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Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart

Richtungsentscheidungen in der deutschen Außenpolitik sind seit der Wende häufig vor dem Hintergrund von Auschwitz diskutiert worden. Selbst die Grünen konnten sich letztlich dem Argument nicht entziehen, man müsse sich wegen der "besonderen deutschen Verantwortung" an einer militärischen Intervention im Kosovo beteiligen. Man wolle nicht tatenlos zusehen und dadurch abermals schuldig werden am Völkermord. Ähnlich wurde auch in jüngster Zeit argumentiert. Die deutsche Schuld und die besondere Verpflichtung der Deutschen gegenüber ihrer Geschichte als Ratgeber für politische Entscheidungen? Die Oldenburger Politikwissenschaftlerin Antonia Grunenberg meint demgegenüber, dass Schuld eine schlechte Grundlage für politisches Handeln sei. Deshalb analysiert sie in ihrem jüngsten Buch kritisch die "Lust an der Schuld":

Thomas Kleinspehn |
    Man kann die Frage beginnen bei der Gestaltung von Museen und Gedenkorten. Man kann aber auch fragen, was heißt das für das politische Denken: müssen wir nicht jetzt, wo die Deutschen, also wir, vor wirklich gewaltigen und entscheidenden Veränderungen stehen, nicht erst seit dem 11. September, aber seither noch deutlicher, müssen wir nicht die Frage von politischer Verantwortlichkeit und wie wir dieses Gemeinwesen gestalten wollen, inklusive der Frage, wohin wir unsere Soldaten schicken, direkter annehmen und nicht über den Umweg der Schulddebatte. D.h. wir verteidigen die Demokratie... in Mazedonien nicht, weil in Deutschland Auschwitz war, sondern weil wir eine verantwortliche Politik in der Zukunft mitbestimmen wollen.

    Doch die deutsche Politik sei von dieser Art der Verantwortung weit entfernt, meint die Politologin, statt dessen stehe ein auf den Tag bezogener Pragmatismus im Vordergrund:

    Da fängt man irgend etwas an, z.B. mit dem sehr zwiespältigen Eingreifen im Kosovo und das muss dann irgendwie weiterführen. Aber wie führt man das weiter? Da reicht es nicht aus, dass wir Massenmorde verhindern, weil die großen Probleme setzen sich fort. Dadurch dass Sie das Töten anhalten, haben Sie sozusagen die Bürgerkriegsparteien noch nicht versöhnt und da finde ich, dass dieser alte Typus des Schulddiskurses überaltert ist, dass der blockiert und hinderlich ist und nichts Neues öffnet.

    Die Lust an der Schuld, das ist die wichtigste These von Antonia Grunenberg, behindere die Lust an der Politik. Ihr Buch ist ein energisches Plädoyer für politische Verantwortung und für bewusstes politisches Handeln. Die Leiterin des Hannah-Arendt-Zentrums in Oldenburg tritt damit nicht dafür ein, die Debatte um die Erinnerung zu beenden. Vielmehr versucht sie, wie ihr Vorbild Hannah Arendt, die moralische und politische Ebene zu verbinden:

    Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass eine Politik des schlechten Gewissens eine schlechte Politik ist, weil sie nicht genau hinschaut. ... Wenn man genau beobachtet, besonders nach dem 11. September, wird die Bundesrepublik jetzt im beschleunigten Maße in die internationale Politik einbezogen und ich fürchte, dass da entschieden was fehlt zwischen dem moralisierenden Diskurs auf der einen Seite und dem anderen, der sagt - manchmal redet unser Außenminister so, "wir müssen einfach mit" ... Und ich denke, wir haben ganz viel Nachholbedarf an öffentlicher Diskussion über die Gestaltung der internationalen Politik. Ich denke, es ist an der Zeit, das nicht abzuschneiden, sondern auch zuzulassen.

