nur, wenn man das 630-Mark-Gesetz abschafft, wenn man aus Selbständige Scheinselbständige macht, wenn man völlig unnötige erweiterte Mitbestimmung in den kleinen und mittleren Betrieben einführt und wenn man dieses entsetzliche Tarifkartell mit Klauen und Zähnen verteidigt, obwohl es doch längst in der Wirtschaft unterlaufen wird, dann kommen wir nicht von dieser Arbeitslosigkeit und insbesondere nicht von dieser schrecklichen Langzeitarbeitslosigkeit herunter. Und das ist ein ganz schlimmes Thema. Wir haben uns schließlich langsam daran gewöhnt: Ja, wir haben die Arbeitslosen, diese 10 Prozent. Nun ja, dann haben ja 90 Prozent wirklich Arbeit und die 10 Prozent bezahlen wir gut und sorgen dafür, dass sie ordentliche Arbeitslosenunterstützung bekommen. Aber keiner denkt mal daran - oder wenige denken daran, was das eigentlich auch für das soziale Prestige von Vätern bedeutet, wenn sie zu Hause sitzen und ihre Kinder sehen, dass sie nicht zur Arbeit gehen, weil sie keine Arbeit haben, und dass man bei Langzeitarbeitslosigkeit schließlich auch die Qualifikation verliert und nicht mehr lernen kann und nicht mehr lernen will. Das ist alles ein schreckliches Thema, und ich finde, dass die Bundesregierung und ihre jetzige Politik - die frühere hat auch dazu beigetragen, das will ich gar nicht bestreiten -, aber dass die Bundesregierung mit ihrer jetzigen Politik wirklich schandbar wenig getan hat, um dieses Problem auch nur annähernd in den Griff zu bekommen.
Remme: Graf Lambsdorff, Ihre Partei will nach der nächsten Wahl mitregieren, ob mit der Union oder der SPD, da will sie sich nicht festlegen. Bei wem entdecken Sie zur Zeit inhaltlich größere Gemeinsamkeiten?
Graf Lambsdorff: Wenn ich mir die wirtschaftspolitische Sache ansehe, dann sieht das im Augenblick vielleicht bei der Union etwas näher an FDP-Positionen aus als bei der SPD. Aber ich muss schon sagen: Von irgendwelchen klaren, kantigen Aussagen des Herrn Stoiber, die er angekündigt hat, ist bisher herzlich wenig übrig geblieben. Das sieht alles so glattgeschliffen aus, dass ich die steuerlichen Vorschläge zum Beispiel von SPD und CDU noch kaum auseinanderhalten kann.
Remme: 'Äquidistanz' ist also das Wort der Stunde?
Graf Lambsdorff: Äquidistanz für die FDP heißt: Nicht aus Distanz zu dem einen oder anderen gucken, sondern nach vorne sehen und eigene Positionen vertreten. Und dann werden wir am 22. September abends sehen, mit wem man am besten und am meisten von liberalen Positionen durchsetzen kann.
Remme: Otto Graf Lambsdorff, der Ehrenvorsitzende der FDP. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Graf Lambsdorff: Ich danke sehr.
Link: Interview als RealAudio