Keine Angst, dieser Roman will nicht der Roman der Stunde sein. Auch wenn es in ihm um Fragen der Geschlechtsidentität geht, hat ihn Nicolas Verdan, im Hauptberuf Journalist, nicht aufgrund der aktuellen Debatten geschrieben. Erschienen ist „Doktor Hirschfelds Patient“ nämlich im Original bereits 2011. Ein Anliegen aber hat das Buch schon: Aufmerksamkeit lenken auf den Umgang mit Homosexualität während der NS-Zeit und danach:
„Kein Mensch, weder in Israel noch sonstwo auf der Welt, hat je das Schicksal zur Sprache gebracht, das die Nazis dieser Gemeinschaft bereitet haben. Die Shoa ist 1958 die Geschichte der Juden, nicht die der homosexuellen Juden. Gemeinschaft ... Das Wort passt nicht, es entspricht dem Stempel auf einer Internierungsanordnung wegen Homosexualität. Etiketten gibt es nur da, wo es Ausgrenzung gibt.“
Auch wenn der Eindruck entstehen könnte, hat man es bei „Doktor Hirschfelds Patient“ nicht mit einem fiktional ausgeschmückten Sachbuch zu tun. Nicolas Verdan hat spürbar Lust, eine spannende Geschichte zu erzählen: Im Mittelpunkt steht Karl Fein, ein Anwalt, der als junger Mann aus Prag Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre in der Berliner Bohème als Transvestit auftritt und in den Bannkreis von Magnus Hirschfeld gerät. Der Gründer des Instituts für Sexualwissenschaft vertraut Karl Fein gar seine Patientenlisten an, als die Nazis die Macht erlangen und die Gefahr besteht, dass sie die Listen benutzen, um gezielt Jagd auf Homosexuelle zu machen.
Freiluft-Konsultationen im Berliner Tiergarten
Diese Patientenlisten ziehen aber noch aus einem anderen Grund das Interesse speziell der SS auf sich: in ihren Reihen befindet sich manch einer, der einst die Hilfe Hirschfelds in Anspruch nahm, und nun fürchtet, gegen seinen Willen geoutet zu werden - ein Wort, dass es im deutschen Sprachgebrauch freilich noch nicht gab, als Hirschfeld seine Konsultationen mit Vorliebe im Freien bei Spaziergängen im Tiergarten abhielt.
An einem Sommertag ließ sich Magnus Hirschfeld sogar von einem jungen Arbeiter ablenken, der sich vor dem Eingang der öffentlichen Toiletten aufgestellt hatte und ihnen vielsagend zuzwinkerte. Mit einem Lächeln auf den Lippen und wie bedauernd seufzend machte ihm der Doktor ein Zeichen mit dem Zeigefinger, als ob er einem ungehorsamen Schüler drohen wollte: ‚Ach, diese kleinen Arbeitslosenschlingel! Zu allem bereit für ein paar Mark.‘ Ohne sich für diese Unterbrechung zu entschuldigen, fuhr er fort: ‚Wo waren wir stehengeblieben, junger Mann? Sie sagten mir, dass Ihre Gelüste immer wiederkommen?‘“
Sexuelle Freiheit in der Weimarer Republik
Weil sich auf diesen Listen Hinweise auf NS-Verbrecher finden, interessiert sich nach dem Krieg auch der israelische Geheimdienst für Magnus Hirschfelds Patientenkartei. Recht schnörkellos und geschickt die Zeitebenen wechselnd erzählt Nicolas Verdan von der relativen Freiheit Homosexueller in der Weimarer Republik, von Hirschfelds revolutionärer Sicht auf die Frage, was Mann und was Frau ist und was alles dazwischen liegt, von den Repressionen in den 30er Jahren, schneidet Szenen aus dem Krieg gegen Gespräche im Tel Aviv und Zürich des Jahres 1958 gegeneinander, und zwar ohne, dass der Roman deshalb überfrachtet erscheinen würde. Vor allem die Dialoge aber geraten Verdan leider und je länger sie werden, sehr steif und plattitüdenhaft.
„‘Aber keine Sorge, wir haben an alles gedacht‘, fuhr Blume fort. ‚Für Ihre sexuellen Bedürfnisse bieten wir Ihnen die besten Bordelle der Stadt an, mehr als hundert reinrassige Frauen stehen Ihnen zur Verfügung. Sie werden in eine SS-Siedlung in Berlin aufgenommen werden. In Ihrem Fall ist das Alleinsein nicht gut. Sie werden die Möglichkeit haben, jungen aus unseren Kreisen hervorgegangenen Frauen zu begegnen, die unsere Dienste ausgewählt haben.‘“
Karikaturenhaft gezeichnete Figuren
Während es Verdan gelingt, Karl Fein als Figur eine gewisse Kontur zu verleihen, sind die SS-Männer und Nazigrößen in seinem Roman nicht mehr als Karikaturen ihrer selbst - ebenso die Mossad-Agentin, die den Anwalt schließlich zu einem Bankschließfach nach Zürich begleitet. Auch die implizite Unterstellung, dass unterdrückte sexuelle Begierden die kaltherzige Brutalität der Erschießungen und Deportationen befördert haben, wirkt doch etwas holzschnittartig. Mag das Anliegen Verdans zwar löblich sein, auf ein zumindest 2011 noch wenig beachtetes Kapitel der Shoa aufmerksam zu machen, lassen den Kritiker diese alles in allem gut gemachten, leicht kommensurablen, mit konfektionierten literarischen Mitteln arbeitenden Romane - ob von Verdan, von Bernhard Schlink oder Charles Lewinsky - doch immer wieder mit der Frage zurück, ob die Shoa auf diese Weise nicht auch banalisiert wird.
Nicolas Verdan: "Doktor Hirschfelds Patient"
Aus dem Französischen von Hilde Fieguth
Verlag die Brotsuppe, Biel 2022. 276 Seiten, 28 Euro.
Aus dem Französischen von Hilde Fieguth
Verlag die Brotsuppe, Biel 2022. 276 Seiten, 28 Euro.