    Auf der Suche nach dieser anderen öffentlichen Auseinandersetzung hat Antonia Grunenberg ein mutiges und auch streitbares Buch geschrieben, das allein deswegen sehr lesbar ist, weil die Autorin sich nicht hinter einem Fachchinesisch versteckt, das sie vielleicht unangreifbar machen könnte. Sie bewegt sich dagegen auf dem schmalen Pfad zwischen der Verweigerung des Erinnerungsdiskurses, wie das verkürzt Martin Walser versucht hat, und dem anderen politischen Weg, der auf die Mündigkeit von Bürgern baut. Sie denkt dabei an engagierte Bürger, die in der Lage sind, das Jahrzehnte währende Schweigen der Nachkriegszeit zu durchbrechen und sich aktiv an der Weiterentwicklung der Demokratie zu beteiligen. Reine Schuldbekenntnisse dagegen machen dies unmöglich und sind letztlich nur Selbstmitleid. Es ist die Vita activa im Sinne Hannah Arendts, die sie anstrebt.

    Was fehlt, ist das, was ich als republikanischen Diskurs bezeichnen möchte oder als öffentliches Gespräch darüber, was, wer und wie diese Republik ist. D.h. im Unterschied zu diesen Kurzschließungen, die immer wieder auftauchen, etwa "wir müssen wissen, was deutsche Kultur ist"; "wir brauchen eine Leitkultur" oder "wir brauchen etwas, was unhinterfragbar ist"... Ich denke, das in diesen Streitgesprächen auch etwas Richtiges angesprochen wird und das ist dieses, dass wir uns zu diesem Gemeinwesen, was wir geschaffen haben, auch gut und gerne positiv verhalten können und auch sollten. Und zwar nicht als einer ewig gleichbleibenden und aus lauter Werten bestehenden Wertegemeinschaft, sondern als demokratischer Handlungsraum, mit starken Institutionen, mit starken Gesetzen, mit einer guten Verfassung und mit fünfzig Jahren demokratischer Tradition.

    Doch Antonia Grunenberg ist sich wohl bewusst, dass diese 50 Jahre demokratischer Tradition widersprüchlich gewesen sind, begleitet vom Schweigen der Nachkriegsgeneration, den Diskussionen der 60er und 70er Jahre und schließlich der späten Auseinandersetzung mit dem Trauma der Vernichtungspolitik, die Deutsche zu verantworten haben. Die Wissenschaftlerin beschreibt sehr konkret die Entwicklung der Nachkriegszeit in Ost und West, die Doppelzüngigkeit von Moral und Wertediskussion und die Weigerung die Realität anzunehmen, die sich gerade über Schuld vermittelt. Es mag nur wenig entlasten, dass Antonia Grunenberg den Schulddiskurs auch in Frankreich, Holland oder Polen findet, wo man sich auch sehr spät mit den Kollaborateuren des Zweiten Weltkriegs auseinandergesetzt hat. Die spezifischen Wurzeln für die deutsche Entwicklung zum Faschismus liegen bereits in der Niederlage des Ersten Weltkriegs und noch weiter zurück in der Entwicklung deutscher Nationalstaaten im 19. Jahrhundert. Diesen Zusammenhang plastisch skizziert zu haben, ist eines der großen Verdienste des Buches, denn es führt Mitten in die Unzulänglichkeiten deutscher Politik der Gegenwart:

    Ich denke, dass es gut ist, ab und zu einen Stein ins Wasser zu werfen und darauf aufmerksam zu machen. Und es gibt eine ganze Menge von Leuten auch, die auch öffentlich reden, die den Mangel öffentlich spüren. Und ein gut Teil von ihnen weicht aus auf die Werteschiene. Es sind aber nicht nur die Werte, sondern es ist sozusagen das Bewusstsein, wir sind diese Republik, wir, das ist ein Gutteil der Bürger... Mir kommt es nur darauf an, die Diskussion ein bisschen voranzutreiben.

    Das klingt an manchen Stellen allzu optimistisch. Man fragt sich, woher die Überzeugung von den demokratischen Potentialen einer Gesellschaft kommt, in der die Wahlbeteiligung gegen 50% wandert, in der in Hamburg sich immerhin 1/6 der Wähler einem politischen Scharlatan anvertrauen oder für immer mehr Menschen wirtschaftliches Fortkommen wichtiger ist als soziales Engagement. Doch vielleicht erhalten gerade deshalb solche Bücher eine Bedeutung, die auf eine Tradition pochen, die in Deutschland nie wirklich ausgeprägt war und deren Nichtexistenz das Singuläre von Auschwitz vielleicht erst möglich gemacht hat.