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"Die Inhalte müssen stimmen"

Der stellvertretende Bundesvorsitzende und designierte Parteichef der Linken, Klaus Ernst, hält eine Koalition mit der SPD für möglich. Beispielsweise gebe es inhaltlich Übereinstimmungen im Bereich Gesundheit. "Wenn die Sozialdemokratie tatsächlich ihre Forderung ernst machen durch Einführung einer Bürgerversicherung", würden die beiden Parteien inhaltlich übereinstimmen.

Klaus Ernst im Gespräch mit Jacqueline Boysen | 25.04.2010
    Jacqueline Boysen: Herr Ernst, derzeit wird das Ergebnis des Mitgliederentscheids bei der Linken über die Führungsstruktur - über den Vorschlag der Parteigremien zur weiteren Doppelspitze ausgezählt. Und das ist eigentlich ungewöhnlich, dass hier eine Urabstimmung über Strukturfragen abgehalten wird. Was erwarten Sie oder was befürchten Sie von Ihrer Mitgliederschaft?

    Klaus Ernst: Ich bin eigentlich froh darüber, dass dieses Thema tatsächlich über eine Mitgliederbefragung noch einmal zu den Mitgliedern gegeben wurde. Wir haben nun aus meiner Sicht eine sehr gute Beteiligung - mehr, als ich eigentlich erwartet habe. Das zeigt, dass unsere Mitglieder sehr interessiert sind, an dem, was in der Partei ist, und ich erwarte eigentlich und erhoffe mir natürlich eine deutliche Zustimmung zu dem, was wir da vorgeschlagen haben.

    Boysen: Und was passiert, wenn die Mitglieder gegen den Beschluss des Parteivorstandes votieren?

    Ernst: Nun, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen und das werden wir dann tun.

    Boysen: Wäre es für Sie eine Niederlage, schon bevor Sie überhaupt kandidiert haben? - Sie sind nominierter Nachfolger für eine weitere Doppelspitze, nominierter Nachfolger für den Parteivorsitz für Oskar Lafontaine und Lothar Bisky, die sich zurückziehen. Nominiert sind Gesine Lötzsch und Sie. Wenn die Mitglieder jetzt diesen Vorschlag, den die Parteigremien unterbreitet haben, gar nicht mittragen? Ist das für Sie nicht eine Hypothek, bevor Sie überhaupt angetreten sind?

    Ernst: Ich hoffe, dass ich da heil rauskomme. Dann sage ich Ihnen das.

    Boysen: Apropos Mitgliederentscheid: Meinen Sie, dass es gut wäre, auch über ein neues Parteiprogramm einen solchen durchzuführen? Sie haben ja einen Entwurf des Parteiprogramms. Auch der wurde, wie die Personalvorschläge, von der Basis Ihrer Partei - der Linken - nicht nur goutiert, viel mehr kritisiert, weil er zu starr sei.

    Insbesondere haben die an der Regierung beteiligten oder auch beteiligungswilligen Genossen und Sozialpolitiker aus dem Osten Kritik geübt. Der Versuch beispielsweise, über die Frage Mindestlohn oder Grundeinkommen zu diskutieren, endete in einer wüsten Beschimpfung der Grundeinkommensverfechter im Netz. Immer wieder kommen Klagen über starre Linien. Inwieweit werden Sie grundsätzliche Fragen künftig offen austragen lassen wollen, angenommen, Sie werden Parteivorsitzender der Linken?

    Ernst: Das ist ja nun ein Diskussionsprozess, den wir begonnen haben, dass wir dieses Programm dann in einer Urabstimmung verabschieden werden. Und was diese Debatten angeht: Also, das Netz ist ja auch nicht immer ein Ort für kulturvolle Auseinandersetzungen, was man da so alles liest. Das interessiert mich aber nicht so sonderlich.

    Für mich ist entscheidend, welche Diskussionen wir in der Partei von Auge zu Auge führen. Ich finde, es ist ein großer Erfolg, dass unsere Programmkommission einen einstimmigen Beschluss fassen konnte, dieses Programm so vorzuschlagen. Und ich sage Ihnen: So wird es mit Sicherheit nicht verabschiedet werden, es wird Änderungen geben, das ist ja das Ergebnis dann von Diskussionen. Und dann wird man ein Programm haben, das mit Sicherheit dazu beitragen wird, die Linke stärker zu machen.

