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"Die Kirche hat enorm an Einfluss verloren"

Der Münsteraner Soziologe Detlef Pollack hält die Zahl der Kirchenaustritte in Deutschland für nicht dramatisch. Das Religiöse habe eine große "Beharrungskraft", sagt er. Das Verhältnis der Deutschen zur Kirche beschreibt er als "konventionell".

Detlef Pollack im Gespräch mit Michael Köhler | 17.05.2012
    Köhler: In Mannheim hat der Katholische Kirchentag begonnen. Und das ist naturgemäß auch ein Forum für den Laienkatholizismus, nicht nur über die Liturgie. Sondern gerade auch über strittige Themen zu sprechen. Der Klerus, etwa Kardinal Joachim Meisner, ist von zu viel Säkularisierung in der Kirche gar nicht begeistert, wen wundert das. Kirche ist jetzt überall nämlich modern. Und wo sie die willige Bevölkerung nicht mitnimmt, da verliert sie sie. Ich habe mit dem Münsteraner Religionssoziologen, Detlef Pollack, über Prozesse der Säkularisierung gesprochen und habe ihn gefragt: Hat die Kirche heute - verglichen mit früheren JAhren - an gesellschaftlicher Prägekraft verloren.

    Pollack: Also ich denke, wenn man die Situation der Kirchen in den 90er-Jahren und auch jetzt nach 2000 mit der Situation in den 50er- oder 60er-Jahren vergleicht, dann ist das überhaupt keine Frage. Die Kirche hat enorm an Einfluss verloren, an Prägekraft verloren. Also bei den evangelischen Kirchentagen in den 50er-Jahren – 1954, 55, 56 –, da saßen Hunderte, Tausende von jungen Menschen zu Füßen der Bischöfe und haben gelauscht, wenn die eine Bibelauslegung gemacht haben, haben mitgeschrieben. Das ist heutzutage geradezu unvorstellbar, dass man also das Wort der Kirche so ernst nimmt, dass man meint, davon Wegweisung zu bekommen. Für viele ist das natürlich nach wie vor von Bedeutung, aber ich glaube, für die Mehrheit ist das sehr stark in den Hintergrund getreten.

    Köhler: Professor Pollack, müssen wir nicht viel mehr zwischen so was wie Amtskirche oder anders gesagt Kirchlichkeit auf der einen Seite und Religiosität auf der anderen unterscheiden?

    Pollack: Unbedingt. Ich würde auch sagen, man muss unterscheiden zwischen Kirchlichkeit und Religiosität. Viele Menschen sagen von sich selbst, dass sie glauben können ohne die Kirche, dass sie religiös sind, ohne in den Gottesdienst zu gehen. Man muss aber auch die andere Seite sehen, nämlich dies, dass das nur zum Teil richtig ist. Also wenn man versucht, danach zu fragen, ob diejenigen, die nicht zur Kirche gehen, auch an Gott glauben, dann gibt es davon sehr viele, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man an Gott glaubt, ist weitaus höher, wenn man zur Kirche geht. Es gibt eine statistisch auch nachweisbare Korrelation zwischen Kirchenbindung auf der einen Seite und Religiosität, Glaube an Gott und anderen religiösen Orientierungen auf der anderen Seite.

    Köhler: Also Kirchenaustritte sind nicht zwingend auch ein Zeichen von Areligiosität?

    Pollack: Nicht in jedem Falle, aber sie sind im Wesentlichen vor allen Dingen dies: nämlich ein Zeichen dafür, dass man sowohl mit der Kirche als auch mit dem Glauben nichts zu tun haben will. Die Menschen sagen zwar von sich, sie könnten ohne Kirche religiös sein, aber nur die wenigsten sind es auch.

    Köhler: Gilt die Gleichung, mehr Moderne ist gleich weniger Religion?

    Pollack: Das ist eine verkürzte Gleichung, obwohl sie nicht ganz und gar falsch ist. Also wenn wir zum Beispiel nach Irland schauen, dann sehen wir ganz klar, dass in dem Maße, wie sich das Land modernisiert hat, wie der Wohlstand gestiegen ist, die Menschen in stärkere Distanz zur Kirche gegangen sind, weniger am Gottesdienst teilnehmen und so weiter, also es gibt einen Zusammenhang, aber das ist nicht der einzige Zusammenhang. Man muss sehen, dass Kirchenbindung, Religiosität von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird und der Grad der Modernisierung ist nur ein Faktor unter vielen.

