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Kristine Bilkau: "Nebenan"
Die große Leere - ein Dorfroman

Kristine Bilkaus Dorfroman „Nebenan“ spielt mit einer Reihe von Symbolen: Es geht um die Leere der Häuser, der Seelen und des Körpers der Protagonistin; um die ersehnte Fülle, die sich so schwer einstellen will.

Von Brigitte Neumann |
Die Autorin Kristine Bilkau und das Cover ihres Romans " Nebenan"
Nach dem ersten Lesen bleibt ein Gefühl von Leere. Dieses Buch von fast 300 Seiten über das Leben zweier Frauen wirkt wie ein hypernaturalistisches Biedermeier-Gemälde der Stagnation. Nach abermaligem Lesen fällt die Zartheit der Farben auf, mit denen Bilkau die Gefühlslagen ihrer Heldinnen malt. Es geht viel um Zögern, Zweifeln, Schweigen und darum, wie eisern verfolgte Pläne Gefühle lähmen können.
Julia, die erste Protagonistin des Romans, ist eine 38-jährige Frau, die ihr Leben ganz dem Warten auf ein Kind widmet. Die meisten ihrer Freunde sind bereits Eltern.  
„Es ist, als wäre sie mit allen zusammen in einen Zug gestiegen, mit einem gemeinsamen Ziel. Doch nach und nach sind die Leute ausgestiegen, fahren in andere Richtungen, und sie, sie hat ein Stück der Strecke verschlafen, wacht auf und sieht, sie hat ihren Anschluss verpasst.“

Biedermeierliche Enge und Idealismus

Julia ist vor einem halben Jahr mit ihrem Partner aus Hamburg in ein ungenanntes Dorf am Nord-Ostsee-Kanal gezogen. Sie ist Töpferin. Kristine Bilkau, die sowohl aus der Protagonisten-Perspektive als auch auktorial erzählt, lässt Julia bilanzieren:
„Ich sehne mich nach einem kleinen Lebensradius, der so wenig Schaden anrichten würde wie möglich.“
Julias Partner Chris ist Biologe und Umweltaktivist. Die beiden verzichten auf ein Auto, auf Plastik, auf Fleisch, um ihr Scherflein zur Weltrettung beizutragen. Allerdings könnten sie auch anders und spielen in schwachen Stunden mit dem Gedanken, sich ein Auto zu kaufen. Das wäre bequemer als mit dem Fahrrad in die nächste Kleinstadt zum Einkaufen zu fahren oder nach Hamburg zur nächsten Behandlung in der Kinderwunschklinik.

Vertreter der "achtsamen Innerlichkeit"

Die beiden wirken wie Pappkameraden vom Typ „achtsame Innerlichkeit“, bis Kristine Bilkau ein paar zarte Risse in der zementenen Idylle aufscheinen lässt. Chris ist zunehmend von der teuren Hormonbehandlung genervt; in ihrer direkten Nachbarschaft verschwindet eine fünfköpfige Familie. Niemand weiß wohin. Ihr Haus ist leer. Weitere Häuser in der Straße leeren sich, werden geräumt, zerfallen.
Auch in der nahen Kleinstadt, in der Julia ihren Töpferladen aufgemacht hat: massiver Leerstand, Abriss, Einsturz, abgesackte Fundamente. Eine ganze Batterie leerer Häuser füllt den Roman. Bis wir alle es verstanden haben und sich auch den letzten Lesern die Symbolik erschließt: Die sterbenden Dörfer und Kleinstädte auf dem Land, sie sind wie der bewohnbare Körper der Romanheldin – leer. Leere ist die Atmosphäre, die diesen Roman von Kristine Bilkau grundiert. Muss aber die Langeweile der Leere mit lapidaren Sätzen, einer langweiligen Handlung beschrieben werden, damit die Leser sie so recht fühlen können? Oder hat die Leere im Kern nicht auch etwas Wütendes, Angespanntes, Wahnsinniges, das der Beschreibung lohnte?   
Glücklicherweise wird der Roman noch von einer zweiten, allerdings etwas im Hintergrund stehenden,  Protagonistin getragen, nämlich von der taffen Landärztin Astrid. Sie steht kurz vor der Rente. Bei einem ihrer letzten Nachtdienste wird sie zu einem Tatort gerufen. Astrid ruft die Polizei. Der mutmaßliche Täter kommt erst einmal nicht in Haft. Und er wird Astrid nicht mehr in Ruhe lassen.

Zuviel Konzept, zuviel Botschaft

Astrid ist als Kontrast und Widerpart Julias konzipiert. Sie ist ein anderes Kaliber, als die in ihre lähmende Qual eingesponnene Julia, und die Erleichterung, die Sympathien der Leser fliegen ihr erst einmal zu. Aber auch diese Figur hat ihre rigiden Seiten. Als Astrid jede Woche anonyme Drohbriefe erhält, reagiert auch sie wie nach einem eisernen Lebensplan: keine Angst anmerken lassen, häufiger schwimmen gehen, es mit sich alleine ausmachen. Sie entscheidet sich dagegen, ihren Mann einzuweihen.
„Wahrscheinlich würde er sich schrecklich aufregen. Eine Unruhe würde das erzeugen. Am Ende würden sie sich womöglich noch streiten. Die Briefe sind wie Eindringlinge, sie werden ihr Zuhause zersetzen. Wieder spürt sie es ganz deutlich, das wird sie nicht zulassen, fertig, aus.“
Wo Julia träumt, wünscht und zögert, da trifft Astrid Entscheidungen, für sich, für ihre Patienten. Eine der Figuren Bilkaus ist ganz innerlich, die andere lebt nur im Außen. Beide sind zu sehr Konzept ihrer Autorin, deren Botschaft immer lauter wird: Weder die Bewältigungsstrategie von Julia noch die von Astrid führen aus der Leere. Die Leser, an der Kandare dieses Konzepts, dürften die Absicht der Autorin spüren und sind verstimmt.
Kristine Bilkau: "Nebenan"
Luchterhand Literaturverlage, München, 288 Seiten, 22 Euro.