    Boysen: Haben Sie nicht manchmal die Befürchtung, dass die Schuhe, die Oskar Lafontaine und Lothar Bisky Ihnen und Gesine Lötzsch als eben dem vorgeschlagenen neuen Führungsduo der Linken nun überlassen, ein bisschen groß sind?

    Ernst: Also, Oskar Lafontaine und auch Lothar Bisky sind schon herausragende Politiker durch ihre Erfahrungen, insbesondere Oskar durch sein langjähriges politisches Wirken - vom Oberbürgermeister bis hin zum Parteivorsitzenden der SPD. Deswegen habe ich auch immer gesagt, und Gesine ist mit mir derselben Auffassung: Wir können nicht den Oskar machen, sondern wir müssen jetzt angesichts der Situation eine kollektive Führung in der Partei praktizieren.

    Ich bin sehr froh, dass die Umfragen im Übrigen für unsere Partei sehr stabil sind, trotz dieses Rückzuges von Oskar Lafontaine aus der Parteispitze. Er ist ja nach wie vor aktiv, er ist ja nach wie vor im Saarland der Vorsitzende unserer Fraktion. Und - was ich weiß: Er wird uns auch nach wie vor mit Rat zur Seite stehen, und deshalb denke ich, es klappt.

    Boysen: Wenn ich Sie da unterbrechen darf: Böse Zungen behaupten, er zieht nach wie vor die Fäden.

    Ernst: Böse Zungen? Nun, ich bin froh um den Rat von Oskar Lafontaine, und Gesine Lötzsch geht es genauso. Es wäre ja geradezu abstrus, wenn wir auf den Rat eines solchen Menschen verzichten würden. Also ich hoffe, dass sich Oskar Lafontaine weiter aktiv in die Partei einmischt. Und wir haben, was das angeht, keine Differenzen.

    Boysen: Wenn Sie aber zum Parteivorsitzenden gewählt würden auf dem Parteitag im Mai in Rostock, könnte es ja sein, dass Ihnen Interventionen des Ex-Vorsitzenden dann auch irgendwann hinderlich sind.

    Ernst: Ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen, weil die Interventionen des Noch-Vorsitzenden für die Partei sehr hilfreich waren. Das werden sie auch sein, wenn er Ex-Vorsitzender ist.

    Boysen: Nach der Entmachtung von Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch und dem Rückzug Oskar Lafontaines wurde ja in einer nächtlichen Krisensitzung schließlich dieses fein austariertes Personalpaket geschnürt und Sie und Gesine Lötzsch eben vorgeschlagen für den neuen Parteivorsitz.

    Da mussten ganz viele Quoten - Ost/West, Mann/Frau, WASG, Herkunft, mit PDS-Erfahrung, Strömungen, Gruppen und Prägungen berücksichtigt und austariert werden, sodass vielen in Ihrer Partei dieses Gesamtpaket auch als eine Art Notlösung erschien.

    Wäre das auch anders denkbar gewesen, dass nicht von oben dieser Vorschlag erarbeitet wird, sondern anders herum Ihre Mitglieder auf dem Parteitag viel freier agieren konnten?

    Ernst: Also wir waren nach der Situation, dass Oskar Lafontaine gesagt hat, dass er nicht mehr als Parteivorsitzender antritt, wir waren unter der Voraussetzung, dass Lothar Bisky gesagt hatte, er kandidiert nicht mehr, weil er die Altersgrenze sozusagen mehr oder weniger überschritten hat und aufgrund der Tatsache, dass unser Schatzmeister Karl Holluba gesagt hat, er kandidiert nicht mehr, in der Situation, einen Vorschlag möglichst schnell präsentieren zu müssen.

    Denn hätten wir das nicht gemacht, hätten wir aus meiner Sicht eine sehr unfruchtbare Personaldebatte über zwei, drei Monate in dieser Partei gehabt, die dazu geführt hätte, dass wir uns nicht mit Politik beschäftigt hätten in einer Situation, wo eine Partei sich mit Politik beschäftigen muss.

    Wir erleben zurzeit, dass die Krisenlasten in einer unerträglichen Weise auf die Bevölkerung abgeladen werden sollen. Wir erleben, dass ein Wirtschaftsminister Vorschläge zur Steuersenkung macht, ohne dass Geld im Land vorhanden ist. Wir erleben eine weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte, wo wir uns profilieren. Wir wissen, dass wir noch für Mindestlohn kämpfen müssen und die Rente mit 67 verhindern wollen. In so einer Situation muss sich eine Partei um Politik kümmern und darf sich nicht in einer Selbstbeschäftigung ergehen über Personal. Das war der Grund für diesen Vorschlag.

