Heuer: Die schlechte Nachricht kam nicht überraschend: Seit gestern wissen wir definitiv, dass es wieder mehr als vier Millionen arbeitslose Menschen in Deutschland gibt. Ernüchternd ist das für alle; politisch besonders unangenehm sind die neuen Arbeitsmarktdaten jedoch für die Bundesregierung, die ja mit dem Versprechen angetreten war, die Arbeitslosigkeit drastisch zu senken. Statt dessen sieht es auf dem deutschen Arbeitsmarkt 2002 fast ebenso schlecht aus wie 1998. Mit solchen Zahlen dürfte es der SPD nun noch schwerer fallen, kurz vor der Bundestagswahl aus dem Stimmungstief herauszukommen. Dass Gerhard Schröder die Wahl noch einmal gewinnt, wird immer unwahrscheinlicher. Am Telefon begrüße ich jetzt Manfred Stolpe, den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten und Gerhard Schröders Berater für Ostdeutschland im Wahlkampf. Guten Morgen Herr Stolpe.
Stolpe: Ja, guten Morgen.
Heuer: Was haben Sie gedacht, als Sie die neuen Arbeitsmarktzahlen gehört haben?
Stolpe: Natürlich ist das eine bittere Nachricht gewesen, aber man muss ja auch ganz ehrlich sagen, es war nicht zu erwarten, dass das mit einem Mal noch so ein kleines Wunder gibt, denn wir haben bis zu Stunde keine Wende auf dem Arbeitsmarkt. Das ist ganz nüchtern so, und insofern musste befürchtet werden, dass solche Zahlen kommen. Was jetzt vor allem angesagt ist, ist – glaube ich – die Ehrlichkeit darüber, und insofern bin ich ein bisschen betroffen, dass von Seiten der Opposition ein Riesengeschrei angestellt wird, als ob die Regierung Arbeitslosigkeit produzieren würde. Wir haben eine schwierige Situation, wir haben auch jetzt gerade in diesen Wochen noch einmal zusätzliche Belastungen, denn das Bauwesen auf dem Arbeitsmarkt geht immer noch runter. Wir haben im Osten die Freude, dass geburtenstarke Jahrgänge da sind, die auf den Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt drängen. Und vor allen Dingen ist die Auftragslage noch nicht besser geworden, die überhaupt, das glaube ich, der Schlüssel zu einer Verbesserung der Lage ist. Der einzige Trost für uns ist hier, dass wir offenbar im Osten die tiefste Stelle des Tals erreicht haben, denn wenn man sich die Zahlen ansieht, und zwar nicht im Sinne von gutreden, sondern unter sehr starker fachlicher Betrachtung, dann haben wir saisonbereinigt sogar eine leichte Verbesserung – immerhin nur 10.000, aber für mich wird dabei erkennbar: Wir sind in der Tiefe des Tales, und um so dringlicher wird’s jetzt, dann auch etwas in Gang zu setzen, damit es besser wird.
Heuer: Dennoch, Herr Stolpe, ist ja die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland besonders hoch. Sie machen gerade vor Ort das, was man Straßenwahlkampf nennt. Das heißt, Sie sprechen mit Passanten und werben für die SPD. Was sagen denn die ostdeutschen Bürger, die Sie dabei treffen, wenn Sie ihnen diese vielen verschiedenen Gründe aufzählen dafür, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland, in Ostdeutschland besonders, so hoch ist?
Stolpe: Ja, Straßenwahlkampf hört sich so ein bisschen nach Gewalttat an. Was ich hier mache, ist Bürgergespräch Auge in Auge und vor allen Dingen, mit Ohrenbereitschaft zuzuhören und nicht die Leute totzureden. Und da mache ich immer wieder die Erfahrung, die ich auch schon vorher festgestellt habe: Also, was die Leute gar nicht mehr richtig glauben, ist ein marktschreierischer Wettbewerb von Versprechungen. Ich bin ja nicht der Berater der Opposition, aber da würde ich jedenfalls meinen, dass das hier gar nichts bringt, wenn man sich hinstellt und sagt: ‚Wir machen alles ganz schnell besser‘. Was die Leute auch nicht so richtig mögen, sind die Schimpfkanonaden gegen die jeweils andere Seite. Sie sind sehr interessiert auf das Stichwort ‚Hartz‘, das ist erstaunlich angekommen – nicht so sehr als Wundergläubigkeit, sondern mehr in der Richtung ‚sind da Instrumente und Möglichkeiten drin, die wirklich auch eine Verbesserung bringen?‘ Das interessiert die Leute erstaunlich genau, da habe ich gar nicht mit gerechnet - es war nur gut, dass ich vernünftig vorbereitet war. Die Frage, die da immer als erstes kommt: Wieso eigentlich Hartz jetzt erst, hätte man das nicht schon vor Jahren machen können? Da muss ich dann allerdings auch immer wieder erklären, dass dieser große schwere Tanker ‚Bundesanstalt für Arbeit‘ nicht zu bewegen war - obwohl da schon seit 20 Jahren drüber nachgedacht worden ist, es brauchte erst die Katastrophe von Februar, wo dann plötzlich erkennbar wurde, dass die auch sogar noch mit falschen Zahlen arbeiteten – um dann diesen Schub zu bekommen: Reform muss jetzt sein. Das sind die Erfahrungen, die ich hier in den Gesprächen mache und wo die Leute sagen: Hoffentlich wird das weitergehen. Da bin ich allerdings ganz sicher – das, was an Impulsen jetzt von Hartz kommt, wird im Wesentlichen weitergeführt werden, selbst wenn der meines Erachtens unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass man plötzlich eine andere Bundesregierung hat. Da kommt keiner mehr dran vorbei.