    Köhler: Könnte es nicht sein, dass Religiosität dabei ist, als so ein ästhetisches Entlastungs- und Wellnessprogramm angenommen zu werden, aber die Zumutungen, vor denen drückt man sich so ein bisschen? Also bei der Kommunion und Weihnachten ist die Kirche voll, ansonsten ist sie ein bisschen weniger voll, weil irgendwie ist das auch ein anstrengendes Programm, was einem das Christentum da abverlangt, um jetzt von anderen Religionen mal eine Sekunde lang zu schweigen.

    Pollack: Ja, ich würde sagen, christlicher Glaube, die Akzeptanz von kirchlichen Lehrsätzen ist nicht billig zu haben, und das ist auch ein Kulturgut, was man sich erst erwerben muss. Man sieht das im Osten Deutschlands: Wenn das religiöse Wissen verloren gegangen ist, dann geht damit eben auch die Nötigkeit verlustig, überhaupt noch die Menschen zu erreichen.

    Köhler: Man muss ständig erklären, was Ostern und Pfingsten ist.

    Pollack: Ja, und auch, was Himmelfahrt ist, das ist gar nicht selbstverständlich. Allerdings trifft das ja nun nicht nur die Religionen, auch der Sport, auch die Kunst, auch die Literatur sind hoch voraussetzungsvoll, überall muss man sich Wissensbestände aneignen.

    Und ich würde sagen, ganz typisch ist eben für das Verhältnis, sagen wir mal der Deutschen oder der Mehrheit der Deutschen zur Religion, zur Kirche, dass man nicht allzu viel investiert. Man hat ein nicht unbedingt negatives Verhältnis zur Kirche oder zum Christentum oder zur Religion, man ist relativ entspannt, aber es nimmt auch keinen zentralen Stellenwert ein. Und die Konsequenz dessen ist, dass man es sich tatsächlich an vielen Stellen relativ leicht macht, gewissermaßen mit Versatzstücken Vorlieb nimmt, ohne allzu viel zu investieren.

    Köhler: Sehe ich es richtig – und damit frage ich in Ihnen den Religionssoziologen –, dass die esoterischen Bewegungen eher unbedeutender geworden sind, wenn ich das so mit den 80ern vergleiche, und umgekehrt, das, was man so in Ihren Kreisen das Ritenmonopol der Kirche nennt, vielleicht denen gar nicht so bewusst ist, dass die was zu bieten haben, was kein anderer sonst bietet?

    Pollack: Ja, also zunächst mal zur Esoterik: Also da muss man unterscheiden zwischen unterschiedlichen Formen des Interesses oder der Bindung oder der Aktivität. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass das Interesse an Esoterik und an New Age oder an Zen-Meditation, also an nicht kirchlichen Formen der Religiosität, an Spiritualität und so weiter, relativ groß ist und durchaus nicht abgesunken ist, sondern eher sogar noch leicht angestiegen ist.

    Köhler: In allen Teilen Deutschlands?

    Pollack: Vor allen Dingen im Westen Deutschlands, aber das sind kleine Zahlen, es bleibt im Grunde genommen eine Minderheit, die sich dafür interessiert, aber es ist trotzdem eher im Ansteigen begriffen, und man kann es auch daran sehen, dass es vor allen Dingen die Jüngeren sind, die sich für solche Formen der Religiosität interessieren. Das heißt aber nicht, dass diese Formen der Religiosität, also die Spiritualität, dieses – was Sie auch genannt hatten – Wellnessreligiosität, dass das an die Stelle der traditionalen Kirchlichkeit tritt, sondern man muss sagen, dass die Kirchen nach wie vor, gerade was die Riten angeht, eine außergewöhnlich starke Stellung auf dem religiösen Feld haben.

    Zum Teil nehmen das die Kirchen selber gar nicht so wahr, weil sie immer darüber nachdenken, wie sie noch mehr Menschen erreichen können, weil sie sich dessen bewusst sind, dass viele Menschen der Kirche den Rücken kehren, aber an mehreren Stellen, also vor allen Dingen, was die Riten angeht, aber auch was die Sozialarbeit angeht, ist die Kirche, wie man heutzutage so schön sagt, gut aufgestellt und nach wie vor ein starker Anbieter. Und ich würde sagen, dass es allerdings doch nur eine Minderheit der Kirchenmitglieder ist, die diese Riten wirklich zu schätzen weiß, die meisten gehen ja zur Kirche gar nicht hin.

    Köhler: Ich greife mal Ihr Wortfeld der Marktwirtschaft auf, Kirche als starker Anbieter: Das heißt, Religion verliert gesellschaftlich gar nicht an Bedeutung?

