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Die Frucht des Zorns

Was tun mit dem Wutbürger? Philosoph Peter Sloterdijk und Ästhetik-Professor Bazon Brock sammeln in ihrem Buch "Der Profi-Bürger" Essays zu den fünf Hauptkompetenzen, die der Bürger unserer Tage erlangen muss, um aus seiner Unmündigkeit herauszutreten.

Von Matthias Eckoldt | 15.12.2011
    "Der Profi-Bürger" - ein Buch, das zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Denn es stellt sich die Frage, was aus dem enormen Wut-Potenzial wird, das sich bei "Stuttgart 21" ebenso artikuliert hat wie in der Occupy-Bewegung. Die Option der intellektuellen Schwergewichte und Herausgeber Peter Sloterdijk und Bazon Brock ist klar: Die Wut kann als Antrieb dienen, Mut zu machen. Aus dem Wut-Bürger soll der Mut-Bürger werden, dem es gelingt, jene Dinge, die ihn betreffen, auch selbst zu verhandeln.

    Das Problem der Gegenwart ist nicht die Verteilung des Reichtums, sondern das Verhältnis der Entscheidungsbefähigung zur Entscheidungsbefugnis.

    … heißt es im Vorwort des schmalen Büchleins. Das darin verhandelte Stufenprogramm für eine neue Autonomie des Bürgers wird bereits im dritten Semester an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe praktiziert:

    "Wir haben sozusagen Hauptfächer des Lebens gebildet. Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch Patient ist, Konsument ist, dass jeder Mensch politisch berührt ist als Bürger, Glaubensfragen stellt und Leser ist oder Rezipient. Und diese fünf Primärqualitäten werden in Fächers abgebildet, und in diesen Fächern werden Qualifikationen zu Tendenzen hinzugeliefert."

    Der Philosoph Peter Sloterdijk hat seine institutionelle Macht als Rektor der Hochschule genutzt, um die Universität für alle Interessierten zu öffnen. Das Buch "Der Profi-Bürger" versammelt Essays zu den fünf Hauptkompetenzen, die der Bürger unserer Tage erlangen muss, um aus seiner – durch wen auch immer – verschuldeten Unmündigkeit herauszutreten. So plädiert der Mediziner Markus Gantzen für ein neues Selbstverständnis des Patienten. Der soll sich nicht länger als Objekt wissenschaftlichen Interesses und als Opfer medizinischer Routinen begreifen, sondern auf ein neues Arzt-Patient-Verhältnis drängen. Der Mediziner wird vom selbstbewussten Patienten nicht mehr als Gott in Weiß angesehen, sondern als Kurator, als eine Art Berater, der über Risiken und Nebenwirkungen verschiedener Handlungsmöglichkeiten aufklärt, den Heilungsprozess selbst jedoch als die Sache des Patienten ansieht und auf diesem Weg begleitend Hilfe zur Selbsthilfe anbietet.

    Der emeritierte Ästhetik-Professor Bazon Brock ist spiritus rector der Bemühungen um den Profi-Bürger. Vor dem Hintergrund seines Faches stellt er die Frage:

    Wo lernen wir als Publikum, dem Komponistenwerk, der Skulptur. Dem Gemälde oder dem Epos gerecht zu werden? Längst ist es an der Zeit, das Publikum genau so zu professionalisieren, wie wir das bisher an den Lehrstätten aller Sparten den Künstlern abverlangen!

    Bazon Brock skizziert seine Idee einer Besucherschule, in der die Bürger Anregungen bekommen, wie man in einer Ausstellung der Differenz zwischen Gezeigtem und nicht Gezeigtem inne wird oder auf welche Weise man sich der Frage nähern kann, was die Autonomiebehauptung des Künstlers für Nicht-Künstler bedeuten könnte. Brock setzt da an, wo die nassforschen Ausrufe in Ausstellungen moderner Kunst nach dem Motto: "Das kann mein zweijähriges Kind auch!" aufhören und gibt den Profi-Bürgern das Rüstzeug eines Rezipienten mit, der weiß, dass sich die wirklich spannenden Welten erst erschließen, wenn man ihnen auf Augenhöhe begegnet.

    Der schillerndste Essay in dem Band "Der Profi-Bürger" stammt aus der Feder von Peter Sloterdijk. Der Philosoph analysiert schonungslos die systematische Entpolitisierung unserer Tage, die er Bürgerausschaltung nennt:

    In der repräsentativen Demokratie werden Bürger als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken.

    Dass diese Form der Bürgerausschaltung jedoch ein Spiel mit dem Feuer ist, da sie jederzeit in aufrührerischen Zorn umkippen kann, demonstriert Sloterdijk durch einen historischen Exkurs zum Initiationspunkt moderner Bürgerdemokratie aus dem Geiste der Empörung. Der Philosoph führt den Leser ins Jahr 509 vor Christus zurück, als sich in Rom die Massen erhoben, nachdem der etruskische Herrscher die schöne Lucretia vergewaltigte.

    Aus der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Gemeinwesenlenkung wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten Verwechslung von Amt und Person vor. Für immer bleibt die königliche Superbia verbannt. Was man später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen des Bürgerzorns.

    Sloterdijk befragt die Ur-Situation demokratischer Verfasstheit nach ihrem Erklärungspotenzial in unseren Tagen und kommt zu dem Schluss, dass die Bürger immer mehr Gründe finden, sich den Anmaßungen der Herrschenden entgegen zu stellen, auch wenn oder gerade weil diese Anmaßungen nicht wie zu Zeiten Lucretias personifiziert sind, sondern sich als Sachzwanglogiken anonymisieren.

    Durch Sloterdijks Essay bekommt das Buch "Der Profi-Bürger" eine eminent zeitdiagnostische Dimension, da die Schlussfolgerung auf der Hand liegt, dass die manifeste Wut vieler Bürger neue Formen politischer Teilhabe entstehen lässt. Der Kantersieg der Piratenpartei bei den Berliner Landtagswahlen ist als ein erster Beleg für diese These zu sehen. Die Bürger professionalisieren sich, indem sie sich die Regelung ihrer Angelegenheiten nicht mehr aus der Hand nehmen lassen. Für alle, die in Baden-Württemberg wohnen, gibt die Bürgerschule an der Universität Karlsruhe wertvolle Begleitung, allen anderen bietet das Buch "Der Profi-Bürger" spannende Anregungen, wie ein neues politisch-soziales, aber auch musisches Selbstbewusstsein als Frucht des Zorns wachsen kann.

    Bazon Brock und Peter Sloterdijk (Hrsg.): Der Profi-Bürger
    Wilhelm Fink Verlag
    109 Seiten, 14,90 Euro