    Boysen: Sie haben jetzt zufällig oder bewusst die Causa Bartsch außen vorgelassen.

    Ernst: Ich hab gesagt, dass er nicht mehr antritt, das hat er ja erklärt.

    Boysen: Aber das hat er erst erklärt, nachdem er entmachtet wurde und nachdem es diese Vorwürfe gegen ihn gab, die sich nie so richtig haben bestätigen lassen, nie so richtig haben widerlegen lassen. Wäre nicht Dietmar Bartsch ein profilierter Kandidat für den neuen Parteivorsitz gewesen - hat er doch als Bundesgeschäftsführer über drei Jahre lang den Blick auf beide Ihrer Quellparteien gehabt?

    Ernst: Ich werde jetzt mit Ihnen eine Situation erörtern, die einfach vorbei ist. Die Partei hatte eine Situation zu bewältigen gehabt, nämlich eine öffentlich geführte Personaldebatte, die für die Partei sehr schädlich war. Die ist beendet worden durch die Erklärung von Dietmar Bartsch.

    Boysen: Das hat Dietmar Bartsch ja nicht freiwillig erklärt.

    Ernst: Na, das müssen Sie mit ihm erläutern, nicht mit mir. Er hat es erklärt, und damit ist der Punkt für mich erledigt.

    Boysen: Offenkundig tut Ihnen die Entmachtung von Dietmar Bartsch nicht leid. Nun ist Dietmar Bartsch stellvertretender Fraktionschef geworden.

    Ernst: Also was mir leidtut und nicht leidtut, dazu habe ich mich ja nicht geäußert. Ich sage, was mir leidgetan hat, das wiederhole ich auch noch mal, dass wir eine Personaldebatte öffentlich geführt haben, die dazu geführt hat, dass der Eindruck entstanden ist in der Öffentlichkeit, wir sind nur noch mit uns selbst beschäftigt.

    Boysen: Herr Ernst, Sie haben eben beschrieben, in welchem Entwicklungsprozess sich die Partei mit ihren vielen unterschiedlichen Quellströmungen et cetera befindet. Wie würden Sie den Grad der Verschmelzung nach knapp drei Jahren nach der Gründung der Linken beschreiben? Was hält diese unterschiedlichen Strömungen zusammen, oder wo sehen Sie die Schwierigkeiten - was trennt sie?

    Ernst: Ja, das ist aus der deutschen Geschichte zu erklären. Ich mache das an einem Punkt fest - an den Gewerkschaften. Während die Gewerkschaften in der ehemaligen DDR, wo ein Teil unserer Mitglieder ja sozialisiert wurde, eine vollkommen andere Aufgabe hatte, eine vollkommen andere Bedeutung hatte als im Westen.

    Boysen: Ein erheblicher Teil Ihrer Mitgliedschaft. Das müssen wir dann vielleicht einfügen.

    Ernst: Na, wir werden im Westen mehr, und zwar verändert sich damit auch die Relation. Jedenfalls der Teil unserer Mitglieder hat eine Sozialisation, übrigens auch nur ein Teil im Osten, weil viele zu jung sind, dass sie da nicht mehr viel mitgekriegt haben.

    So, da hatten die Gewerkschaften zum Beispiel eine ganz andere Rolle als im Westen. Während dort mehr - ich sag mal - die Streiks, die Regulierung der Arbeits- und Lebensbedingungen tatsächlich über die Gewerkschaften lief, hatte diese Bedeutung eine Gewerkschaftsbewegung im Osten nie. Und auch nach der Wende war es ja nicht so, dass die Gewerkschaften im Osten die Bedeutung hatten wie im Westen. Die hatten im Osten den Streik verloren und die 35-Stundenwoche.

    Also daran sieht man die Unterschiede, und in diesen Unterschieden sind Menschen aufgewachsen. Und das zeigt, wenn man über Gewerkschaften spricht, dass die Menschen, die in den neuen Ländern sozialisiert waren, anders darüber denken als Menschen, die im Westen sozialisiert waren. Wir haben unterschiedliche politische Kulturen. Während man im Osten Stasivergangenheit, die wir im Übrigen genauso schlimm empfinden wie die Menschen im Osten - aber im Osten ist es so: Wenn dort jemand kandidiert, der seine Vergangenheit offengelegt hat, der gesagt hat "ja, ich habe damals Mist gebaut, und zwar ganz schlimmen, aber ich möchte jetzt kandidieren" und er gewinnt ein Direktmandat bei der Bundestagswahl, dann ist das zu akzeptieren. Im Westen: Wenn jemand aufstehen und sagen würde "ich war bei der Stasi und kandidiere" - ja, dann muss er aufpassen, dass er es überlebt.

