Archiv


Die Herausforderung der Kulturgeschichte

Schon seit einigen Jahren schwelt in der deutschen Geschichtswissenschaft ein Streit um die Theorie: Gegen die alles beherrschende Sozialgeschichtsschreibung führen immer mehr - vor allem jüngere Historiker - die sogenannte Kulturgeschichte ins Feld. "Kultur" erscheint dabei als Gegenbegriff zu "Gesellschaft", "Kulturwissenschaft" steht gegen "Sozialwissenschaft". Jetzt meldet sich mit Hans-Ulrich Wehler der Nestor der Sozialgeschichte machtvoll zu Wort, um sich der Herausforderung zu stellen. Dazu nimmt er sich in diesem Bändchen, dessen Texte auf Thesenpapieren für das Bielefelder "Kolloquium zur modernen Soziaigeschichte" basieren, die großen Theoretiker und ihre Werke vor: Max Weber, Sigmund Freud und Erik Erikson, aber allen voran ausgiebig Pierre Bourdieu und Michel Foucault.

Tillmann Bendikowski |
    Bourdieu kommt dabei gut weg: Wehler verweist zu Recht auf die scharfsinnige, methodische Innovation Bourdieus, vier Arten von Kapital zu unterschieden - das materielle, soziale, kulturelle wie symbolische - und sie als untereinander konvertierbar zu denken. Lobende Worte auch für das Habituskonzept, das Kultur und Sozialstruktur miteinander verbindet. Bei maßvollen kritischen Anmerkungen lobt Wehler Pierre Bourdieu für dessen intellektuelle und methodische Kunstfertigkeit und nennt die Weite seines Denkens "geradezu aufregend".

    Vernichtend fällt dagegen das Urteil über Michel Foucault aus: Die Prämissen seiner "Archäologie" und seiner "Genealogie" seien erkenntnistheoretisch abstrus, seine Vorstellungen von Diskursanalyse mangelhaft und seine Diagnose der "Disziplinargesellschaft" voller systematischer und historischer Defizite. Kurzum: Foucault sei ein intellektuell unredlicher und empirisch unzuverlässiger "Rattenfänger für die Postmodeme". Wer sich trotzdem von Foucault inspirieren lassen wolle, der müsse ein hohes Maß von Spannungen aushalten können, die aus dem Zusammenstoß von vermuteter Anregungskraft, enttäuschtem Vertrauensvorschuß und allenfalls partiell erfolgreicher historischer Analyse entstünden.

    Lobende Worte hat der Autor dagegen für die Kulturanthropologie parat: Zwar sei der konkrete Gewinn noch ungewiß, den eine Beschäftigung mit ihr für die historische Erforschung von Sozialisationsprozessen im 19. und 20. Jahrhundert bringen könne. Doch angesichts des Anregungspotentials ließe sich von der Kulturanthropologie vieles lernen, der Sozialgeschichte drohe von ihr kein Verlust, sondern vielmehr ein "Zugewinn an Erkenntnis".

    Damit naht Wehler seiner Conclusio. Zeige sich die Sozialgeschichte angesichts der unabweisbaren Impulse aus der kulturwissenschaftlichen Debatte flexibel und wo nötig auch lernfähig, werde sie sich erfolgreich behaupten im Kampf um ihre Meinungsführerschaft. Doch konkrete Beispiele für eine "neue Kulturgeschichte" bringt Wehler nicht, was nicht nur daran liegt, daß viele Historiker eine kulturgeschichtliche Wende nur auf den Lippen führen, sie aber in ihren Arbeiten bislang nicht umgesetzt haben. Unter dieser Ausblendung leidet die Gültigkeit des hier gefällten Urteils.

    Angesichts der aktuellen Debatte um die NS-Vergangenheit vor allem von Theodor Schieder und Werner Conze, den Gründungsvätern bundesdeutscher Sozial- und Strukturgeschichte, spricht Wehler von einer "Diffamierungsattacke", deren Ziel die Deligimitierung der neuen Sozialgeschichte sei. Dies ist indes ein böser gedanklicher Schnitzer: In Wirklichkeit geht es um das unerträgliche Schweigen der deutschen Geschichtswissenschaft zu ihrer eigenen braunen Vergangenheit. Ansonsten aber lebt das Buch von der deutlichen, zuweilen provozierenden sprachlichen Zuspitzung. Hans-Ulrich Wehler legt damit einen leidenschaftlichen Beitrag zu einem notwendigen wie spannenden Dialog innerhalb der Disziplin vor.