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Die Gegenwart der Aufklärung

Wer ist dieses "Ich", das sich seines eigenen Verstandes bedient? Über diese Frage verteidigte der Marburger Philosoph Peter Janich seine Disziplin bei einem Berliner Symposium entschieden gegen die naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze des Hirnforschers Gerhard Roth.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Wie aufgeklärt sind wir? Das schiere Informationsvolumen, das uns in vielen Teilen der Welt zur Verfügung steht, oder die Neurowissenschaft, die heute sogar den menschlichen Geist erklären will, lassen vermuten, dass wir in der liberal-demokratischen Wissensgesellschaft mehr denn je aufgeklärt und Herr unserer eigenen Vernunft sind. Aber auch in dieser Weltanschauung, die zunehmend durch die Wissenschaft anstatt durch Religion oder Tradition beglaubigt wird, stellt sich die Frage nach dem Individuum. Wer ist dieses "Ich", das sich seines eigenen Verstandes bedient? Über diese Frage verteidigte der Marburger Philosoph Peter Janich seine Disziplin entschieden gegen die naturwissenschaftlichen Erklärungsansätze des Hirnforschers Gerhard Roth.

    "Kinder lernen "ich" sagen vor allem, wenn sie sagen wollen: "Das kann ich selber!" Das Ich-Bewusstsein und das Bewusstsein der eigenen Autorenurheberschaft ist etwas, das ganz am Anfang in unserem persönlichen Erleben in unserer Sprach- und Handlungsgemeinschaft eine entscheidende Rolle spielt. Dass das Hirn daran beteiligt ist, bestreitet niemand. Aber der Ursprung ist nicht das Hirn, sondern die soziale Praxis. Und da scheinen Sie mir das Prinzip "nichts ohne Hirn", dem ich zustimme, ausgedehnt zu haben auf das Prinzip "nichts als Hirn". Und das ist, meine ich, nicht Aufklärung durch Naturwissenschaft."

    Wer dieses "Ich", den sich selbst und seine Vernunft erkennenden Menschen identifizieren oder gar verstehen wolle, so konterte der Neurowissenschaftler Gerhard Roth, müsse aber eben doch auf die Empirie der Naturwissenschaften zurückgreifen. Der einzige Konsens zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse sei immerhin, dass ein Großteil der Selbsterkenntnis des Patienten über die Bindung zum Therapeuten vonstatten gehe.

    "Was ist Bindung? Da kann ich den Koffer aufmachen und sagen: Das wissen wir, was im Gehirn vor sich geht, wenn der Patient sich plötzlich aufgehoben fühlt. Da blühen die endogenen Endorphine, da blüht das Oxytocin. Das nur als Beispiel, dass man auf der einen Seite bescheiden sein muss, auf der anderen Seite aber Erklärungsmodelle oder Neuropharmakologie liefern kann, die die anderen Wissenschaften nicht liefern können."

    Die Neurologie, so Gerhard Roth, könne zwar nicht klären, was der Geist und die Vernunft des Menschen seien. Wohl aber könnten die Mechanismen, die zu bestimmten menschlichen Reaktionen führten, zusehends naturwissenschaftlich erklärt werden. Wenn also schon die Begriffe Geist und Selbsterkenntnis heute mehr denn je wissenschaftlich umstritten sind, dann muss die Frage nach der eigenständigen Analyse und Bewertung von Wissen folgerichtig noch behutsamer beantwortet werden. Das tat auf dem Berliner Symposium Jürgen Kaube, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bei der Diskussion zur Rolle der Medien in der aufgeklärten Gesellschaft.

    "Der Bürger als jemand, der verzweifelt auf der Suche nach politischer Information ist, um dann eine gute Wahlentscheidung zu treffen - den sehe ich so erst einmal gar nicht. Weil diese Wahlentscheidung - man kann da ja so ein Kreuzchen machen - das ist gleich viel wert, ob jemand das uninformiert macht oder informiert. Er kann sich vielleicht einen Eindruck verschaffen. Aber ich würde Zeitungslektüre nicht primär als Vorbereitung von staatsbürgerlichem Handeln sehen, sondern mehr als Erschließung von dem, was es in der Welt so überhaupt gibt."

    Natürlich unterliefen Medien durch Zuspitzung immer wieder den Gedanken der wissenschaftlichen Aufklärung, so Jürgen Kaube. Den Grad der Übertreibung entschieden die Redaktionen von FAZ bis hin zur Bildzeitung dabei aber selbst. Heute wird nicht nur Empörung inszeniert. Menschen werden auch immer leichter an den öffentlichen Pranger gestellt und mit puren Behauptungen zugrunde gerichtet. Im Gespräch über das aufklärerische Potenzial der elektronischen Medien mahnte der Berliner Historiker und Internetpionier Horst Bredekamp mit Blick auf Google "das Recht auf Vergessen" an.

    Die "weltgeschichtliche Wende" Internet hinzunehmen, ohne steuernde Regeln zu etablieren, sowie Würde und Freiheitsrechte des Einzelnen zu schützen laufe dem Kantschen Gedanken der Aufklärung als Gegenpol einer willkürlichen Autorität zuwider, so Bredekamp. Er bezog sich damit als einer der wenigen Diskutanten direkt auf die geistige Tradition der Aufklärung. Keine der beim Symposium präsenten Disziplinen konnte derweil nur entfernt von sich behaupten, allein das Erbe der Aufklärung in die moderne Gesellschaft zu tragen. Die freie Argumentation zwischen den Fächern und die rege Beteiligung des Publikums in der Akademie waren hier noch die eindeutigste Referenz an den Geist der Aufklärung.