    Boysen: Das wäre ja auch ein Straftatbestand, aber der wäre als Spion strafrechtlich zu belangen gewesen.

    Ernst: Genau, dies ist die unterschiedliche Kultur. Und die führt …

    Boysen: Wenn wir jetzt schon die Vergangenheit ansprechen, müssen wir auch ansprechen, dass Sie möglicherweise auch Menschen mit DKP-Vergangenheit, die nicht ganz verfassungskonform in jedem Fall war, in Ihren Reihen haben.

    Ernst: Nun, das ist Ihre Interpretation. Ich erlebe eher, dass zum Beispiel - das bestätigt meine Position - auch ein Mensch, der in der DKP war, im Westen eine ganz andere Sozialisation hat, als wenn er Kommunist im Osten war. Da wurde er nämlich im Westen mit Berufsverboten belegt, verfolgt. Im Osten waren die eher staatlich anerkannt. Aber beide sind jetzt möglicherweise in derselben Partei.

    So, und das macht den Unterschied aus. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir Linke aus Ost und West in eine Partei zusammenführen, ohne dass der Westen den Osten oder der Osten den Westen dominiert.

    Boysen: Sie haben ja eben schon Gewerkschaftspolitik als ein Beispiel, dass auch die Parteipolitik beeinflussen wird, beschrieben. Es wird Ihnen ja - Ihnen als Person, stellvertretend für den gesamten Gewerkschaftsflügel der Partei - inhaltlich vorgeworfen, dass Sie einer Sozialstaatsidee anhängen, die aus der Bundesrepublik der 80er-Jahre überkommen ist - den 80er-Jahren wohlgemerkt des vergangenen Jahrhunderts. Was entgegnen Sie da?

    Ernst: Da entgegne ich erstens, dass man genau hingucken muss, was war gut, was war schlecht. Wir hatten zum Beispiel bis vor wenigen Jahren ja die Tatsache, dass wir dieses Modell Deutschland als Erfolgsmodell hatten.

    Warum? Weil zum Beispiel die Frage der Löhne nach unten geregelt worden war durch Tarifverträge. Weil zum Beispiel auch die Frage der Arbeitszeit - wie lange man arbeitet - nach oben geregelt war durch Tarifverträge.

    Inzwischen haben wir eine Deregulierung der Arbeitsmärkte erlebt, die dazu geführt hat, dass wir Mindestlöhne nicht haben, aber dass wir Mindesteinkommen haben, nämlich dass die Leute nur noch drei oder vier oder fünf Euro für ihre Tätigkeit bekommen, dass sie nicht einen unbefristeten Arbeitsplatz haben, sondern dass sie nur noch befristet beschäftigt werden, dass sie keinen sicheren Job haben, sondern als Leiharbeiter beschäftigt werden.

    Das alles führt im Ergebnis dazu, dass es nicht mehr so ist wie es war, dass nämlich Arbeitgeber, wenn sie Erfolg haben wollten, neue Innovationen einführen müssten, neue Techniken entwickeln müssten. Nein, sie können jetzt einfach die Löhne senken oder die Arbeitszeiten erhöhen.

    Und dann frage ich Sie: Was war daran eigentlich schlecht? Ich denke, diese Veränderungen, die da stattgefunden haben, die Deregulierung der Arbeitsmärkte, haben dazu geführt, dass es den Menschen nicht besser, sondern in der Mehrheit schlechter geht, dass allerdings die Profite gestiegen und die Löhne gesunken sind. Und das wollen wir ändern.

    Boysen: Man kann so argumentieren, aber das unter Ceteris paribus - Bedingungen, die wir nicht haben. Es hat sich auf den Weltmärkten durch die Globalisierung, durch verschiedene Faktoren ganz, ganz viel geändert.

    Ernst: Das sehe ich ganz anders. Das waren doch nicht die Weltmärkte, das waren Gesätze, die sich verändert haben. Und das sind Gesetze, die die Bundesregierung nicht einführt. Sie könnte einen Mindestlohn machen. Wir haben inzwischen einen Niedriglohnbereich, der an den Niedriglohnbereich der USA - und die haben den Schlimmsten - heranreicht. Das hat mit Globalisierung nur insofern etwas zu tun, dass wir schlechter sind als die anderen.

