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Die große Enttäuschung nach Leipzig

In der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 sieht Andreas Platthaus, Autor und Literaturchef der "FAZ", eine Ursache für die beiden Weltkriege. Die Hoffnung auf bürgerliche Emanzipation in Europa sei enttäuscht worden, was zu einer Radikalisierung des Nationalgedankens geführt habe.

Andreas Platthaus im Gespräch mit Christoph Heinemann | 11.10.2013
    Christoph Heinemann: Nach dem Feldzug war vor der Schlacht. Aus Russland kehrte Napoleon Bonaparte mit einer Truppe zurück, die mit der Grande Armée nicht mehr viel zu tun hatte, mit der er die Memel Monate zuvor überschritten hatte. Rasch hob der Kaiser in Frankreich eine neue Armee aus: 18-Jährige waren diesmal dabei, unerfahrene Soldaten und auch unzuverlässige aus den Bündnisstaaten, die abermals Kontingente zur Verfügung stellen mussten. Schnelligkeit also vor Gründlichkeit. Ein Jahr nach Russland ist Napoleon bereits wieder in Deutschland. Sechs Monate tobte ein Bewegungskrieg in Sachsen, bevor es im Oktober in Leipzig zur entscheidenden Schlacht kommt. Napoleon trifft auf Russen und Preußen, später kommt Österreich hinzu. Der Kaiser hat Leipzig ausgewählt, eine reiche Stadt. Dort konnte Napoleon seine Truppen verpflegen lassen. Das ist die Ausgangslage für die sogenannte Völkerschlacht im Oktober 1813. 600.000 Soldaten stehen sich gegenüber, rund 100.000 werden die Tage von Leipzig nicht überleben.

    Vor dieser Sendung habe ich mit Andreas Platthaus gesprochen. Er ist Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und er hat gerade ein Buch vorgelegt mit dem Titel "1813 – Die Völkerschlacht und das Ende der Alten Welt". Und er schreibt darin:

    Napoleon brauchte militärische Erfolge, um den Makel des Parvenüs auf dem Thron zu kaschieren.

    Ich habe Andreas Platthaus gefragt, wie angeschlagen Napoleon durch den aus seiner Sicht gescheiterten Russland-Feldzug war.

    Andreas Platthaus: Das Problem war, dass es ja nicht nur aus seiner Sicht gescheitert war, sondern ganz Europa wusste, dass er da gescheitert ist. Und das Interessante ist, dass die ganze französische Propaganda schon während des russischen Feldzuges als auch danach, als überhaupt nicht mehr daran vorbeizukommen war, dass das ein Desaster gewesen ist, immer noch betont hat: Wir sind nie geschlagen worden. Wir haben zwar verloren, aber nicht in irgendeiner Schlacht, sondern wir wurden vom Winter besiegt und hinterhältig wurde gegen uns gekämpft, also im offenen Krieg sind wir unbesiegt und der ganze Nimbus unserer Unbesiegbarkeit ist makellos aus Russland zurückgekommen. Völliger Unsinn selbstverständlich und das wussten die Zeitgenossen auch. Aber man merkt daran, wie wichtig es für Napoleon gewesen ist, als Feldherren-Genie dazustehen und zu sagen, ich bin nur mit den allerübelsten Methoden und durch Wetterzufälligkeiten besiegt worden. Denn er wusste: Wenn daran gekratzt wird, dann hat er tatsächlich große Schwierigkeiten, weil der Rückhalt, den er in Frankreich genoss, eben nicht auf Tradition und Gottesgnadentum und ähnlichen Dinge beruhte, wie das bei früheren Herrscher-Dynastien der Fall gewesen ist. Sondern nur darauf, dass er der große Sieger ist, und der musste er bleiben. Und selbst wenn er verloren hatte, durfte er zumindest nicht geschlagen worden sein.

    Heinemann: Wie sehr hat der Mythos Napoleon, das heißt sein Ruf, eben unbesiegbar zu sein, seine Gegner behindert oder gefesselt?

