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Die Latrinen von Lübeck
Kloaken des Mittelalters erweisen sich als Fundgrube

Für kaum einen anderen Ort gibt es derart viele Namen: Donnerbalken, Toilette, Lokus oder stilles Örtchen. Einst zum Austreten aufgesucht, verraten sie heute viel über das damalige Alltagsleben. Für Archäologen sind Ausgrabungen alter Latrinen wie z.B. im Gründungsviertel von Lübeck eine Fundgrube.

Von Michael Stang | 14.02.2019
    Die Tür eines mit einem Herz verzierten Toilettenhäuschens auf einem Bauernhof in Birstein-Obersotzbach (Hessen), aufgenommen am 12.10.2005.
    Wer war wo auf den Klo? Archäologen finden in mittelalterlichen Latrinen Antworten (picture alliance / dpa / Heiko Wolfraum)
    "Wir stehen im Gründungsviertel in der Alfstraße in der Hansestadt Lübeck".
    Manfred Schneider führt durch eine kleine Straße. Hier wohnten im Mittelalter meist Kaufleute, erzählt der Archäologe. Von den alten Häusern ist nichts mehr zu sehen, im Krieg wurde viel zerstört und die Nachkriegsbauten wurden auch abgerissen. Jetzt entsteht hier ein ganz neues Wohn- und Arbeitsviertel. Schon in wenigen Jahren soll es in der Lübecker Innenstadt wieder so geschäftig zugehen wie einst im Mittelalter. Tief im Boden waren jedoch noch die Reste der Altstadt erhalten – eine riesige Fundgrube.
    "Das ist das Gebiet zwischen Marienkirche und dem historischen Hafenbereich an der Trave. Es geht hier um etwa 46 historische Parzellen, die wir auch archäologisch erschlossen haben."
    100 stille Örtchen untersucht
    In den Ruinen konnte der Forscher im Rahmen einer Ausgrabungskampagne von 2009 bis 2016 die Geschichte der Hansestadt und ihrer Bewohner rekonstruieren. Dabei stieß Manfred Schneider zusammen mit vielen Kolleginnen und Kollegen nicht nur auf alte Grundmauern und Keller, sondern auch auf die Überreste zahlreicher stiller Örtchen.
    "Von diesen Kloaken haben wir exakt 100 ausgegraben und dokumentieren können."
    In den Kloaken wurden – dank der biologischen Eigenschaften der Fäkalmasse –auch organische Materialien wie Holz oder Leder gut konserviert, über viele Jahrhunderte hinweg. Unklar ist häufig, ob die Fundstücke zufällig oder willentlich in den Gruben versenkt wurden.
    "Das sind Keramikgefäße, das sind Holzgefäße, da sind Textilreste, das sind Schmuckteile. Das sind aus dem religiösen Umfeld stammende Bildnisse, es ist alles Mögliche dabei, was eine gigantische Fundgrube von hunderttausenden von Objekten ausmacht, die wir jetzt geborgen haben, magaziniert haben und hoffentlich auch künftig auch mal wieder zeigen und ausstellen können."
    Spektakuläre Bauten waren die Lokusse allerdings nicht, erklärt Ausgrabungsleiter Dirk Rieger.
    "Das sind eigentlich große, tiefe Erdschächte, die entweder tatsächlich nur aus blankem Ton bestehen, also die Seitenwände, wenn man es mal abgeteuft hat oder eben eine Art von Aussteifung hatten, d.h. entweder sind sie aus Holz gebaut, aus Backsteinen oder sogar aus Findlingen. Die größten, die wir hatten, die hatten so einen Durchmesser drei bis vier Meter, zwei, drei Meter breit und waren, sieben, acht Meter tief, also wirklich große, tiefe Schächte."
    "Die Arbeiten in der Kloake sind delikat"
    Obenauf stand meist ein Gebäude, ein Toilettenhäuschen, mit einem Klokasten, auf den man sich zur Erleichterung niederließ. Sich im Dienste der Wissenschaft tief durch diese Hinterlassenschaften zu graben, sei für ihn als Archäologen auch hinsichtlich der Geruchsbelästigung eine Herausforderung gewesen, vor allem beim Freilegen der jüngsten Schichten. Die ältesten Schichten, jene etwa aus dem 14. Jahrhundert, seien etwas erträglicher gewesen – aber häufig auch nur mit Humor auszuhalten.
    "Also, die Arbeiten in der Kloake sind tatsächlich etwas delikat, also man steht tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes "im Gold" und gräbt sich Schicht für Schicht tatsächlich wie in Erdschichten auch hinunter."