    Boysen: Herr Ernst, stellvertretender Vorsitzender und designierter Parteichef der Partei Die Linke im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Mir ist aufgefallen, dass verschiedene Vorstandsmitglieder Ihrer Partei derzeit auffällig häufig betonen, dass Sie im Osten prima ankommen. Sie persönlich wurden ja gerade im Osten nicht ohne Widerstand aufgenommen. Es schlug Ihnen ein Misstrauen entgegen, besonders auch eben nach der schon erwähnten rüden Demontage Dietmar Bartschs.

    Sie werben für sich selbst und für die Vorschläge auf vielen Reisen, natürlich einerseits im Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen, auf den wir noch zu sprechen kommen, dann aber auch im Osten. Bei diesen Besuchen im Osten, was lernen Sie da für Ihre Parteiarbeit?

    Ernst: Ja, ich lerne natürlich, dass vor allen Dingen Kritik auch noch daran besteht, dass zurzeit die Zahl der Delegierten, die wir auf dem Parteitag haben, so konstituiert ist, dass wir im Westen weniger Mitglieder und Delegierte haben als im Osten. Das kommt im Übrigen aufgrund dieser Fusionsvereinbarung, die wir damals getroffen haben.

    Boysen: Da wurde der Westen zunächst einmal bevorteilt.

    Ernst: Und zwar deshalb, dass wir klar machen, auch wenn wir noch weniger Mitglieder im Westen haben - wir haben ja im Westen deutlich steigende Tendenz -, dass doch nicht einer den anderen dominiert, also auch der Westen nicht vom Osten dominiert wird, was damals aufgrund der Mitgliederstruktur hätte sein können. Denn dann hätte die Gefahr bestanden, dass im Westen das Projekt als Ausweitung der alten PDS verstanden worden wäre. Und das wäre aus meiner Sicht deshalb schlimm gewesen, weil wir dann nicht angekommen wären im Westen.

    Im Westen gab es die PDS, die wurde ja nicht so akzeptiert wie zum Beispiel die neue Linke, die ja als Linke deutlich bessere Wahlergebnisse hatte, in Bayern 6,5 Prozent bei Bundestagswahlen, das ist in Bayern eine Revolution.

    Boysen: Sie sind aber auch gescheitert bei den Landtagswahlen.

    Ernst: Ja, aber das war auch davor, und da sind wir auch nur knapp gescheitert.

    Boysen: Herr Ernst, die Linke muss aus strategischen Gründen auch ihr Verhältnis zur SPD klären. Ihre Partei steckt da in gewisser Weise in einem Dilemma. Sie grenzt sich von der SPD in zentralen Punkten ab, andererseits braucht Ihre Partei, will sie sich am Regierungsgeschehen beteiligen, natürlich auch die SPD. Und Sie selbst wurden im Jahr 2004 im Zuge der Debatte um die Arbeitsmarktreform ausgeschlossen aus der SPD.

    Das ist ja noch etwas ganz anderes als der freiwillige Austritt damals von Oskar Lafontaine. Inwieweit prägt Sie das? Können Sie sich vorstellen im Falle, Sie werden also Parteichef und es käme zu Verhandlungen mit der SPD, können Sie sich da vorstellen, dass Sie auf diejenigen zu gehen, die Ihnen einst Ihr Parteibuch genommen haben?

    Ernst: Einer ist ja jetzt in die Gaswirtschaft abgewandert, das ist der frühere Kanzler. Also, der ist schon gar nicht mehr da. Also insofern ist das schon entspannter. Und wir wissen natürlich auch, dass wir, wenn wir unsere Politik in einer Regierung durchsetzen wollen, dass wir dann Mehrheiten brauchen und dann brauchen wir auch möglicherweise eine Koalition.

    Doch hängt es jetzt weniger davon ab, ob ich da ein bestimmtes Verhältnis zur SPD habe oder nicht, sondern da hängt es davon ab, welche Inhalte man gemeinsam vereinbaren kann. Wenn die Inhalte stimmen, dann ist mir doch vollkommen egal, ob ich ausgeschlossen wurde oder ob ich ausgetreten wäre.