    Platthaus: Dieser Ruf hat jahrelang seine Gegner insofern behindert, als man immer versucht hatte, ihm auszuweichen. Und das gehörte mit zu Napoleons Strategie dazu. Napoleons neue Militärtaktik beruhte darauf, dass alles viel schneller ging, als es bislang der Fall gewesen ist. Er hatte diese brillante Idee, beispielsweise keine Verpflegungswagen mehr mitzuführen, die einfach viel langsamer waren als ein marschierendes Heer, sondern rigoros all das zu requirieren, was man zur Versorgung der Truppen brauchte. Das war rücksichtslos gegenüber der Bevölkerung, durch deren Regionen man zog, aber wunderbar für das Militär, weil die sich nicht mit diesen großen Transporttrossen aufhalten mussten. Und dieses Tempo nutzte Napoleon, weil er wusste, den Gegner konnte er einfach nur überraschen dadurch, dass er ihm an Plätzen begegnete, wo noch gar nicht damit zu rechnen war, dass die Franzosen da wären, und dann mit der geballten Macht auf den Gegner losschlagen. Das war das System, was Napoleon betrieb. Und das hat jahrelang hervorragend funktioniert, so hervorragend, dass die Gegner eher geneigt waren, sich zurückzuziehen und sich dann wiederum auf der Verfolgung einholen zu lassen - das war auch ein wunderbares strategisches Mittel von Napoleon -, weil er eben immer schneller war. Aber gleichzeitig lernte man das natürlich irgendwann auch mal von ihm. Man kann das nur ein paar Mal machen und dann ist der Überraschungsmoment weg. Und das Interessante am Jahr 1813 ist, dass die Gegenspieler von Napoleon eine ganz ähnliche Strategie verfolgen, nämlich vor allem viel in Bewegung bleiben und ihm erst mal ausweichen und ihre Heeresmassen verteilen und anfangen, ihn zu umgehen und zu versuchen, ihn einzukesseln. Und das ist dann letztlich in Leipzig gelungen, obwohl Napoleon sich der Gefahr bewusst war, aber dann doch das Tempo seiner Gegner diesmal unterschätzt hatte. Das heißt, die hatten viel gelernt. Und Napoleon hat nicht geglaubt, dass man es so gut machen könnte wie er selbst.

    Heinemann: Und auf einmal stellt man eines fest: Auf Rückzug war er nicht vorbereitet. Das war in Moskau schon so und in Leipzig wieder.

    Platthaus: Er war ein großer Sieger und er war gewohnt zu gewinnen und er hatte keine Selbstzweifel. Das kann man Napoleon nun wirklich nicht vorwerfen. Der war hundertprozentig überzeugt zu gewinnen. Sonst hätte der Schlachten gar nicht erst angefangen. Rückzug kam nicht in Frage. Das war immer improvisiert, und entsprechend chaotisch lief es.

    Heinemann: Welche Rolle spielte die militärische Aufklärung für den Verlauf der Schlacht?

    Platthaus: Eine sehr große insofern, als dass man erst mal mittlerweile gewisse Mittel hatte, die neueren Datums waren. Beispielsweise wurden Fesselballons eingesetzt, die über der Schlacht aufstiegen und dann zumindest etwas weitergehende Beobachtungen machen konnten, als es bisher üblich war. Aber das war nun auch etwas, was man noch nicht in dem Maße betrieb, wie es dann etliche Jahrzehnte später im Krim-Krieg oder gar im Ersten Weltkrieg der Fall sein sollte. Die klassische Art der Aufklärung bestand tatsächlich immer noch darin, dass man kleinere Reitertrupps losschickte. Und das war in gewisser Weise in Sachsen recht einfach, weil des Terrain übersichtlich ist. Gleichzeitig aber auch wiederum schwierig, weil es keine Verstecke gab. Und da hatte beispielsweise die russische Armee mit ihren Kosaken-Einheiten einen riesigen Vorteil, weil die gewohnt waren, sich in ganz kleinen Gruppen sehr, sehr schnell zu bewegen. Das waren einfach an Reiterei gewohnte Trupps. Und dementsprechend waren die Russen in Sachsen viel besser mit der Aufklärung versehen, als beispielsweise die napoleonischen Truppen, die zwar tolle Landkarten besaßen, aber die letztlich gar nicht so genau darüber informiert waren und so weit gestreut waren, als dass sie wussten, wo der Gegner immer gestanden hätte. Da waren die Alliierten ganz klar im Vorteil, weil sie diese separat agierenden kleinen Kosaken-Einheiten überall in Sachsen im Einsatz hatten, die ganz überraschend überall auftauchten, wo man nicht mit ihnen rechnete, und dann, wenn sie denn durchkamen, auch sehr interessante Nachrichten an die Hauptquartiere gaben.

