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"Die Inder sind sehr anpassungsfähig"

Der indische Psychoanalytiker Sudhir Kakar glaubt, dass die Deutschen von den Indern lernen könnten, Vielfalt willkommen zu heißen und sich nicht davon nervös machen zu lassen. Zusammen mit seiner deutschstämmigen Frau Katharina hat Kakar das Buch "Die Inder - Porträt einer Gesellschaft" herausgegeben.

Moderation: Rainer Bertold Schossig | 01.10.2006
    Schossig: Auf der Frankfurter Buchmesse, die in der kommenden Woche beginnt, ist in diesem Jahr das Kultur- und Industrieland Indien der Schwerpunkt, und das ist gut so, denn hierzulande sind die Menschen kaum informiert über dieses Land, wir machen uns kaum eine Vorstellung davon. Für uns Anlass zu einem Gespräch mit Ehepaar Katharina und Sudhir Kakar. Sie leben im indischen Goa und sind zurzeit zu Gast in Deutschland. Sudhir Kakar ist Kulturwissenschaftler und Psychoanalytiker, der in Amerika, Asien und Europa gelehrt hat, und seine aus Deutschland stammende Frau Katharina ist Religionswissenschaftlerin, und beide zusammen haben jetzt ein Buch geschrieben, Titel: "Die Inder - Porträt einer Gesellschaft", das im Beck-Verlag erscheint. Vor der Sendung habe ich mit Katharina und Sudhir Kakar gesprochen, und ich habe sie zunächst gefragt, welche Botschaft ihr Buch eigentlich hat.

    Sudhir Kakar: Die Botschaft ist nur, eine andere Kultur näherzubringen, eine Kultur nicht nur aus Wirtschaft und IT, also was in den indischen Menschen innen vorangeht, und meine Botschaft ist, was man von anderen Kulturen lernen kann, die Inder genauso wie von Deutschen und die Deutschen genauso von den Indern. Und was kann man von Indern hier lernen? Na ja, vielleicht also Vielfalt zu willkommen und nicht davon nervös zu werden. In Indien gibt es so viele Menschen, Arten, Sprachen und alles, und die haben sehr lange zusammengelebt ohne Probleme, also davon nicht nervös zu werden, die Winde von allen Seiten und Richtungen wehen zu lassen im eigenen Haus, also Fenster offenhalten, aber nicht den Boden selbst verlassen, das wäre eine Sache. Die zweite vielleicht, also nicht auf eine einzige Wahrheit zu pochen und danach zu suchen. Die Inder sind sehr relativistisch, es geht um die Relativität der Wahrheit und die Toleranz, die damit einhergeht.

    Katharina Kakar: Wir haben uns einfach auch betrachtet als Brückenbauer zwischen den Kulturen, also durch die verschiedenen Perspektiven, die wir hatten als Europäerin, die in Indien lebt, und als Inder, der lange in Europa gelebt hat, zusammenzubringen, wo sind eigentlich die kulturellen Signale, die nicht verstanden werden, dass ein Europäer Zugang findet zu den Aspekten der Kultur, die ihm völlig fremd sind, und vielleicht auch umgekehrt auch ein Inder es selber aus einer anderen Perspektive noch mal wahrnimmt.

    Schossig: Wie wächst da zusammen, was zusammengehört, diese beiden Standpunkte, also der des indischen Psychoanalytikers und der europäischen oder sogar deutschen Religionswissenschaftlerin?

    Katharina Kakar: Weniger kontrovers, als man vielleicht glauben möchte. Wir haben viel diskutiert, wir haben viel gesprochen miteinander und das Konzept aufgebaut für das Buch. Ich habe nochmal andere Aspekte rein gebracht, nicht nur jetzt in dem Sinne als Europäerin, sondern auch als Frau. Das war eigentlich auch die Bereicherung für uns.

    Schossig: Herr Kakar, Sie haben ein Buch geschrieben über "die Gewalt der Frommen", ein sehr, sehr aktuelles Buch. Jetzt schreiben Sie sozusagen ein Porträt der indischen Gesellschaft insgesamt. Wie sind Sie von diesem sehr religiös, fundamentalistisch natürlich auch orientierten Thema auf diese Breite der Gesellschaft gestoßen?

