Dienstag, 14. Mai 2024

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Die larmoyante Generation

Das Schicksal meinte es nicht gut mit dem schönen Jüngling aus dem sagenhaften Böotien: Narziss, so berichtet der Dichter Ovid, war ein misanthropischer Zeitgenosse und nur in sein eigenes Spiegelbild verliebt, bis er an den Entzückungen über das eigene Selbst verstarb.

Michael Braun | 13.02.2004
    Zu den eifrigsten Anwärtern auf die aktuelle Neubesetzung dieser Rolle des Narziss gehört eine soziologisch privilegierte Gruppe: Die Dreißigjährigen, so suggerieren uns die Generationsforscher, sind eine so prägnante Altersklasse, dass ihnen höchste Aufmerksamkeit gebührt. Für die entsprechende Legendenbildung haben Populärethnologen wie Florian Illies gesorgt, der seine Altersgenossen an der Schwelle zum dreißigsten Lebensjahr mit dem Logo der Generation Golf schmückte. Bei diesen Dreißigjährigen scheint es sich offenbar um eine auserwählte Generation zu handeln. Primärmerkmal dieser Generation ist es jedenfalls, dass sie sich unablässig und unter Mobilisierung einer beträchtlichen Larmoyanz selbst historisieren muss.

    Nun hat sich auch das Zentralorgan für die Analyse gesellschaftlicher Makro- und Mikro-Strukturen, nun hat sich die Zeitschrift "Kursbuch", für eine subtile Inspektion der Dreißigjährigen entschieden. Im aktuellen "Kursbuch" mit der Nummer 154 versammeln sich die ambitioniertesten Essayisten und Journalisten aus dieser Altersklasse zur generationssoziologischen Selbsterkundung. Gemeint sind natürlich vorwiegend jene Dreißigjährigen, die in der prosperierenden neuen Ökonomie der neunziger Jahre als Firmengründer oder als gutbezahlte Feuilletonisten eine Erfolgskarriere begonnen hatten.

    Die Mühelosigkeit dieser Lebenskünstler fand nach dem Einsturz der Twin Towers in New York und nach dem Börsenkollaps der "New Economy" ein jähes Ende. Der generationseigene Narzissmus, so muss man nach der "Kursbuch"-Lektüre resümieren, blieb indes vom Epochenbruch verschont. Denn man kokettiert unverdrossen weiter mit den sanften Erschütterungen, die dem eigenen Ego widerfahren sind.

    Stefanie Flamm, einer jener auserwählten Edelfedern, die drei Jahre lang die berühmten "Berliner Seiten" der FAZ füllen durften, erzählt von ihrer "ersten Entlassung". Ulrich Rüdenauer bilanziert ein "Klassentreffen" von mehr oder minder desillusionierten Dreißigjährigen. In diesem erzählerisch durchaus eleganten, aber auch sehr exhibitionistischen Stil geht es eine Weile weiter – bis zwei, drei objektivierende Beiträge von der Selbstverliebtheit dieser Generationsexpertise erlösen. Stephan Schlak geht recht ungnädig mit dem Gegenstand seiner Untersuchung um: Nie, so Schlak, war der Dreißigjährige so restlos privat wie heute; nie war er harmloser und hoffnungsloser in Distinktionsfragen verstrickt. Ijoma Mangold, Feuilletonredakteur bei der "Süddeutschen Zeitung", bilanziert mentalitätsgeschichtlich die verschiedenen Generationen von den sogenannten 68ern bis zur "Generation Golf". Sein Fazit: Was eindeutig zunimmt, ist das kollektive Selbstmitleid. Nach einigen trockenen Ironisierungen seiner vom Nicht-Handeln schon erschöpften Altersgenossen schließt er seinen Beitrag mit einer unerwarteten Pointe. "...dass man da ist, mit Blut, Muskel und Herz, mit Sinnen, Nerven und Gehirn, darauf kommt es an. Immer auf dem Posten sein, dem Ruf zu folgen, der an uns ergeht – und es ist gewiss, dass der Ruf nicht ausbleiben wird." Mit diesen pathetischen Sätzen Ernst Jüngers versucht Mangold die heute Dreißigjährigen in eine offene Zukunft zu retten. Aus "grauen Mäusen" sollen wieder "abenteuerliche Herzen" werden. Mit rein narzisstischen Helden wären solche Abenteuer freilich nicht zu bestehen.

    Das Kursbuch, Nr. 145: Die 30jährigen
    Rowohlt Berlin, 200 S., EUR 10,-