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Die Geschichte von größeren Gebieten und deren Wechselwirkungen

Im S. Fischer Verlag wird die traditionsreiche Weltgeschichte neu herausgegeben. Insgesamt 21 Bände sollen es am Ende werden. Drei der ersten, Ende September erschienenen Bände über "Europa in der frühen Neuzeit", "Zentralasien" und "Südasien" in der Rezension.

Von Tillmann Bendikowski | 22.10.2012
    In den 1970er und 80er-Jahren war sie das Maß aller Dinge: die "Fischer Weltgeschichte". Von führenden Vertretern der Historikerzunft verfasst, wurden die Taschenbücher mit den schier unglaublich eng bedruckten Seiten zu unverzichtbaren Begleitern in Schule und Studium. Inzwischen sind die 36 Bände allerdings in Teilen überholt. Deshalb haben sich der Verlag S. Fischer und die Historiker Jörg Fisch, Wilfried Nippel und Wolfgang Schwentker für einen Neuentwurf entschieden – die "Neue Fischer Weltgeschichte" soll es nun sein. Nur, so fragen sich die Herausgeber, was kann sie heute noch sein?

    Was ist Weltgeschichte? Die Rede von ihr führt die Idee einer Totalität mit sich, einer Totalität des Raumes und der Zeit, des Geschehens und der Erfahrung, des Handelns und des Erleidens. Doch so notwendig die Vorstellung eines Ganzen im Ablauf der Zeit als regulative Idee der Weltgeschichte ist, so wenig kann der Mensch eine solche Gesamtheit empirisch erfassen.

    Die Herausgeber wollen kleinere Brötchen backen. Sollte die Vorgängerreihe noch zeigen, "wie die Menschheit in ihrer Geschichte zu Selbstbewusstsein erwacht" ist, wollen Fisch, Nippel und Schwentker nun nicht mehr von einem einlinigen Fortschrittsprozess sprechen, sondern von einem, so heißt es, "polyphonen Geschehen". Für die insgesamt geplanten 21 Bände – diesmal gebundene Exemplare – wird der Globus in vergleichsweise überschaubare Regionen aufgeteilt. In den einzelnen Darstellungen wird nicht die Geschichte von Ländern geschrieben, sondern die von größeren Gebieten und den Wechselwirkungen zwischen ihnen. Einige Regionen sind indes stärker vertreten – Europa gleich mit mehreren Bänden.

    In solchen Schwerpunktsetzungen liegt einerseits das Eingeständnis eines Eurozentrismus, in dessen Tradition diese Weltgeschichte steht, ob sie will oder nicht, und andererseits der Ansporn für seine Überwindung in einer konsequenten systematischen Gleichbehandlung der verschiedenen Räume.

    Die ersten drei Bände dieses Neuversuchs liegen jetzt vor. Da ist zunächst die Darstellung von Robert von Friedeburg über "Europa in der frühen Neuzeit". Er beschreibt darin die Strukturen des spätmittelalterlichen Europas, ehe er sich der Reformation und Konfessionalisierung des 16. Jahrhunderts zuwendet, dann der von ihm so bezeichneten "europäischen Integration" des 17. Jahrhunderts und schließlich dem 18. Jahrhundert, das er durch Aufklärung und – schön formuliert – "Länderschacher" geprägt sieht. Das ist alles sehr klar erzählt, gut strukturiert und – wenngleich durchaus engagiert vorgetragen – in einem wohltuenden Maße unaufgeregt. Ein solides Handbuch.

    Ähnlich Lobendes lässt sich über den Band des britischen Historikers David Arnold sagen, der sich seit Langem mit der Geschichte Indiens beschäftigt. Er betreibt auf über 600 Seiten zugleich eine Rehabilitierung einer Weltregion, die zu lange unter europäischer Geringschätzung gelitten hat:

    Die Globalisierung ist für Südasien nichts Neues. Diese Geschichte gab es dort schon lange: in der Ausbreitung des Buddhismus, in den Netzwerken des indischen Überseehandels, im Ehrgeiz der Moguln, das "Licht der Welt" zu sein, im weltweiten Einsatz indischer Soldaten und Händler, Kulis und Kanzlisten während der Kolonialzeit, in Nehrus Politik der Blockfreiheit. Doch in einem Zeitalter der massenhaften Migration und des kulturellen Pluralismus, des transkontinentalen Tourismus und der Weitergabe von Atomwaffen hat Südasien eine neue und höhere Stellung im Bewusstsein der Welt erlangt. Dieser Subkontinent hat seinen eigenen Beitrag zu allen Bereichen unserer Moderne geleistet.

    Es ist beeindruckend, wie souverän David Arnold für seinen Band einen Zeitraum von mehr als 4000 Jahren überblickt: Von der frühen Zivilisation am Indus über die Geburt des Buddhismus, die Anfänge der Großreiche, den Aufstieg der Moguln über die Kolonialzeit bis in unsere Zeit. Er tut dies souverän, kenntnisreich und absolut gekonnt in der Erzählung.

    Auch der dritte Band, Jürgen Pauls Darstellung "Zentralasien", ist ein gelungenes Stück Weltgeschichtsschreibung: Er führt den Leser durch eine kulturelle Großregion, die wie viele andere keine natürlichen Grenzen kennt. Und es gelingt ihm, eine weitgehend zusammenhängende Geschichte eines allzu oft unübersichtlich wirkenden Raumes zu geben – das ist keine geringe Leistung.

    Die Neuauflage der Fischer Weltgeschichte scheint auf gutem Wege. Die ersten drei Bände machen fraglos Appetit auf mehr – in jährlichem Abstand sollen weitere Bände erscheinen. Ob sie ähnlichen Erfolg haben werden wie ihre Vorgänger, ist selbstverständlich noch offen. Aber es ist ihnen zu wünschen.


    Jörg Fisch, Wilfried Nippel und Wolfgang Schwentker (Hg.): Neue Fischer Weltgeschichte
    S. Fischer Verlag

    Robert von Friedeburg (Band 5): Europa in der frühen Neuzeit
    464 Seiten, 29, 99 Euro
    ISBN: 978-3-100-10623-0

    Jürgen Paul (Band 10): Zentralasien
    576 Seiten, 29, 99 Euro
    ISBN: 978-3-100-10840-1

    David Arnold (Band 11): Südasien
    608 Seiten, 29, 99 Euro
    ISBN: 978-3-100-10841-8