Mittwoch, 08. Mai 2024

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Die Gans und die Literatur

Gänse bevölkern unser Land. Im Marsch erobern sie Backöfen, Weihnachtsmärkte, Speisekarten landauf, landab. Millionenfaches Federvieh, austauschbar, jede sieht aus wie die andere, mal vier mal fünf Kilo schwer, alle gleich gefüllt, Majoran und Beifuss, die Gänse unserer satten Jahre. An jedem Abend, lange vor dem heiligen, fauchen sie verzweifelt um persönliche Anerkennung, und siehe da, es wird neuerdings wieder geschrieben mit dem Federkiel.

21.12.2011
    Die deutsche Literatur in diesem Jahr ist auf die Gans gekommen, die einzelne, die frei laufende, bis zur Erfüllung ihres köstlichen Schicksals. Die Literatur 2011 steht ganz im Zeichen der Gans. Hier hat sie ihre Individualität und Würde zurück gewonnen. Die Auferstehung der vereinzelten, in ihrer Einzigartigkeit aufleuchtende Gans geschieht aus dem Geiste der melancholischen Beschwörung. Die Gans - ein Höhepunkt des Lebens. Die Inkarnation von Sehnsucht. Es gibt sie nur einmal im Jahr. Auf dem Teller. Zu Weihnachten. Die Erfüllung ihres Schicksals als Einzelkämpfer, herbei gesehnt und einverliebt von Einzelkämpfern. Aber diese Gans gibt es nur in der Erinnerung. Keine Erinnerungsarbeit ohne Gans auf dem Teller.

    Sie erinnern sich: In Peter Wawerzineks autobiografischem Roman "Rabenliebe" zieht der verlockende, künftige Freiheit verheißende Duft einer gebratenen Gans bis hoch in die engen Stuben der Waisenkinder. Die Gans beschert dem Rabenkind ein Glückserlebnis. Die Einverleibung des Bratens ist wie die Einverleibung eines der gelesenen Märchen heimlich unter der Decke. Bei Keto von Waberer, in ihrer Erinnerungsprosa "Seltsame Vögel", hat die Gans sogar einen Namen. Uschi heißt sie. Sie ist nicht nur eine Weihnachts-, sondern auch Hausgans, die "Herrin des Gartens" mithin und . . . Liebhaberin in einer Person. "Meine Mutter legt sich, wenn sie Zeit hat, zu Uschi ins Gras, und die schmiegt sich an sie und pickt mit zärtlichem Gurren in ihren Haaren herum, ohne auch nur eines auszureißen." - Wie sehr Eros und Thanatos in guter Literatur zusammen gehören, lesen wir dreißig Zeilen später: "Zu Weihnachten gibt es wie jedes Jahr eine gebratene Gans. Keiner von uns wagt, einen Scherz zu machen."

    Mit dem Trostbedürfnis kommt die Erinnerung. Mit der Erinnerung der Trost. In Eugen Ruges Bestseller "In Zeit des abnehmenden Lichts" ist es eine über mehr als zehn Seiten hinweg äußerst detailliert beschriebene Zubereitung eines besonders knusprigen Exemplars, das den Autor den grauen Alltag im Sozialismus ertragen lässt. Und ihm überdies dabei hilft, eine neues Nationalgefühl zu entwickeln: "Irina schnitt die Innereien in Portionshäppchen, würzte sie kräftig mit Pfeffer, warf sie in eine Pfanne mit heißem Kokosfett und ließ sie auf kleiner Flamme brutzeln, während sie den Bratenfonds vorbereitete, das Eigentliche, Wichtigste an der Klostergans: ein Gemisch aus Kognak, Honig und Rotwein, das der Gans eine süße, halb aus Honig, halb aus Fruchtzucker bestehende, pechschwarze Kruste verlieh. - Abgesehen von der burgundischen Gans war die Küche am Weihnachtstag deutsch: Rotkohl, Grünkohl, Thüringer Klöße."

    Nein, mit Kohl und Klößen gibt sich die deutsche Literatur der Gegenwart nicht mehr zufrieden. Die Gans ist das Zentrum einer neuen Prosa der Erinnerung. Man mag noch so heftig gegen diesen Trend zetern - es ist gut, dass es sie gibt: die Erinnerungsliteratur und die Gans. Sie gehören zusammen wir Herd und Backofen, Beifuss und Majoran. Die Auferstehung deutscher Erinnerungsliteratur im Namen der Gans, der Ausbruch aus dem Geschnatter gegenwartsvernarrter Prosa-Schnell-Gerichte ist zu feiern. In der Vergegenwärtigung unserer Erinnerungen liegt die Würze unserer Literatur. Ohne die Gänse von damals ist die deutsche Gegenwartsliteratur bloß ein unübersichtlicher Weihnachtsmarkt. Die Gans ist die Anführerin aus dem Ausweg der Literatur aus der Fast-Food-Küche.