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Die Gesundheitsreform "ist ein Jahrhundertwerk"

"Das Thema Gesundheitsreform, wird uns begleiten" bis die US-Wahlen stattfinden, meint der Sozialwissenschaftler Michael Werz vom Center of American Progress. Die positive Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zur Reform sei für Barack Obama ein wichtiger Etappensieg auch für eine Wiederwahl im November.

Michael Werz im Gespräch mit Petra Ensminger | 29.06.2012
    Christiane Kaess: Seit Monaten wurde auf dieses Urteil gewartet, der oberste Gerichtshof in den USA hat gestern den zentralen Teil der umstrittenen Gesundheitsreform von US-Präsident Barack Obama bestätigt und dem Staatschef damit wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl zu einem wichtigen Erfolg verholfen. Die Richter erhielten in ihrer Entscheidung die Vorschrift aufrecht, nach der die meisten US-Bürger eine Krankenversicherung haben müssen.

    Meine Kollegin Petra Ensminger hat gestern Abend mit Michael Werz gesprochen, er ist Sozialwissenschaftler am Center for American Progress. Sie ist davon ausgegangen, dass ihn das Urteil gefreut hat, und hat ihn zuerst gefragt, warum seiner Meinung nach die Gesundheitsreform von Bedeutung ist.

    Michael Werz: Die Gesundheitsreform ist für die Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung – aus verschiedenen Gründen. Zum einen gab es oder gibt es hier in den USA über 30 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner, die keinen Versicherungsschutz genießen – eine horrend hohe Zahl, die auch zur Belastung der Gesellschaft insgesamt wird. Diesen Leuten hat man jetzt eine klare Option gegeben, ab dem Jahr 2014 eine Versicherung zu bekommen, die auch bezahlbar ist. Und zum zweiten haben die USA mit etwas zeitlicher Verzögerung das gleiche Problem, wie die meisten europäischen Gesellschaften: es werden geburtenstarke Jahrgänge in das Rentenalter kommen innerhalb weniger Jahre und es muss eine starke finanzielle Grundlage geschaffen werden. Darum hat diese Gesundheitsreform auch das sehr umstrittene Mandat, dass alle jene, die Arbeit haben und es sich finanziell leisten können, in eine Pflichtversicherung eintreten müssen.

    Petra Ensminger: Wenn man das so hört, was Sie da gerade gesagt haben, dann hat man den Eindruck, diese Gesundheitsreform kommt möglicherweise ja schon viel zu spät. Ist das so?

    Werz: Sie kommt zu spät für diejenigen, die bisher keine Krankenversicherung hatten und darunter gelitten haben – entweder weil sie horrende Rechnungen selber privat bezahlen mussten, oder aber Krankenfürsorge nicht in Anspruch nehmen konnten. Aber es ist ein Jahrhundertwerk, ein politisches. Bill Clinton ist 1993 mit einem ähnlichen Versuch dramatisch gescheitert. Das wird eine der großen Errungenschaften sein, die man Barack Obama auch noch in vielen Jahrzehnten zugute schreiben wird.

    Ensminger: Viele Beobachter aber sind ja davon ausgegangen, dass das Gericht zumindest einen Teil für verfassungswidrig erklären würde – diesen Teil, wo es um den Zwang für die meisten Amerikaner geht, eine Versicherung abzuschließen. Das ist jetzt nicht geschehen. Haben die Richter Sie damit überrascht?

    Werz: Ja. Der Richterspruch hat fast alle politischen Beobachter und man kann auch sagen das Weiße Haus überrascht. Niemand wusste bis heute Morgen um kurz nach zehn, welches Urteil denn nun gefällt werden würde. Es war eine denkbar knappe Entscheidung, die mit 5:4 unter den obersten Richtern ausgegangen ist. Während der mündlichen Verhandlungen, die vor einigen Monaten stattgefunden haben, hatte sich der Eindruck gefestigt, dass es gerade an dieser Pflichtversicherung, an dem sogenannten "mandate", scheitern würde. Aber das ist nicht der Fall gewesen. Der konservative Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs hat sich auf die Seite der linksliberalen Richter geschlagen, hat dieses Mandat für verfassungskonform erklärt und damit Barack Obama einen wichtigen Etappensieg auch in der Wiederwahl im November beschert.

    Ensminger: Trotzdem will Obamas Herausforderer im Falle seines Sieges das Ganze kippen, weil das Reformwerk, so hat er heute gesagt, auch wenn es verfassungskonform ist, eben doch schlecht sei, ein Jobkiller. Da ist nichts dran Ihrer Meinung nach?

    Werz: Es gibt natürlich auch legitime Kritik. Man weiß nicht wie, wenn so ein Mammutgesetz, das über 2700 Seiten umfasst, umgesetzt wird, da sind natürlich Risiken enthalten. Für Mitt Romney ist die Situation eine ganz schwierige: Er hat als Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts eine fast identische Gesundheitsreform unter einer republikanischen Mehrheit durchgesetzt. Das war eine seiner Signaturen, die er hinterlassen hat in diesem Bundesstaat. Er ist aber jetzt aufgrund des Zustandes der konservativen Partei eingesperrt zwischen dem rechten Flügel der Tea Party und massiven Industrieinteressen, es ist ihm also nichts anderes übrig geblieben. Er hat sehr vollmundig erklärt, dass das seine erste Amtshandlung sein würde als Präsident im kommenden Jahr, würde er denn gewählt. Er hat dabei nicht erwähnt, dass er dafür erst einmal eine parlamentarische Mehrheit schaffen müsste und auch den Amerikanern erklären, dass viele populäre Teile dieser Gesundheitsreform dann wieder rückgängig gemacht werden müssten.

    Ensminger: Aber er hat sich damit natürlich klar positioniert, ein Wahlversprechen abgegeben, und man kann ja fast sagen, der politische Gegner hat jetzt von dem Urteil auch etwas, nämlich ein Wahlkampfthema. Wie werden denn die Republikaner das ausschlachten, was glauben Sie?

    Werz: Das ist absolut richtig. Das Thema Gesundheitsreform, das wird uns begleiten, bis die Wahlen in der ersten Novemberwoche stattfinden. Barack Obama hat kurz nach der Urteilsfindung in einer sehr staatsmännischen Rede gesagt, man solle doch jetzt den Konflikt hinter sich lassen und in die Zukunft blicken. Den Gefallen werden ihm die Republikaner nicht tun, die Argumente hier sind, das ist eigentlich eine Art von Steuererhöhung, indem man Leute in eine Pflichtversicherung zwingt, das zerstört Arbeitsplätze oder verhindert die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, und ein wichtiges Argument für den rechten Rand der Republikaner: die Bundesregierung, die ja immer als eine große Bedrohung der bürgerlichen und individuellen Freiheiten gesehen wird, engagiert sich viel zu stark in Dingen, die sie eigentlich nichts angehen. Das werden die drei zentralen Argumente sein. Auf der anderen Seite hat Barack Obama auch gute Argumente auf seiner Seite und kann durchaus gelassen in dieser Auseinandersetzung in den Wahlkampf gehen.

    Kaess: Michael Werz war das, er ist Sozialwissenschaftler am Center for American Progress, und gesprochen mit ihm hat meine Kollegin Petra Ensminger.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.