    In einem Kooperationsprojekt mit der Universität Oxford untersucht das Lübecker Team auch Funde aus den Kloaken, die man mit bloßem Auge nicht sehen kann.
    "Parasiteneier von Spulwürmern, Bandwürmern, Peitschenwürmern, also Würmer, die primär natürlich den Magen-Darmtrakt oder den Darmtrakt befallen. Man wusste auch und konnte die auch zuordnen, weil diese Würmer gibt‘s ja heutzutage immer noch, dass die bestimmten Tiergattungen zuzuordnen sind, zum Beispiel Schweinebandwurm, Fischbandwurm oder auch Rinderbandwurm."
    Anhand der Parasiteneier sahen die Forscher, dass die Lübecker Kaufleute ihre Ernährung plötzlich umgestellt hatten.
    "Zur Zeit der Pest, so Mitte des 14. Jahrhunderts, gibt es einen Wechsel hin zu ungekochtem Rindfleisch."
    DNA beweist: in Bristol und in Lübeck auf dem Klo
    Warum ungekochter Fisch, zum Beispiel roher Lachs, der Jahrhundertlang eine der teuren Hauptspeisen war, plötzlich vom Tisch der Reichen verschwand, wissen die Forscher nicht, ebenso wenig, ob es sich bei dem rohen Rindfleisch um Tatar handelte. Sicher ist nur, dass der Darmtrakt der Menschen in Lübeck damals von Parasiten nur so wimmelte. Doch nicht nur den Wechsel der Ernährung einer ganzen Gesellschaftsschicht konnten die Forschenden nachweisen, sondern auch noch einen bemerkenswerten Einzelfall, so Dirk Rieger.
    "Ja, wir haben tatsächlich die Nadel im Heuhaufen gefunden, das war gar nicht primär beabsichtigt sondern eigentlich, muss man fairerweise sagen, ein Bei-Produkt, das ist aber umso spannender, d.h. wir haben eine genetische Signatur von einem ganz bestimmten Darmparasiten mit einem ganz bestimmten menschlichen DNA-Rest gefunden und wir haben, so ein Cross-Check man heute sagen, also so einen Wechselcheck gemacht mit verschiedenen anderen Proben aus Europa und haben also in Bristol exakt denselben genetischen Fingerabdruck gefunden."
    Das bedeutet: Dieser Klogänger hatte sich in Bristol und in Lübeck erleichtert. Vermutlich handelte es sich entweder um einen Lübecker Kaufmann, der in Bristol "Geschäfte erledigte" oder um einen Kaufmann aus Bristol, der in Lübeck großzügig austreten war.
    "Wir brauchen nicht unbedingt den Hering, der aus Lübeck bis nach Bristol gebracht wurde oder umgekehrt, sondern wir können eben den direkten Kontakt zwischen Menschen herstellen und das ist also eine ganz neue Sache, die in Zukunft sicherlich noch eine große, große Mysterien parat hält für uns alle."
    Genetische Ergebnisse erfordern neue Forschungen
    Plötzlich ergeben sich für die Wissenschaft ganz neue Fragestellungen: Die Forscher können jetzt überprüfen, wie viele Menschen mindestens in einem bestimmten Zeitraum eine Kloake benutzt haben. Das erlaubt Hochrechnungen hinsichtlich der Anzahl der Bewohner eines Hauses. Ebenso lässt sich klären, ob diese Klogänger alle Mitglieder einer Familie waren oder auch nicht miteinander verwandte Menschen dort austreten waren, etwa Bedienstete oder Geschäftspartner. Zwar sind die Ausgrabungen in Lübeck beendet und das alte Gründungsviertel erfährt – wie so häufig in seiner Geschichte – einen völligen Umbau – jedoch sind die Arbeiten der Forschenden noch lange nicht abgeschlossen. Denn: Die genetischen Ergebnisse haben das Tor zu einem viel größeren Forschungsprojekt gerade erst aufgestoßen.
    "Wir haben ja in Lübeck einen der größten archäologisch ausgegrabenen Pestfriedhöfe überhaupt, aus dem Heiligen-Geist-Hospital. Das sind große Massengräber, wo knapp 1.000 Individuen ausgegraben worden sind und wir wollen jetzt vor allen Dingen auch überlegen, ob wir bei Neu-Beprobungen eben dieser Skelettserien Hinweise darauf finden, eben auf den Pest-Erreger selbst, auf bestimmte andere Parasiten und dann wollen wir gucken, ob wir das mit den Parasiten des Gründungsviertels in Einklang bringen können, ob wir sozusagen sagen können, dass jemand, der in einem Pestmassengrab vom Heiligen-Geist-Hospital gelegen hat, möglicherweise hier sogar im Gründungsviertel selbst gelebt hat."