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"Die Leute sind zu beschämt darüber, was sie nicht mehr haben"

Vor der Finanzkrise hatten sich die Iren so schön an ihren neuen Reichtum gewöhnt. Darüber haben wir Anfang dieses Jahres in der Sendung " " berichtet, und zu Wort kam damals auch Gerry Murphy, ein pensionierter Postbote. Murphy war der neue Wohlstand in Irland schon damals nicht so ganz geheuer. Was hat sich jetzt, ein knappes Jahr später und seit dem Ausbruch der Finanzkrise verändert? Mein Kollege Martin Alioth hat Gerry Murphy in diesen Tagen noch einmal getroffen:

Von Martin Alioth |
    "Das ist jetzt das Neueste: Wenn ein Haus verkauft wird, heißt es drunter: Familienauto eingeschlossen."

    Gerry Murphy, einst Postbote und immer noch Sänger in einer Tanzkapelle, hört so Vieles.

    "Die Ferienhäuser stehen zum Verkauf, die drei Reisebüros in der Provinzstadt Drogheda hatten allein in den letzten zwei Monaten über 700 Absagen."

    Und dann, als letzter Beweis des Niedergangs:

    "Zwei Golfklubs haben zugemacht." Das sei widernatürlich, meint Gerry Murphy entrüstet.

    Zur Wiederaufnahme unseres Gesprächs haben wir uns an einem Ort getroffen, den es vor einem Jahr noch gar nicht gab. Southgate, ein riesiges Einkaufszentrum am Südrand des Städtchens Drogheda. Die glitzernde Anlage hat erst vor zwei Wochen ihre Tore geöffnet. Hier ist alles übertrieben, nichts konnte scheinbar teuer genug sein. Die Zufahrt zur leeren Tiefgarage würde manchen Flughafen ehren, die Fußböden sind allesamt aus Naturstein, und überall plätschern kunstvolle Brunnen. Gleich neben einem lauten Wasserfall deutet Gerry Murphy aus dem Fenster:

    ""Diese neue Wohnsiedlung hat 8.900 Häuser. Da Drogheda selbst nur etwa 30.000 Einwohner hat, ist das eine zusätzliche Retortenstadt.""

    Und:

    "Diese Siedlung enthält die ersten drei Häuser hier, die mehr als eine Million kosteten. – Sie wurden verkauft, aber wie lange können diese Faustpfänder des flüchtigen Wohlstandes gehütet werden? Wie viele Pendler wird die Metropole Dublin, 40 Kilometer südlich, künftig brauchen?"

    "Es wirft uns in die 80er-Jahre zurück, nur dass die Leute dieses Mal viel mehr Geld haben, das ihnen nicht gehört; Schulden also, wohin das Auge reicht."

    "Alle haben Angst, wo das enden wird; wie schlimm es noch wird."

    Die irische Wirtschaftskrise findet nicht bloß in den Zeitungen und an den Börsen statt. Sie lässt sich überall ablesen, selbst Kneipen machen dicht, die Haupteinkaufsstrasse in Drogheda ist geprägt von herunter gerollten Stahlgittern. Wie ausgeschlagene Zähne wirken die geschlossenen Geschäfte.
    Gerry Murphy, der früher als Postbote in alle diese Häuser reinschaute, der die Leute kannte und kennt, kommt auf ein Thema zurück, das ihm schon vor einem Jahr am Herzen lag:

    "Es fehlt die Häuslichkeit, die Haustüren, die einst offen standen, sind geschlossen, denn alle fahren zur Arbeit, ein- bis zweijährige Kinder werden morgens um Sieben bei der Krippe abgeliefert."

    Und so steht dieses Einkaufszentrum, das zum dümmsten Zeitpunkt fertig wurde, stellvertretend für das gegenwärtige Irland:

    "Es ist ein Monstrum, findet auch Gerry Murphy, zu viel Stahl, zu kalt."Das sei keine Wärme.

    Und wie geht Irland mit dem Absturz um, der ebenso rasch und überwältigend erfolgte wie einst der Aufstieg?

    Die Älteren können es verkraften, die Jüngeren nicht. Denn die einen greifen auf Erfahrungen zurück, die anderen sehen bloß Erwartungen enttäuscht. Gerry Murphy, der pensionierte Postbote, der jetzt noch singt und Taxi fährt, hatte sich vor einem Jahr Sorgen gemacht, dass die Leute in ihrer Gier und ihrer Hetze nicht mehr miteinander redeten. Besteht denn jetzt eine Hoffnung, dass sie das wenigstens wieder entdecken?

    ""Da sind die Leute möglicherweise zu verlegen dazu, weil das, was sie einst hatten, nicht mehr haben.""

    Das erste Gespräch mit Gerry Murphy in Gesichter Europas