    Sudhir Kakar: Die Gewalt der Frommen ist ein Teil, der auch in diesem Buch drin ist. Wir haben versucht, verschiedene Facetten der indischen Gesellschaft zu beschreiben oder zu erhellen, wenn es ginge. Ich habe vorher auch über andere Themen in Indien, Kindheit in Indien, über Sexualität in Indien, intime Beziehungen, Kindheit und Gesellschaft in Indien war eins, dann auch über Mystik. Also jetzt ist es sozusagen alles zusammen, dieses Buch mit diesem Fundamentalismus und Religion als Einleitung.

    Schossig: Wir haben in der Schule gelernt, dass die indische Gesellschaft eine zerklüftete Gesellschaft ist, religiös zerklüftet, durch Kasten zerklüftet und natürlich nicht zuletzt durch große soziale Gräben auch. Wie meistern Sie diese großen Widersprüche und bringen ein Porträt zusammen?

    Sudhir Kakar: Es ist oft, dass man dieses, ich glaube, Klischee von Indien hat, diese Vielfalt. Es ist wahr, diese Vielfalt ist da, aber weil man von der Vielfalt so beeindruckt ist, sieht man nicht, dass es auch Gemeinsamkeiten gibt. Sagen wir, Sie sind ein Hamburger, aber in Frankreich sind Sie ein Deutscher, und wenn Sie in Indien sind, sind Sie ein Europäer, und das ist genauso mit Indien, große Vielfalt, aber wenn man von Indien spricht, dann ist es immer im Vergleich mit anderen großen Kulturräumen, europäisch, chinesisch, amerikanisch, und da sind manche Familienähnlichkeiten, manche Zusammensetzung von Sachen, wie man sagen kann, die sind die Basis von Verschiedenheit, das einer Einheit die Basis gibt.

    Katharina Kakar: Dass also der Hinduismus jetzt nicht als Religion, sondern als Kultur betrachtet, eben viele, viele verbindende Aspekte hat, die über die Diskrepanzen von Kaste und Religion hinausgreifen und da eben sich tatsächlich eine Identität herausschält im Vergleich zu anderen Kulturen, die man vielleicht, wenn man auf die Einzelheiten guckt, erstmal gar nicht so sieht.

    Schossig: Zu einem der berühmtesten Vorurteile gehört natürlich die Behandlung der so genannten Unberührbaren aus der untersten Kaste. Vielleicht geben Sie mal ein Beispiel, wie Sie das auch als Wissenschaftlerin, die sich mit Fragen der Identität und Religion beschäftigt, wie das auf Sie gewirkt hat und wie Sie es jetzt sehen.

    Katharina Kakar: Na ja, also aus Europa kommend, wo man letztendlich internalisiert hat die Vorstellung von Menschenrechten, von Gleichheit der Menschen, ist es erstmal ein Schock, ist es ein Kulturschock, der auch nicht einfach zu überwinden ist. Man muss dazu sagen, der Mensch gewöhnt sich irgendwann an alles. Man gewöhnt sich auch daran, dass feudale Strukturen in dem Sinne herrschen oder auch eine ganz andere Struktur, die eine Gesellschaft regelt, aber ich habe bis heute Schwierigkeiten, die horizontale Segmentierung der Gesellschaft akzeptieren zu können. Das ist durch meinen europäischen Hintergrund letztendlich nicht so möglich. Aber man muss eben auch sehen, dass diese Segmentierung nicht so klar geschliffen ist in dem Sinne, wie wir das gerne vom Westen her sehen. Es sind alles Pflichten und Rechte. Also der Haushälter, der für uns arbeitet, ist auch jemand, der von seinem Recht Gebrauch macht, dass wir in der Pflicht sind, für ihn zu sorgen in jeglicher Hinsicht. Ich habe meine Perspektive insofern ein Stück weit verändert. Für mich ist es wichtig, soweit ich greifen kann, jedem Menschen, den ich begegne, Respekt entgegenzubringen, wo ich auch eine gewisse Anpassungsleistung gemacht habe.

    Schossig: Apropos Anpassung, es wäre gar nicht möglich, wenn ich Sie im Gespräch habe, Sie nicht zu fragen als Grenzgänger zwischen den Kulturen, was Sie eigentlich von dem ja immer mehr einreißenden Wort, auch sehr umstrittenen Wort vom "Kampf" oder vom "Clash der Kulturen" halten. Können Sie damit etwas anfangen, Herr Kakar?

