Freitag, 29. März 2024

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Ursula Krechel: „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“
Mit Freud in der Metro

Die Essays von Ursula Krechel verbinden geschliffene Gedanken und Poesie, Sinnliches und Abstraktes. Zwischen all dem Anregenden und Lehrreichen finden sich aber auch persönliche Erinnerungen von literaturgeschichtlichem Wert. Ein Buch zum Träumen.

27.05.2022
Ein Portrait der Schriftstellerin Ursula Krechel und das Buchcover von „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“
Der Essayband "Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen" von Ursula Krechel kreist auf viele Weisen um die Verbindung von Literatur und dem Unbewussten. (Cover Jung und Jung Verlag / Autorenpoertrait (c) Heike Steinweg)
Der Titel dieser Essays sagt schon alles. „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen“, das klingt im ersten Moment eher abstrakt, wie eine Sprachexkursion. Aber gleichzeitig zielt er vor allem auf sinnliche Vorgänge, er meint Körperliches und verschiedene Formen der Wahrnehmung. Das ist typisch für die Autorin Ursula Krechel. Poesie und gedanklich geschärfter Essay gehen bei ihr eine geglückte Verbindung ein, die Sätze strahlen nach allen Seiten hin aus, sind offen und doch sehr konzis, genauso, wie sie es als den Idealfall definiert:
„Kein Gegenstand ist zu gering für einen Essay. Er entfaltet sich in einer fortschreitenden Denkbewegung, nicht über theoretische Prämissen, er ist schneller als eine wissenschaftliche Untersuchung, langsamer als ein Text, der für den Tag geschrieben ist und eine klare Mitteilungsfunktion hat. Er ist Denkbild, Wahrnehmungsfilter, eine Instanz dieses Prüfens, angesiedelt im DAZWISCHEN, dem Ort der Versuche, dem Ort der Versuchung, Ausschweifung und Engführung zugleich.“

Casanovas Wünschelrute

So finden sich unter der Rubrik „Gehen“ überraschende und anregende Überlegungen etwa über die Biografie von Giacomo Casanova, des notorischen Wünschelrutengängers aus dem 18. Jahrhundert, mit blitzartigen Erkenntnissen über die damalige Spätzeit Venedigs und dem Höhepunkt vorbürgerlicher Lebensformen. Und in einem anderen Text taucht Theodor Fontane auf, anhand eines wunderbaren Pastiches über das preußische Landstädtchen Bad Freienwalde, nachdem der Boden durch raffinierte Überblendungen mit der preußischen Königsdynastie und der Industriellenfamilie der Rathenaus bestens für ihn vorbereitet worden ist. Die Rubrik „Träumen“ wiederum spielt souverän mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse. Verschiedene Formen des Traums werden umkreist, die Verbindung zwischen Schreiben und Träumen erscheint dabei evident, und die Sätze von Ursula Krechel selbst führen auf faszinierende Weise das Prinzip der „Verdichtung“ in Traum und Literatur vor. Es ist frappierend, wie sie die im Jahr 1900 zeitgleich stattfindende Eröffnung der Pariser Metro und das Erscheinen von Sigmund Freuds Traumdeutung zusammendenkt:
„Jeder Traum, das muss fortan bewiesen werden, stellt sich nun als sinnvolles Gebilde dar, dessen Sinnzusammenhang die neue Wissenschaft der Psychoanalyse zu schaffen habe. Im Dunklen, Unvertrauten, auch Verqueren erscheine das Vertraute: die Wünsche und Befindlichkeiten des psychischen Apparates. Ähnlich die Métro: Sie verbindet Plätze und Straßen miteinander, die oberflächlich nichts miteinander zu tun haben; sie ist ein Verkehrsmittel der Assoziation.“

Ein Happening mit Rolf Dieter Brinkmann

Wer sich einmal auf solch anregende Denkbewegungen eingelassen hat, der liest immer weiter. Und stößt dann plötzlich auf heimliche Sensationen, die in diesem Band wie nebenbei daherkommen. Zwischen vielfältigen anderen Erkundungen gibt es auch zwei autobiografische Erinnerungstexte Ursula Krechels, die ihre essayistischen Anspielungsnetze ganz anders fortspinnen. Da ist zum einen ein Genrebild der Westberliner Dichterkolonie in Friedenau Anfang der siebziger Jahre, mit einem auf skurrile Weise unnahbaren und erratischen Uwe Johnson im Zentrum. Zum anderen aber, und das verweist unterschwellig auch auf die wechselnden Lebensstationen der Autorin, ein Porträt des später geheimnisumtosten, zur Legende gewordenen Dichters Rolf Dieter Brinkmann um 1970 in Köln. Ursula Krechel ruft sich in präzis erfassten schnellen Schritten ein nächtliches Happening mit Brinkmann in ihrem Kölner Hinterhaus in Erinnerung, mit einzelnen Dialogen, künstlerischen und alltagsroutinierten Statements, und dabei entsteht ein spontanes Assoziationsgedicht, das die beiden abwechselnd in die Schreibmaschine hauen und das zum Teil auch als Faksimile wiedergegeben wird: ein bedeutsames literaturgeschichtliches Zeugnis, und daneben ein eindringliches Porträt des außenseiterischen, monomanischen, radikale Posen einnehmenden Brinkmann.
„Jetzt hat sich der Faden verknäuelt, oder er ist mir gerissen, oder in meinem Hirn ist schon das geschehen, was auf dem Papier später gestrichen worden wäre. Eine Lehre im Verfehlen. Wie der Abend geendet hat, weiß ich nicht mehr.“

Poesie als Verlernen des Gelernten

Die letzte große Rubrik dieses unerschöpflich wirkenden Essaybandes mit dem Titel „Unter Bäumen“ hat als geheimes Leitmotiv den Apfelbaum und den Apfel: angefangen von Adam und Eva über Martin Luthers „Apfelbäumchen“, das es zu pflanzen gelte, bis hin zum Ursprung des Apfels im heutigen Kasachstan und die englisch kultivierte, aber sanft sich entziehende Obstwiese hinter dem Haus des Dichters und Übersetzers Michael Hamburger in Middleton. „Überall liegen die Äpfel herum“, schreibt Ursula Krechel, „die Äpfel faulen, werden Humus für das Dichten.“ Und en passant kommt es zu unscheinbar wirkenden Definitionen, die doch zu großen Merksätzen werden können:
„Und die Gedichte wiederum gleichen Bulletins über das Wachsen und Vergehen, sind Wurzelhaare, biegsame Ästchen, Schattenblätter. Gedichte sind Einübungen in das Verlernen dessen, was gelernt worden ist.“
„Kann man schöner über Gedichte schreiben, oder überhaupt über Literatur? Die Autorin belässt den Texten ihr Geheimnis und legt doch einzelne Schichten frei. Bei Ursula Krechel besteht die Gegenwart eben auch aus Geschichte.“
Ursula Krechel: „Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen.“ Essays
Verlag Jung und Jung, Salzburg
453 Seiten, 30 Euro