    Pollack: Doch, das würde ich schon sagen. Also sehr langsam, aber insgesamt muss man sagen, dass der Bedeutungsrückgang des Religiösen, der Kirche, der Religion, des Christentums, auch des Glaubens an Gott, sagen wir mal in den letzten 20, 30 Jahren unübersehbar ist. Es gibt immer ein paar Gegenbewegungen – in den 90er-Jahren haben wir eine starke Gegenbewegung, aber inzwischen sind die Zahlen wieder rückläufig, also im Großen und Ganzen geht es zurück.

    Allerdings ist die Beharrungskraft des Religiösen, also vor allen Dingen des Christentums, auch sehr groß, und die Menschen stehen zum Christentum, verstehen sich als Christen, treten zwar aus der Kirche aus, aber es ist wirklich nur eine Minderheit, wenn man mal bedenkt, dass es die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche gab. Selbst da ist die Kirchenaustrittsrate nur auf ungefähr 0,6 bis 0,7 Prozent nach oben gegangen, das ist in etwa so viel, wie normalerweise aus der evangelischen Kirche austreten, etwas mehr, aber kaum mehr. Also das sind im Grunde genommen keine dramatischen Entwicklungen. Man könnte sagen, es gibt so was wie eine Trägheit auf dem religiösen Feld, und das hat damit zu tun, dass das Verhältnis vieler Deutscher zur Religion relativ konventionell ist – man will es nicht missen, aber man ist auch nicht bereit, allzu viel zu investieren.

    Köhler: Sind wir auf dem Weg, ein gottloses oder ein kirchenfernes Volk zu werden?

    Pollack: Also auf jeden Fall ein kirchenfernes, aber wenn wir uns den Westen Deutschlands im Unterschied zum Osten Deutschlands anschauen, dann muss man sagen, die Mehrheit glaubt nach wie vor an Gott, allerdings nicht mehr unbedingt an einen personalen Gott, der in die Welt eingreift, der Wunder bewirken kann, sondern mehr an eine höhere Macht. Man kann das in ganz Westeuropa beobachten, dass das Gottesbild sich verändert hat. Die Menschen haben einen vagen Gottesglauben, aber sie geben ihn nicht einfach auf.

    Köhler: Der Prozess der Säkularisierung ist unumkehrbar?

    Pollack: Das würde ich sagen. Unumkehrbar ist vielleicht zu scharf ausgedrückt, aber ich würde sagen, dass in Westeuropa es nicht vorstellbar ist, dass die Differenzierung zwischen den einzelnen Bereichen weitgehend zurückgenommen wird. Es gibt einige Stellen, wo man beobachten kann, dass die Differenzierung zum Beispiel zwischen Wissenschaft und Religion oder aber auch zwischen Medizin und Religion teilweise zurückgenommen wird, also in der Medizin ganz offensichtlich. Ganzheitliche Methoden ziehen auf einmal ein.

    Oder aber auch in der Wissenschaft, ein ich sag mal antipositivistisches Wissenschaftsverständnis kann sich auf einmal auch mit religiösen Überlegungen verbinden. Da sehe ich sozusagen so einen Prozess der Entdifferenzierung, aber nur partiell, und im Großen und Ganzen muss sich auch die ganzheitliche Medizin, aber auch ein nicht positivistisches Wissenschaftsverständnis dann doch wieder vor der Wissenschaft oder vor der Medizin rechtfertigen und muss zeigen, dass sie tatsächlich einen Effekt bringt. Also ich sehe nicht gewissermaßen, dass die einzelnen Rationalitäten der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche wirklich aufgeweicht werden, obwohl es Tendenzen in diese Richtung gibt.

    Köhler: Die kultivierende und pazifierende Kraft der Religion ist vielleicht noch nicht ganz ausgespielt worden, die scheint vielen immer noch nicht ganz bewusst genug zu sein, oder?

    Pollack: Ja, aber wobei man natürlich auch sagen muss, dass Religion in verschiedene Richtungen wirken kann. Sie kann auf der einen Seite pazifizierend wirken, sie ist ein Medium der Verständigung, aber auch ein Medium des Konfliktes, und das wird von vielen Menschen immer mehr wahrgenommen. Also in Deutschland zum Beispiel sagen etwa 70 Prozent der Bevölkerung, dass die zunehmende Pluralität des Religiösen eine Ursache für Konflikte ist – das sieht man nicht nur in Deutschland, sondern das sieht man auch in Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern. Also Religion ist auf die politische Agenda zurückgekehrt, das kann man bestimmt zweifelsfrei, aber damit verbunden ist auch, dass Religionen vor allen Dingen als ein Medium der Austragung von Konflikten wahrgenommen wird und wahrscheinlich weniger, inzwischen weniger als eine Frieden stiftende Kraft.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.