    Sudhir Kakar: Ich glaube, dieser "Clash der Kulturen" ist ein Begriff, der von absoluten Sachen spricht. Clash heißt also entweder nur Friede oder nur Clash, aber es gibt so viele andere Arten von Begegnungen der Kulturen, neue Formulierungen, was zu lernen. Clash ist immer der Anfang der Begegnung von zwei Kulturen, am Anfang ist der Andere ganz fremd, und da ist immer ein Clash, aber der Prozess geht viel weiter, was vorher fremd war, wird zu eigen macht, ändert sich, man ändert sich selber, neue Formen, so dass am Ende ein Clash eigentlich zu neuen Bereicherungen und neuen Kulturen führt.

    Katharina Kakar: Man könnte auch sagen, das es ein Stück weit zur hinduistischen Kultur dazugehört, dass in dem Sinne gesellschaftliche Veränderungen nicht nur mit Brüchen stattfinden, wie wir das aus Europa kennen, sondern zu einer Dehnung und auch die Neubegegnung, es wird einfach ein Stück weit erweitert, angenommen, verändert, angepasst und das ist eine ganz andere Wahrnehmung, eine Aufnehmung, als wir es in Europa kennen oder durch die christliche Religiosität kennen, wo es, wie gesagt, die Wahrheit gibt und die Unwahrheit und nichts dazwischen.

    Schossig: Sie zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die in Europa nahezu unbekannt oder nur wenigen Menschen bekannt ist. Das heißt, das Fremde, von dem Sie sprachen, Herr Kakar, ist immer etwas Besorgnis Erregendes, das hat man ja als soziales Phänomen. Der Fremde ist einerseits Gast, er ist aber auch eine Bedrohung. Insofern sind die Zusammentreffen verschiedener Kulturen nie harmonisch. Vor Indien gibt es in Europa die Sorge, dass ein gigantisch großer Superkontinent sich jetzt erhebt, zum weltweiten Global Player wird, zum nicht nur Partner natürlich, sondern auch zum Konkurrenten, ebenso wie das mit China der Fall ist, da sehen wir das schon einen Schritt weiter vielleicht. War auch das vielleicht ein Grund für Sie, dieses Buch zu schreiben?

    Sudhir Kakar: Dieses Besorgnis Erregende ist als erstes, ich würde sagen, eine Herausforderung, und Herausforderungen sind keine schlechten Sachen. Da ändern sich auch die Deutschen und die Inder durch diese Konfrontation, sagt man, aber ich würde sagen, es können beide damit gewinnen, es kann eine Win-Win-Situation sein, dass beide sich ändern, und das ist gar nicht so schlecht für Europa, auch für Indien.

    Schossig: Paul Parin spricht von Ethnopsychoanalyse. Würden Sie als Psychoanalytiker, der das Porträt einer Gesellschaft zeichnet, dieses Etikett annehmen?

    Sudhir Kakar: Ja, das würde ich gern annehmen. Es ist eine Ethnopsychoanalyse. Ich würde auch sagen, Psychoanalyse ist ethnisch, also Ethno sowieso, einfach weil Psychoanalyse in ihrer klassischen Form eine sehr westliche europäische Psychoanalyse, eine europäische Psychoanalyse, und wenn man Ethnopsychoanalyse als Begriff nimmt, dass jede Psychoanalyse Ethnopsychoalayse ist, dann ja.

    Schossig: Indien ist für uns in Europa nicht zuletzt auch Yoga, Tantra, Ayurveda. Sie als Religionswissenschaftlerin haben auch, wie Sie vorhin sagten, die intimen Beziehungen, die sexuellen Beziehungen zwischen den Menschen in Indien wahrgenommen, auch Sie aus Ihrem europäischen Blickwinkel, Frau Kakar. Was würden Sie sagen, was ist das Auffälligste im Unterschied zu Europa in der Beziehung zwischen den Geschlechtern dort?

