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Die grüne Grenze des römischen Imperiums

Während der Limes in Süddeutschland gut erforscht und seit 2005 sogar Unesco-Weltkulturerbe ist, gilt dies für die Grenze zwischen Germanien und dem antiken römischen Reich in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden nicht. Sie war nie vermessen oder archäologisch untersucht. Bis jetzt.

Von Matthias Hennies |
    In Bonn ist die Lage noch übersichtlich. Der Rhein fließt, wo er immer geflossen ist. Im extrem regenarmen letzten Herbst konnte man auf dem trocken gefallenen Grund des Stroms sogar Reste des Hafens sehen, in dem vor 2000 Jahren römische Schiffe angelegt haben.

    "Etwa 100 Meter hier im Rhein eine große Kiesbank, die jetzt bei Niedrigwasser frei liegt und auf der eben die römischen Güter für das Legionslager und auch die Truppen verladen wurden."

    Der Rhein bildete hier die Grenze des römischen Reiches, erklärt Steve Bödecker, Archäologe beim Landschaftsverband Rheinland. Gegenüber dem Hafen, auf der anderen Rheinseite, begann Germanien. Die Truppen des Bonner Militärlagers hatten die Aufgabe, die Grenze zu überwachen. Doch wo genau verlief sie?

    Weiter südlich, vom heutigen Rheinland-Pfalz bis nach Bayern, ist die Sache einfach. Wall und Graben, die Reste des römischen Limes, zeichnen sich dort bis heute in den Äckern und Wäldern ab, auch die Fundamente der Wachtürme sind oft noch in der Landschaft zu erkennen. Doch von dem Ort Rheinbrohl, nahe der Landesgrenze Nordrhein-Westfalens, bis zur Nordsee folgte die Grenze dem Rhein. Und welchen Weg der Fluss nördlich von Bonn und Köln einst durch die weite Auenlandschaft nahm, war lange völlig unklar.

    "Was wir heute sehen, ist ja ein völlig artifizieller Zustand. Wir haben einen einbettigen, relativ schmalen Rhein. Zur Römerzeit waren die Flussläufe völlig anders gestaltet. Wir hatten sehr breite Flussläufe mit mehreren Armen, es gab nicht den Rheinlauf, sondern es gab drei, vier, durch Inseln geteilt."

    Renate Gerlach, ebenfalls beim Landschaftsverband Rheinland angestellt und zugleich Professorin an der Universität Köln, ist Geoarchäologin. Sie verbindet die Archäologie mit der Erforschung der Erdschichten. Anhand großräumiger Übersichtskarten und dreidimensionaler Geländemodelle hat sie die Stufen und Terrassen analysiert, die von alten, verlandeten Schleifen des Stroms in der Landschaft übrig geblieben sind. Daran konnte sie erkennen, wie der Rhein seinen Weg verändert hat:

    "Die Schleifen haben immer nur eine begrenzte Lebenszeit, sie bilden sich dann so weit aus, bis das Wasser sich die einfachste Bahn bricht und am Mäanderhals, an der schmalsten Stelle des Bogens, einfach durch bricht, das passiert dann in der Regel bei winterlichen Hochwässern, bei Frühjahrshochwässern. Und dann sucht er sich einen neuen Lauf, fängt aber sofort wieder an zu mäandrieren."

    Neue Mäander überlagern die alten – daran konnte Gerlach jüngere von älteren Flussläufen unterscheiden und schließlich eine Chronologie aufstellen. Auch die Analyse der Böden half ihr: Je älter die Erde, desto lehmiger ist sie, weil sich im Lauf der Zeit neue Tonminerale bilden. Und weil zugleich Eisen-Bestandteile zerfallen, wird sie auch brauner.

    Aus der relativen Abfolge werden recht präzise Jahreszahlen, wenn man die geologischen Ergebnisse mit den Erkenntnissen der Archäologie verknüpft: Anhand der Grabungsfunde, die an verschiedenen Stellen entlang des Stroms zutage gekommen sind, konnte die Wissenschaftlerin viele Flächen datieren. Nun ist klar, welche Gebiete zur Römerzeit "landfest" waren und welche erst im Mittelalter. Man weiß also, wo man nach den immer noch fehlenden Wachtürmen und Kastellen des "Wasser-Limes" suchen muss.

    Zugleich ist ein neues Bild der römischen Grenze entstanden. Denn Renate Gerlach hat nirgendwo einen römischen Rheinlauf identifiziert, sondern immer Gebiete, in denen mehrere Arme des Stroms flossen.

    ""Wir haben ein falsches Bild von Grenze. Die Grenzen, die wir im Auge haben, sind die Nationalstaatsgrenzen des 19. Jahrhunderts. Was wir hier vor uns haben, ist ein breiter, mindestens drei-vier Kilometer breiter Grenzsaum, der gar nicht als Grenze fungierte, sondern durchlässig war. Und man hat an den Stellen, die also landfest und trocken waren, eine Kette von Lagern, möglicherweise auch mit Wachtürmen gehabt, doch das war nicht die unmittelbare Grenze, sondern der gesamte Auenraum davor gehörte genauso dazu. "

    Die Grenze des Imperiums war am Niederrhein keine Linie, sondern eine Fläche. Damit änderte sich auch ihre Funktion: Historiker wissen seit längerem, dass der Limes nirgends als unüberwindliches, militärisches Bauwerk, als eiserner Vorhang diente, sondern von vielen Durchgängen unterbrochen war, die für einen intensiven Warenaustausch genutzt wurden. Dort kontrollierten Legionäre den Handelsverkehr, sie stellten sogar Passierscheine aus. Der Limes gilt heute als Wirtschaftsgrenze.
    Doch in der unübersichtlichen Landschaft des Niederrheins ließ sich nicht lückenlos überwachen, wer mit Handelsgut durch Sumpfland und Schilfgürtel auf den festen Boden des Imperiums schlich. Auf dem festen Land standen zwar Wachtürme, auf den Armen des Flusses patrouillierten Kriegsschiffe, aber hier war der Limes buchstäblich eine "grüne Grenze".