    Wenn die SPD wieder sozialdemokratisch wird - dafür gibt es zarte Ansätze, die man erkennen kann -, dann kann ich mir vorstellen, dass es Möglichkeiten der Zusammenarbeit gibt. Ich betone: Die Inhalte müssen stimmen. Welche müssten das sein? Ich möchte das noch mal sagen, Mindestlohn einführen, das ist klar. Aber Rente mit 67 zurück nehmen, das ist ganz wichtig. Raus aus Afghanistan, vor Kurzem wurden wir noch eher geprügelt, wenn wir den Vorschlag gemacht haben. Inzwischen diskutieren alle über einen Abzugstermin.

    Boysen: Das sind jetzt Appelle an die SPD, sich zu bewegen. Die Frage ist natürlich an Sie als designierten Parteichef der Linken, inwieweit sich Ihre Partei auch bewegen muss. In der hinter uns liegenden Woche erging ein Beschluss der Bundestagsfraktion, in dem eine klare Haltung zu Israel und den Palästinensern formuliert wurde. Das war immer einer der zentralen Punkte, die zwischen der SPD und der Linken standen. Wo zeichnet sich noch eine mögliche Annäherung ab?

    Ernst: Jetzt nehmen wir mal die Gesundheit. Wir wissen, dass dort die politischen Gegner eine Kopfpauschale planen, die dazu führt, dass die, die weniger verdienen, mehr bezahlen müssen, und ich zum Beispiel - als einer der Besserverdienenden -entlastet würde.

    Das führt im Übrigen dazu, dass viele Menschen staatliche Leistungen in Anspruch nehmen müssten, weil sie ihre Krankenkassenbeiträge nicht mehr bezahlen könnten. Also ich sage mal, Hartz IV im Gesundheitswesen würde eingeführt werden. Wenn die Sozialdemokratie tatsächlich ihre Forderung ernst machen durch Einführung einer Bürgerversicherung und wenn sie durch Inhalte mit uns ins Gespräch kommt, denn da sind wir zurzeit noch weit auseinander, dann wäre das ein Punkt, den wir gemeinsam durchaus voranbringen könnten. Und es gibt Punkte, wo man weitere Differenzen hat, die man diskutieren muss.

    Boysen: Sie haben schon den Afghanistaneinsatz angesprochen. Ist da Ihre Forderung nach einem sofortigen Abzug ein Lackmustest für Ihre Kompromissfähigkeit? Ich erinnere daran, dass auch die ja einst pazifistischen Bündnisgrünen in Regierungsverantwortung dann umdenken mussten.

    Ernst: Das ist für uns ein absoluter No-go-Punkt. Wir werden diese Frage so bearbeiten, wie wir sie bisher bearbeitet haben. Raus aus Afghanistan. Wir wären ja vom Klammerbeutel gepudert, wenn man diese Position anders sieht. Die Mehrheit der Bevölkerung vertritt unsere Position.

    Boysen: Die Frage ist ja: Wann und in welcher Weise?

    Ernst: Ja, wir sagen sofort. Da meinen wir nicht kopflos.

    Boysen: Da sind Sie die einzigen. Wenn wir jetzt uns die Frage stellen, wo ist eine Kompromisslinie, dann muss es ja Bewegung geben.

    Ernst: Ja, die SPD bewegt sich doch schon. Bis vor einem Jahr hat im Deutschen Bundestag niemand über einen Abzugstermin gesprochen. Inzwischen bewegt sich die SPD. Wir haben doch nicht den geringsten Anlass dazugegeben.

    Boysen: Aber bis zum sofortigen Abzug geht die SPD nicht. Das hat diese Woche auch gezeigt.

    Ernst: Die SPD hat momentan folgende Position: Wenn ich es richtig verstanden habe, sagen die jetzt, wenn die Amerikaner rausgehen, dann gehen wir auch raus. Sie werden erleben, die Position der SPD wird sich weiter verändern. Wir müssen konsequent bei unserer Position bleiben, dann werden die anderen sich auf uns zu bewegen. Abzug heißt für uns nicht Flucht, sondern Abzug heißt geordneter Rückzug. Und den muss man jetzt einleiten. Das ist unsere Position, so schnell wie möglich raus.

    Boysen: Auf ihren Plakaten steht aber: sofortiger Abzug.

    Ernst: Sofort heißt doch nicht, dass jeder jetzt seine Sachen packt und flieht. Wir reden von Abzug und nicht von Flucht. Und dass das nicht in einem Tag zu bewerkstelligen ist, das weiß jeder. Das war auch nie unsere Position.