    Heinemann: Stichwort Nachrichten. Wie haben die Intellektuellen in Deutschland, die Zeitzeugen dieses Ereignis beobachtet und bewertet?

    Platthaus: Leipzig ist insofern sehr interessant, als man sehr schnell für damalige Verhältnisse wusste, dass man es hier mit einer entscheidenden Schlacht zu tun hat. Wobei sie nun auch vier Tage gedauert hat und dementsprechend dann doch, sagen wir mal, nach den ersten ein, zwei Tagen auch Nachrichten in entferntere deutsche Gebiete kamen, über Brieftauben, über Kuriere oder so was, sodass noch während der Dauer der Schlacht bereits bekannt war, dass dort eine riesige Schlacht geführt wird. Das war ungewöhnlich. Normalerweise erfuhr man erst nach Beendigung einer Schlacht überhaupt davon, dass sie ausgebrochen ist. Und das trug natürlich dazu bei, dass man mit viel größerer Neugier nach Leipzig schaute, weil man noch gar nicht wusste, wie es ausging, wenn man die Nachricht bekam.

    Die deutschen Intellektuellen waren gespalten. Im Endeffekt war natürlich unter fortschrittlich denkenden Menschen völlig klar, dass alles das, was die Französische Revolution oder auch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts aus Frankreich nach Deutschland gebracht hatte, dazu beitrug, ein liberaleres Staatswesen zu etablieren. Andererseits war Napoleon nun alles, aber ganz gewiss kein Liberaler. Der hat schon ein ganz klares Repressionsregime über die ihm untertänigen oder verbündeten Staaten ausgeübt. Und damals war ja nun auch die Stunde der beginnenden Nationalbewegungen. Das heißt, man war besonders unglücklich im zersplitterten Deutschland, unter französischer Oberhoheit zu stehen. Das heißt, ein Großteil der Intellektuellen war dann doch sehr leicht dazu zu bewegen, sich aus der bequemen Bündnishaltung gegenüber Frankreich, wo man mittlerweile ja seit Jahren in gewisser Weise engen Austausch pflegte, überzuwechseln zur erstarkenden deutschen Nationalbewegung und zu sagen, wir schlagen uns auf die Seite des deutschen Vaterlandes, wir wollen eine eigene Kultur begründen und wollen uns nicht von den verzärtelten Franzosen weiter dominieren lassen. Das ist so ein seltsames Schwellenphänomen am Beginn des 19. Jahrhunderts, dass alles das, was vorher eher grenzüberschreitend intellektuell war, jetzt anfängt, in Abgrenzungsideen zu verfallen und zu sagen, wir Deutschen haben eine ganz andere Kultur als diese Franzosen da. Und das ist natürlich durch die Befreiungskriege ganz massiv befördert worden.

    Heinemann: Inwiefern, Herr Platthaus, war, um Ihren Buchtitel zu zitieren, Leipzig das Ende der alten Welt?

    Platthaus: Insofern, als Leipzig eine faszinierende Schlacht ist, weil sie die letzte eines alten Typs war. Erst mal insofern, als es wirklich noch eine Königsschlacht gewesen ist. Das war eine Schlacht, wo tatsächlich sämtliche Staatschefs, sprich die Herrscher der beteiligten Staaten, tatsächlich an der Schlacht teilgenommen haben. Der russische Zar ist da, Napoleon sowieso, der preußische König ist da, der sächsische König ist da, der österreichische Kaiser ist da und Schweden hat immerhin den Kronprinzen geschickt, weil der König zu alt war. Das heißt, die wichtigen entscheidenden Parteien hatten ihre jeweiligen Monarchen vor Ort.

    Zwei Jahre später bei Waterloo ist nur noch Napoleon da von all diesen Herrschern und eigentlich ist er ja auch schon da wieder Usurpator. Er hat zwar wieder den Kaisertitel angenommen, aber selbst Frankreich ist gespalten darüber. Das heißt, Waterloo ist bereits eine Schlacht, die von den Militärstrategen alleine geführt wird. Das war in Leipzig faktisch auch so, nur jederzeit hätte der russische Zar oder der österreichische Kaiser sagen können: Höre, mein kommandierender General, ich will aber nicht, dass das so läuft, ändere es bitte. Das haben die klugerweise nicht getan, aber sie hätten es tun können. Und das war zwei Jahre später bereits undenkbar. Da war es klar, dass die wirklich militärischen Praktiker das Sagen hatten.

