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Die Kraft der Stimme

Die Stimme kann man nicht bloß als Medium von Sprache verstehen, sondern sie stellt auch ein eigenständiges Ereignis dar. Berliner Forscher untersuchen das Sprechen als situations- und raumgebundene Interaktion und nutzen dabei verschiedene Kunstformen und Medien.

Von Eva-Maria Götz |
    "Raumklang ist ja eigentlich ne Tautologie, jeder Klang ist räumlich, jede Stimme ist räumlich. Nur in der Tradition der Beschäftigung mit Stimme aus philosophischer oder auch musiktheoretischer Sicht ist sozusagen die Räumlichkeit von akustischen Phänomenen bislang vergessen worden."

    Behauptet Doris Kolesch, Professorin am Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin und Gastgeberin der Tagung.

    "Wir wollen mit dieser Tagung die Räumlichkeit von Stimmen erkunden und der Begriff der A-topie: Topos ist ja sozusagen ein Raum, eine Verortung und Atopie ist etwas, was ich nicht einordnen kann und die Stimme ist etwas, was zwar existiert, was wir alle wahrnehmen, wo wir nicht sagen können: das ist die Stimme. Wo ist eigentlich die Stimme? Ist die Stimme in mir, ist sie zwischen uns beiden, wenn ich spreche, ist sie im Zimmer? Man weiß es nicht, sie ist eigentlich überall und nirgendwo."

    Zwei Grundgedanken stehen im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens und der Tagung: erstens Stimme nicht bloß als Trägerin, als Medium von Sprache zu verstehen, sondern als ein eigenständiges Ereignis. Und zweitens das Sprechen als situations- und raumgebundene Interaktion zu untersuchen anhand von verschiedenen Kunstformen und Medien. Dabei werden Beispiele aus dem Theater und der Performancekunst ebenso unter das Hörrohr genommen wie Video- und Hörspiele, Film und Internet, Stimmphänomene des Alltags und der Populärkultur. Doris Kolesch:

    "Es gibt ja dieses wunderbare Zitat: "Wenn jemand spricht, wird es heller" von Siegmund Freud, was angeblich in kleiner Neffe Freuds mal gesagt hat. Also das Eigentümliche ist ja, dass jemand in dem Moment, wo er spricht, sich auch in anderer Weise seinen Mitmenschen exponiert, er wird angreifbar, er wird verletzbar, man könnte auch sagen, er wird durchs Sprechen in einer anderen Weise sichtbar, als wenn er nur in seiner körperlichen Präsenz da ist und das ist Teil dieses Forschungsprojekts, das wir sagen, die Stimme ist eine Form der Manifestation unserer Selbst als Menschen im Raum."

    In einer Kultur, die weitgehend von visuellen Eindrücken geprägt scheint, suchen Doris Kolesch und die Mitarbeiter des Forschungsprojekts nach der akustischen Erscheinung des Menschen. Denn grade in der Kunst hat das Spiel mit Stimme und Identität eine lange Tradition.

    Schon im Theater von William Shakespeare sahen die Zuschauer junge Mädchen, die mit männlicher Stimme sprachen: durch das Auftrittsverbot von Frauen auf der Bühne inspiriert (alle Frauenrollen wurden von Männern gespielt), erfand Shakespeare Figuren und Situationen, in denen Geschlechtergrenzen überschritten und Erwartungshaltungen gebrochen wurden auf ebenso ironische wie erotische Art. Ein theatralisches Mittel, dessen sich die Opernkomponisten durch die Jahrhunderte hinweg mit Kastratenstimmen und Mezzosopranistinnen in Hosenrollen immer wieder mit großer Wirkung bedienten.

    Mit schillernder, Geschlechtergrenzen überschreitender Persönlichkeit und dunkler, männlicher Stimme faszinierte auch die Sängerin Zarah Leander, wie die Professorin für Gender Studies an der Universität Stockholm, Tiina Rosenberg, in ihrem insgesamt wenig erhellenden Referat über die Wirkung der ebenso verführerischen wie korrumpierbaren Diva insbesondere auf die Homosexuellenszene berichtet.

    "Die Stimme kann im Falle Zarah Leander nicht von ihrer Bühnenperson getrennt werden. …Da haben wir die gestische Stimme, die sehr außergewöhnlich war, und besonders in einem Land wie Schweden. …Man darf eigentlich nicht auf diese Art und Weise provozieren. Und sie war anders, die Stimme war anders, die Persönlichkeit war anders, ihre Vergangenheit war anders und in dieser Art und Weise war sie eine wandelnde Provokation."

    Aussagekräftiger ist da der Beitrag des Züricher Kunsthistorikers Philipp Ursprung über den Einsatz von menschlichen Stimmen in der zeitgenössischen Kunst. Ihn faszinierte die kanadische Künstlerin Janet Cardiff, die ihre "whispering rooms" unter anderem auf der Biennale in Venedig ausstellte.

    "Das ist ein alter Holztisch mit zerkratzter Oberfläche, den ich vor 10 Jahren in einer Ausstellung zum erstenmal gesehen habe und er stand in einer eher dunklen Ecke und war matt beleuchtet, in den Ritzen der Oberfläche waren Fotosensoren eingelassen, die man kaum wahrgenommen hat, man sah einige Drähte heraushängen und an der Wand einige Lautsprecher, das war das Aussehen des Tisches. Wenn man sich näherte und mit der Hand nah über die Tischoberfläche fuhr oder sie berührte, reagierte der Tisch. Ich kann mich an eine wohlklingende leise, weibliche Stimme erinnern, die sagte: touch me, I want you to touch me."

