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Die letzte Partisanin
Fanja Brancowskaja führt durch das Getto von Vilnius

Die litauische Stadt Vilnius galt einmal als "Jerusalem des Ostens" - bis der Holocaust diese jiddischsprachige Kultur auslöschte. Fanja Brancowskaja überlebte das Getto und ist eine der letzten Zeuginnen des jüdischen Vilnius. Noch heute führt sie Besucher durch das ehemalige Getto, damit nichts in Vergessenheit gerät.

Von Judith Leister | 24.05.2017
    Schild des Jüdischen Instituts an der Universität in Vilnius, Litauen.
    Vor dem Krieg war ein Drittel der Bevölkerung von Wilna jüdisch. Den Krieg, die deutsche Besatzung, das Getto und die Mordaktionen haben von 58.000 Juden nur 2.000 überlebt. (imago stock&people/Robert Fishman )
    "Jiddische Institut... hallo .... jiddische Institut ..."
    In einem der vielen Höfe der alten Universität von Vilnius liegt das Jiddische Institut. In den Sommermonaten werden hier Sprachkurse angeboten. Menschen aus aller Welt lernen Jiddisch. Fanja Brancowskaja ist eine der Bibliothekarinnen, eine kleine agile Frau mit Kurzhaarschnitt und klaren blauen Augen. Sie gehört zur letzten Generation der Litwaken, der Juden, die in Litauen und mit dem Jiddischen als Muttersprache aufgewachsen sind. Vor dem Krieg war ein Drittel der Bevölkerung von Wilna jüdisch. Den Krieg, die deutsche Besatzung, das Getto und die Mordaktionen haben von 58.000 Juden nur 2.000 überlebt.
    Verlassenes Haus mit verwitterten hebräischen Inschriften in einer Straße des ehemaligen Gettos in Vilnius.
    Verlassenes Haus mit verwitterten hebräischen Inschriften in einer Straße des ehemaligen Gettos in Vilnius. (Judith Leister)
    "Ich war vom ersten bis zum letzten Tag im Getto. Nachdem ich das Getto verlassen hatte, bin ich Partisanin geworden. Ich war in einer Untergrundorganisation in Wilna. Dann habe ich geheiratet. Meinen Mann habe ich bei den Partisanen kennengelernt. Ich habe zwei Töchter, sechs Enkel und sieben Urenkel."
    Letztes Familienfoto von 1939
    Fanja Brancowskaja ist die einzige Überlebende des Familienzweigs, der bei Kriegsbeginn in Litauen geblieben war. Ihr Vater, ihre Mutter und ihre Schwester wurden aus dem Getto verschleppt und kamen getrennt voneinander um. Das letzte gemeinsame Familienfoto von 1939 trägt sie immer bei sich.
    "Das bin ich. Das ist die Familie meines Vaters. Es hat sich ergeben, dass die Familie in Vilnius gelebt hat, in Litauen. Die Familie meiner Mutter hat vor dem Krieg beschlossen, nach Israel zu gehen. 1939 hat man von der Familie meines Vaters ein Foto gemacht und es nach Israel geschickt. Als ich 1990 das erste Mal in Israel war, hat man mir das Originalfoto gegeben."
    Den hohen Anspruch an Gelehrsamkeit und Kultur wollte die jüdische Gemeinde von Wilna selbst im Getto nicht aufgeben. Es gab weiterhin Schulunterricht auf Jiddisch, einen Chor, Konzerte, Lesungen, Theateraufführungen und eine Bibliothek, in der auch Fanja sich Bücher auslieh. Für Kinder, Alte und Kranke wurde gesammelt und die Pflege organisiert. Doch als es immer mehr mörderische sogenannte "Aktionen" der Deutschen gab und sich das Getto immer weiter leerte, beschloss Fanja Brancowskaja, zu den Partisanen zu gehen. Sie verließ das Getto am 23. September 1943, an dem Tag, an dem es aufgelöst wurde, und schlug sich gemeinsam mit einer Freundin in die nahe gelegenen Wälder durch. Dort schlossen sie sich der sowjetischen Partisanengruppe "Rächer" an, die den deutschen Nachschub sabotierte.
    Fanja Brancowskaja überlebte das Getto und ist eine der letzten Zeuginnen des jüdischen Vilnius.
    Fanja Brancowskaja überlebte das Getto und ist eine der letzten Zeuginnen des jüdischen Vilnius. (Judith Leister)
    "Ich war in einer Kampfgruppe. Wir haben nicht gegen die Bevölkerung gekämpft. Wir haben unser Leben verteidigt. Das ist sehr wichtig. Ich hatte zwei Freunde, zwei Brüder. Sie sind als Partisanen umgekommen. Aber sie sind als Menschen gestorben. Es sind viele gestorben im Kampf. Aber man hat sie nicht nach Ponar gebracht."
    Lange Zeit kein Gedenken an die Opfer
    In Ponar, litauisch Paneriai, in der Nähe von Vilnius, wurden unter der deutschen Besatzung an die 100.000 Menschen ermordet. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis dort ein angemessener Gedenkstein aufgestellt wurde. Die Sowjets wollten nur "sowjetische Bürger" kennen, keine jüdischen Opfer. Das unabhängige Litauen wiederum wollte nicht, dass neben den deutschen Tätern auch die litauischen Kollaborateure erwähnt werden. Bis heute tut man sich in Litauen schwer, die Mitschuld am Judenmord anzuerkennen.
    "Erst, als das demokratische Litauen kam, stand dort endlich: "Hier starben 100.000 Menschen, davon 70.000 Juden. Sie wurden umgebracht von faschistischen Deutschen, den Deutschen und ihren hiesigen Mithelfern." Die zwei Wörter "hiesige Mithelfer", wie soll ich das sagen, haben viel Blut gekostet. Das war sehr schwer. Aber der Text ist so geblieben."