    Gleichzeitig ist Leipzig auch eine Schlacht des neuen Typus. Es wurde zwar noch in alter Schlachtordnung angetreten, aber es waren wirklich Volksheere. Das kannte man vorher nur von der französischen Armee, wo es so etwas wie Wehrpflicht gab. Das gab es nunmehr seit 1813 in Preußen auch. Und der russische große Abwehrkrieg gegen Napoleon 1812 war auch ein beginnender Volkskrieg. Viele, viele Freiwillige, die teilnahmen und die jetzt immer noch dabei waren. Das heißt, es trafen Heeresmassen aufeinander, wie man sie seit der Antike nicht mehr gesehen hatte. Und das nahm eigentlich schon viel mehr das spätere Massenschlachten vom Krim-Krieg, des Ersten Weltkriegs, des Zweiten Weltkriegs vorweg, als dass es irgendetwas fortgesetzt hätte, was es vorher gegeben hat. So gesehen ist Leipzig wirklich in meinen Augen ein Abschluss einer historischen Epoche, natürlich in der technischen Form der Kriegsführung, aber eben auch in all dem, was es intellektuell und für die Ausbildung von all dem bedeutet, was in den dann folgenden 200 Jahren das europäische Geschichtsbild geprägt hat.

    Heinemann: Schauen wir auf die Zeit danach. Ziemlich genau 100 Jahre nach Leipzig stürzen sich die europäischen Völker diesmal in einen Ersten Weltkrieg, oder, wie der Erste und der Zweite ja auch bezeichnet werden, in den zweiten 30-jährigen Krieg. Führt Leipzig direkt und wenn ja inwiefern, Leipzig und die anschließende Friedensordnung, in die großen Kriege des 20. Jahrhunderts?

    Platthaus: Für meinen Geschmack ja, wobei der direkte Weg natürlich mit einem Umweg von 100 Jahren trotzdem gewisse Optionen geboten hätte, doch noch einiges zu korrigieren, andere Richtungen einzuschlagen. Aber die große Enttäuschung, die Leipzig bedeutete, gerade für die Sieger, liegt darin, dass all das, was die beteiligten Völker – und es heißt ja nicht umsonst Völkerschlacht und eben nicht Königsschlacht, wie es auch hätte heißen können -, erhofft hatten, ist nicht eingelöst worden. Man versprach sich in Deutschland von diesem relativ breiten öffentlichen Bündnis gegen Napoleon, selbst wenn die Staaten selber noch gar nicht die Seiten gewechselt hatten, so etwas wie deutsche Einigung und vor allem eine neue Art von Verfassungsmäßigkeit in diesen deutschen Staaten, und das alles wurde nach dem Wiener Kongress nicht eingelöst. Man ging zurück weitgehend auf die alten Grenzen und die Monarchen blieben als absolute Herrscher erhalten und all das, was man an bürgerlicher Emanzipation durch Beteiligung am Krieg erhofft hatte, blieb aus. Und diese Enttäuschung, glaube ich zumindest aus den Quellen ganz klar herauslesen zu können, führte zu einer Radikalisierung des Nationalgedankens. Man hatte tatsächlich darauf gebaut, das war enttäuscht worden und man dachte jetzt gut, wenn wir es denn schaffen wollen, müssen wir radikaler darin sein. Das heißt, die Nationalbewegung wurde in gewisser Weise auch in den Untergrund abgedrängt, weil sie als klare Konkurrenz zur Monarchenverfassung betrachtet wurde. Und dadurch kommen diese großen Nationalunterschiede des 19. Jahrhunderts zustande, die ursächlich dafür sind, dass wir im 20. Jahrhundert all das Grässliche erlebt haben, was dann über die beiden Weltkriege über uns kam, und die totalitären Regime. Das Klima ist im 19. Jahrhundert dermaßen systematisch vergiftet worden, aus der Enttäuschung über die gescheiterte Emanzipation nach Leipzig, dass ich fürchte, dass das wirklich die Geburtsstunde all dessen ist, was wir seitdem erlebt haben.

    Heinemann: Andreas Platthaus, der Literaturchef der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Autor des Buchs "1813 – Die Völkerschlacht und das Ende der Alten Welt".


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.