    Katharina Kakar: Also wenn man zum Beispiel von Heirat spricht, die Basis von Heirat oder das Ideal der Heirat in Europa ist die Liebesheirat, das Ideal der Romantik. In Indien kann man schon sagen, dass auch andere Aspekte einfach mit da reinspielen, wie wirtschaftliche Aspekte, die arrangierten Heiraten, und dass die Romantik und die Erotik durchaus eine andere Rolle spielt als bei uns in Europa.

    Schossig: Gibt es eine Gleichberechtigung der Geschlechter in der erotischen Beziehung, wie man sie aus dem Tantra kennt, oder ist das nicht durchgesetzt in der indischen Normalehe?

    Katharina Kakar: Es gibt viele Nischen, wollen wir es mal so sagen, also das Selbstbewusstsein der Frau, das sexuelle Selbstbewusstsein kann sich nähren zum Beispiel aus der Vorstellung der Muttergöttin, die also eine große Kraft in dem Sinne hat, aber in bestimmten sozialen Schichten sind ganz andere Überlebenskämpfe im Vordergrund, wo Sexualität und gerade die Sexualität der Frauen nur mit Arbeit machen, also damit zu tun hat, den Mann zu befriedigen, nicht die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, und Nachkommen zu zeugen. Also das kann man überhaupt nicht verallgemeinern, aber es gibt durchaus Nischen, wo wir aus Europa sehr viel lernen können, wie auch weibliche Sexualität wahrgenommen werden kann.

    Schossig: Vielleicht noch ein anderes Vorurteil aus der europäischen Sicht Indiens, das ist die spirituelle Auslöschung, die Meditation, der Eigengang in das Nichts, also die Asketen aller Coleur, ist das ein Element, was in der indischen Gesellschaft heute eine Rolle spielt?

    Katharina Kakar: Durchaus, also man findet diese Yogis, die beispielsweise zwölf Jahre einen Arm hochhalten oder auf einem Bein stehen oder bestimmte, ganz strenge asketische Praktiken üben, um damit eben Macht zu erlangen, also Macht im spirituellen Sinne, und die erhalten auch sehr viel Respekt von der Bevölkerung für das, was sie tun. Also es gibt es noch, aber man kann natürlich nicht sagen, dass es in dem Sinne eine allgemeine Praxis ist, das sind auch wieder Nischen.

    Schossig: Natürlich keine allgemeine Praxis, aber ein Teil der Gesellschaft, was gewisse gesellschaftliche Anschauungen prägt. Zum Schluss vielleicht die Frage, wie weit ist Indien heute auf dem Weg in die Moderne, die ja westlich geprägt ist und wahrscheinlich auch bis auf Weiteres noch bleibt, wird sich Indien anpassen oder wird Indien eine eigene Farbe der Moderne hinzufügen können?

    Sudhir Kakar: Von der Geschichte weiß man, dass Indien auch immer Indien bleiben wird. Es wird sich sehr gut anpassen, also die Inder passen sich sehr gut an, und die haben sehr viele Invasionen und neue Kulturen, ob es Islam war oder die britische Kolonialzeit und jetzt haben wir die Globalisierung, sie können sich sehr gut anpassen. Aber ob sie das Indisch-Sein verlieren werden, das haben sie bisher noch nicht gemacht. Ich würde nicht die Globalisierung dann überschätzen, dass das große innerindische Veränderungen seien. Ich würde sagen, dass sie zur Globalisierung viel mehr beitragen, dass auch indische Sachen in die Globalisierung reinkommen, dass die Globalisierung nicht nur europäisch bleibt oder bleiben soll. Und das ist doch auch gut.

    Katharina Kakar: Stichwort alternative Moderne, inwiefern kann man in die Zukunft starten mit einem so großen Subkontinent und die Aspekte der Globalisierung vereinen mit traditionellen Elementen, die man bedroht sieht auch durch die westliche Globalisierung, und da gibt es sehr, sehr viel Zündstoff und Diskussion, da wird Indien auch seinen dritten Weg in dem Sinne beschreiten.

    Schossig: Das heißt, dass eigentlich heute die Globalisierungsherausforderung wieder zur Neuerkenntnis der eigenen Identität führen kann?

    Katharina Kakar: Ja, also zumindest zu Neuerung in der Hinsicht, dass traditionelle Elemente auch neu übersetzt wieder in eine Sprache der Moderne, um es so auszudrücken, dass das Alte nicht verloren geht, aber das Neue durchaus angegangen wird.