    Boysen: Herr Ernst, gucken wir nicht auf den Hindukusch, sondern wenden wir uns Rhein und Ruhr zu. Akut wird die Frage einer Annäherung an die SPD nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Die Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten Hannelore Kraft distanziert sich von der Linken und sie erklärt Ihre Partei, Herr Ernst, für nicht regierungs- und nicht koalitionsfähig.

    Gebetsmühlenartig wird jetzt von der Linken gesagt, Frau Kraft manövriere sich da in eine sogenannte Ypsilanti-Falle. Sie nehme sich also die Chance, nach der Wahl glaubwürdig zu bleiben und sich der Linken zum Zwecke der Regierungsbildung dann doch zuzuwenden. Was bedeutet eigentlich diese Ausgrenzung, dieses dauerhafte, permanente Diskreditiertwerden für Ihre Partei?

    Ernst: Also, Frau Kraft sagt, mit uns kann man nicht. Schauen wir uns doch einmal an, an wem es gescheitert ist in Hessen, doch nicht an den Linken. In Hessen ist es gescheitert, weil die SPD sich selbst zerlegt hat, weil sie ihre Spitzenkandidatin demontiert hat.

    Boysen: Aber in Nordrhein-Westfalen liegt das alles ein bisschen anders.

    Ernst: Aber die Aussage, dass es an uns läge, wenn eine Regierung nicht funktioniert, die ist wirklich abstrus. Und wenn ich den Landesverband in Nordrhein-Westfalen nehme und wenn ich mir zum Beispiel die Spitzenkandidatin anschaue, eine anerkannte Lehrerin in dem Lande.

    Boysen: Bärbel Beuermann.

    Ernst: Und wenn ich mir den Zustand der SPD betrachte, wo zum Beispiel ein Wolfgang Clement nicht ausgeschlossen wurde, sondern die Partei verlassen musste, obwohl er wirklich parteifeindliche Positionen vertreten hat, kann ich sagen, der Zustand der SPD, der ist nun wirklich aus meiner Sicht bei Weitem unangenehmer als unserer. Und wenn ich mir den Landesverband in Nordrhein-Westfalen anschaue, die haben ein Wahlprogramm, da kann man an vielen Punkten sagen, da ist man anderer Meinung. Deshalb werden uns auch nicht 100 Prozent wählen.

    Boysen: Und da gab es einen Entwurf, der überhaupt nicht mehrheitsfähig war mit so viel Extrempositionen.

    Ernst: Welche meinen Sie denn? Welche Extremposition meinen Sie denn? Recht auf Rausch?

    Boysen: Beispielsweise.

    Ernst: Nehmen wir Recht auf Rausch. Da regt sich die ganze Republik auf. Wenn in Bayern Oktoberfest ist und sich eine Stadt mit vielen Fremden besäuft und das Recht auf Rausch praktiziert wird, dann sagt keiner was. Und wenn es bei den Grünen.

    Boysen: Also sind Sie für die Drogenfreigabe?

    Ernst: Wenn es bei den Grünen im Programm stand, hat sich auch keiner aufgeregt. Ich denke, man muss, wenn ein solcher Vorschlag bevor das Programm verabschiedet ist, diskutiert wird, nicht gleich glauben, man muss wie die Geier auf eine Partei einhacken, weil sie eine Debatte führt, die in anderen Ländern schon längst überwunden ist, wenn ich an die Niederlande denke.

    Boysen: Nein, da gab es ja auch andere Forderungen.

    Ernst: Also was denn?

    Boysen: Die Steuererhöhungen beim Bund, die Verstaatlichung ging ganz, ganz weit, die 30-Stunden-Woche, wenn ich recht weiß, im ersten Entwurf bei vollem Lohnausgleich - das sind ja doch mehr als nur diese spektakuläre Forderung auf Recht auf Rausch, die da Unmut erregt haben.

    Ernst: Ja, da sind mit Sicherheit auch Forderungen drin, die diskutiert werden müssen. Ich nehme mal einige, nehmen wir mal die Frage, was machen wir mit den Stromkonzernen? Ich nehme auch die Debatte auf, was machen wir mit den Banken? Wenn wir gegenwärtig sehen, dass die Banken diese Wirtschaft austrocknen, weil jemand, der einen privaten Kredit nimmt, zu zwölf, 13 Prozent Zinsen verdonnert wird und die Banken sich selber mit einem Prozent das Geld leihen, wenn man weiß, dass die Banken den Mittelstand nicht entsprechend mit Krediten versorgen und damit die Wirtschaft austrocknen und die Krise verschärfen, dann muss ich doch mal sagen, die Vergesellschaftung, die staatliche Kontrolle über die Banken ist ein Gebot der Stunde.