    Die Wirkung dieser unerwarteten Stimme auf die Ausstellungsbesucher, so Philipp Ursprung, war eine Mischung aus Belustigung und leichter Beklemmung, in jedem Fall ein nachhaltiger Eindruck:

    Eine sehr überraschende Begegnung, auf das ist man normalerweise nicht gefasst, wenn man sich im Kunstkontext bewegt und sie produziert die Illusion einer körperlichen Nähe oder Intimität, wie wir sie sonst fast nie haben und das hat sich bei mir in das Gedächnis eingegraben. Ich kann mich an das erinnern wie an den Moment der ersten Begegnung mit einem Menschen, der mir dann später sehr wichtig ist.

    Einen Beweis für das zukünftige Primat des Akustischen vor dem Visuellen in der modernen Kunst, eines "acoustic turns", will Ursprung trotz des Erfolges von Künstlern wie Janet Cardiff oder Bruce Nauman jedoch nicht bestätigen.

    "Wenn man auf die Kunst insgesamt blickt, gibt es in den letzten 20 Jahren natürlich eine Reihe von sehr prominenten Künstlern, die mit Stimme als Medium arbeiten, weil es ihnen erlaubt physische Anwesenheit zu suggerieren und Körper ins Spiel zu bringen.
    Das ist trotzdem eine Randerscheinung…"

    Das man auch mit Stimmen, die nicht von realen Personen stammen, große Wirkung erzielen kann, beweist der Erfolg des britischen Popduos Clives Barkley, erzählt Holger Schulze vom Studiengang Sound Studies der Universität der Künste Berlin.

    "Zwei Musiker, die auf sehr eigene Weise aus vorgefundenen bestehenden Quellen sehr dynamisch, sehr stimmzerreißend und dabei sehr belebend und dynamisch und gar nicht zerstörerisch Musik erzeugen, Popmusik, die sie erfunden haben, sehr synthetisch….also bestehende Quellen offensiv, auch urheberrechtsverletzend ineinander fügen zu ganz neuen Klängen, die popmusikalisch sehr erfolgreich sind, in Großbritannien von null auf Platz 1 in den Charts."

    Holger Schulze forscht mit seinen Studenten über die Möglichkeiten technischer Manipulation von menschlichen Stimmen in den Medien und die Gestaltung von Räumen, in denen die Stimme optimal zum Tragen kommt.

    "Die Gestaltung von Stimme im Raum sowohl technisch als auch in der Übermittlung ist ein wichtiges Thema, das heißt, sucht man nach einer perfekten Stimme, gerundeten Stimme, einer ganz fehlerfreien Stimme oder sucht man sogar die Brüchige, die Rauheit, die Vielfalt, … zu zeigen. …Letztendlich berührt das auch die Frage, wie man Umgebungen für Stimme schafft, also viele der bei uns Studierenden sind ausgebildete Architekten, Stadtplaner, die interessieren sich dafür, wie Räume geschaffen werden können, in denen eine menschliche Stimme zum Tragen kommt und wir allen kennen so viele Räume, in denen man denkt, die sind nicht für Menschen gemacht, sondern sind einfach Kuben, in denen man etwas abstellen kann, aber Menschen können sich hier eben nicht wirklich unterhalten."

    Ein wichtiges Thema für einen Raum, in dem die menschliche Stimme ebenfalls traditionell im Mittelpunkt steht: dem Sprechtheater. Doris Kolesch:

    "Wir haben jetzt ganz viele Inszenierungen, wo die Leute etwas irritiert rausgehen und sagen, ich hör ja die Schauspieler gar nicht, kann der nicht sprechen, haben die keine Stimmausbildung mehr? Nein, die haben alle noch eine Stimmeausbildung, die können alle gut sprechen, aber es geht darum, dass die Regisseure und Regisseurinnen sagen, die Stimme und auch die gesprochene Sprache ist ein Material, dass ich gestalten kann, so wie ich den Raum gestalte, so wie ein Bühnenbildner die Kulisse gestaltet und ich will die Sprache nicht als nur als Medium für Kommunikation, sondern auch als Medium von Annäherung und Abwehr sichtbar machen."

    Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob eine als Material benutzte Stimme auch immer noch für die Manifestation eines Menschen im Raum bürgt. Schauspielerstimmen verstärkt und verfremdet durch Mikroports, die eine Zuordnung zu den spielenden Menschen auf der Bühne kaum noch möglich machen, wurden in den letzten Jahren geradezu inflationär eingesetzt und sind als theatralisches Mittel schon wieder aus der Mode. Das Thema Stimme und Akustik im öffentlichen Raum wird uns, die wir uns seit Neuestem von Navigationsgeräten im Auto durch den Verkehr leiten lassen, bei Sprachcomputern Bankgeschäfte tätigen, Reisen buchen und kaum einmal ohne künstliche Beschallung einkaufen gehen jedoch mit Sicherheit zunehmend beschäftigen. Die Berliner Tagung konnte da nur einen kleinen Ausschnitt beleuchten und einige Anregungen geben.