    Boysen: Wie kommt es denn dann eigentlich, dass selbst die Gewerkschaften, die in Nordrhein-Westfalen ja sehr stark sind, namentlich auch DGB-Chef Guntram Schneider, dem auch ein Platz am Kabinettstisch von Frau Kraft angedient wurde, dass also die Gewerkschaften sich gegen eine Regierungsbeteiligung Ihrer Partei aussprechen?

    Ernst: Also, ich kann Ihnen nur sagen, wenn Herr Guntram Schneider, mein Kollege, für die SPD kandidiert, ist ja klar, dass er natürlich in dieser Frage sich anders äußern wird. Ich kenne eine ganze Reihe von Genossinnen und Genossen aus der Gewerkschaftsbewegung heraus, die in unserer Partei Mitglied sind.

    Also, ich weiß nicht, ob die Gewerkschaft in irgendeinem demokratischen Prozess einer Landesvorstandssitzung oder in einer entsprechenden Konferenz beschlossen hätte, dass die Linke nicht wählbar ist. Wir sind ja keine Einheitsgewerkschaft. Im Übrigen kann ich Ihnen versichern, dass sehr viele Gewerkschaftsmitglieder uns wählen werden.

    Boysen: Es sind aber nicht nur die Gewerkschaften, die sich da sehr skeptisch zeigen. Auch der wohl vermutlich nach der Arithmetik nötige zweite Koalitionspartner, auch die Grünen, empfangen Sie nicht gerade mit offenen Armen.

    Ernst: Das ist doch logisch. Schauen Sie, die Grünen, die regieren in Hamburg mit der CDU, im Saarland haben sie sich von der FDP kaufen lassen. Diese Partei der Grünen ist auch nicht mehr so richtig grün. Ich habe den Eindruck, ein bisschen sind die schon kompostiert in der letzten Zeit, weil sie viele ihrer Positionen aufgegeben haben.

    Boysen: Das ist das Bild, das Sie immer benutzen. Darf ich Sie mal fragen, ob das eigentlich zur Beschreibung einer politischen Partei, die man möglicherweise als Partner braucht, der rechte Begriff ist?

    Ernst: Es ist dann ein richtiger Begriff, wenn man darauf hinweist, dass diese Partei ihre Grundsätze verlassen hat. Übrigens wie die SPD.

    Boysen: Und dass Teile Ihrer eigenen Partei, also beispielsweise die antikapitalistische Linke, bestenfalls tolerieren wollen würde, aber ohne vertragliche Bindung, schockiert Sie das?

    Ernst: Das schockiert mich doch nicht. Wir haben verschiedene Strömungen. Übrigens die Mehrheit in unserer Partei ist in keiner Strömung. Und diese Frage würde, wenn wir uns zu einer Koalition bereitfänden, weil die Inhalte stimmen - wir sagen ja, das könnte aus unserer Sicht durchaus so sein -, dann werden wir das in einer Mitgliederentscheidung klären. Das ist doch ganz klar. Und dann werden Sie sehen, dass die Mehrheit einem vernünftigen Koalitionsvertrag, in dem unsere Inhalte, unsere Essentials drin sind, auch zustimmen werden.

    Boysen: Herr Ernst, wenn die Partei den Einzug in den Landtag in Nordrhein-Westfalen verpatzt, was bedeutet das auch für Sie?

    Ernst: Das bedeutet, dass ich mich maßlos darüber ärgere. Und das bedeutet dann, dass wir natürlich eine schlechtere Ausgangsposition hätten für die künftigen Landtagswahlen im Westen.

    Boysen: Herr Ernst, ich habe eine abschießende Frage. Sie haben gesagt, wir sind zu brav, das haben Sie Ihren Genossen ins Stammbuch geschrieben. Wo wollen Sie denn aufmüpfiger werden künftig?

    Ernst: Wir müssen vor allen Dingen aufpassen, dass wir nicht so werden, wie die anderen Parteien. Das bedeutet, wir müssen bei unseren Grundpositionen bleiben und dürfen nicht beliebig werden. Und dann werden wir natürlich auch unangenehm sein. Das ist mit brav gemeint. Brav heißt angepasst. Brav heißt, so zu sein wie die anderen. Und das wird, wenn wir, Gesine und ich, in dieser Partei noch was zu sagen haben, auch so bleiben.