Heuer: Aber Herr Stolpe, den Tanker ‚Bundesanstalt für Arbeit‘ sozusagen aus dem Schlick zu ziehen, das ist doch auch eine politische Verantwortung. Der Wirtschaftsweise Bert Rürup sagt heute im BERLINER TAGESSPIEGEL, die Hartz-Vorschläge kämen zu spät. Hätte Gerhard Schröder sie vor einem Jahr in Auftrag gegeben, dann wäre es möglich, dass heute 3,5 Millionen – immerhin – und nicht vier Millionen in Deutschland arbeitslos sind.
Stolpe: Er hat sicher recht, aber er hat dabei nicht berücksichtigt, welche Instanzen und Zuständigkeiten vorhanden sind, um etwas an neuen Entscheidungen im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit zu erreichen. Einfach mit einem politischen Willen, ohne einen zwingenderen überzeugenden Anlass, konnte da keiner was in Gang setzen. Da ist auch schon früher nach meinen Informationen Norbert Blüm dabei gewesen, etwas neu zu machen, man kam damit nicht zurecht - und bis vor einem Jahr wäre da gar keine Bewegung hereinzubekommen. Es brauchte wirklich – und ich bin da ein genauer Beobachter des ganzen Vorgangs, weil die Massenarbeitslosigkeit im Osten mich am meisten umtreibt – es brauchte wirklich eine kleine Katastrophe, um etwas zu tun. Und diese Katastrophe waren die falschen Zahlen, die dort produziert worden sind – ja, man muss fast schon sagen, die Betrugsmanöver, die bei einigen Arbeitsämtern stattfanden, um sich selber darzustellen. Da war der Punkt gekommen, und da hat in der Tat der Schröder die Chance erkannt und hat gesagt: ‚Jetzt muss da Druck rein‘ – und hat die Hartz-Kommission eingesetzt und mit dem Peter Hartz jemanden gefunden, der von dem Geschäft was versteht. Er ist ja einer, der in seinem großen Unternehmen eben nicht Arbeitsplätze abbaut, wie das andere ja ständig tun, um ein bisschen mehr an der Börse zurechtzukommen, sondern er hat seine 50.000 Arbeitsplätze in Deutschland gehalten und sogar noch 5.000 zusätzlich geschaffen. Und er hat viele Ideen, und Ideen sind jetzt gefragt - und die klopfen wir ab. Meine Aufgabe besteht natürlich darin, zu sehen, was dem Osten dabei hilft. Sicher helfen uns auch flexiblere Jobcenter, die schneller sind, die mitdenken. Aber wir brauchen vor allen Dingen auch Anreize für Unternehmer, Leute einzustellen. Deswegen sind diese Finanzierungsmodelle ganz interessant.
Heuer: Der Jobfloater. Das zum Beispiel ist ein Ausdruck, den die meisten Menschen gar nicht erst verstehen. Und es ist so, dass es inzwischen so viele und so komplizierte Hartz-Vorschläge gibt, dass die meisten den Überblick verlieren. Kritiker sagen, die Hartz-Vorschläge in ihrer Summe wirken so unüberschaubar, wie das deutsche Steuersystem. Wie wollen Sie denn dafür sorgen, dass diese Vorschläge trotzdem praktisch umgesetzt werden?
Stolpe: Also, es ist im Grunde genommen handhabbar. Es sind ein paar wenige Instrumente, mit denen Entscheidendes gemacht werden kann. Also für mich sind das, speziell auch für den Osten, vier Dinge, mit denen man etwas tun kann. Das eine ist tatsächlich die höhere Flexibilität, dass diese Jobcenter – also Arbeitsämter – stärker mitdenken, vorausdenken, überlegen - was kommt denn auch aus Schule und Ausbildung auf den Arbeitsmarkt zu, wo können wir hier vor Ort helfen, wo können wir in der Gesamtregion etwas tun. Da ist mit Flexibilität und mit entsprechendem Engagement eine Menge zu machen. Das andere ist tatsächlich, dass man versuchen muss, aus mehreren anstehenden Problemen einen Durchbruch zu schaffen. Also, bei uns im Osten haben wir nach wie vor in den Städten und Gemeinden einen Rückstand in der Infrastruktur. Sie müssen ja nur einmal hier mit dem Auto fahren. Sie kommen auf den Bundesstraßen wunderbar voran, kommen dann in eine Ortschaft rein und merken, dass der Bürgermeister offenbar kein Geld hat, um seine Straßen in Ordnung zu bringen. Und wenn Sie sich den Kindergarten angucken, der ist auch nicht toll. Diese Schwächen der Infrastruktur, die muss man angehen, indem Aufträge hier hineinkommen und dadurch Arbeit entsteht. Und das Finanzierungsmodell, was er angedacht hat, ist ja im Grunde genommen so eine Art Anleihesystem. Ob das die Größenordnungen sind, weiß ich nicht, aber damit könnte Geld gewonnen werden – und das verstehen auch die Leute.
Heuer: Die Wirtschaftsverbände, Herr Stolpe, sagen: Die beste Hilfe für den Arbeitsmarkt ist, dass es den Unternehmen besser geht. Und dazu müssten zum Beispiel die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Angeblich wird die Hartz-Kommission nun doch nicht vorschlagen, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zu kürzen. Wissen Sie, ob das stimmt?
Stolpe: Nun, das ist ein heißes Thema, und die werden bestimmt heute morgen sich noch ganz erheblich mit auseinandersetzen müssen. Richtig ist in jedem Fall, dass die Unternehmer Anreiz haben müssen. Und bei uns heißt das, die Unternehmer müssten Angebote haben, die ihre Kapitalsituation verbessert und die ihnen damit die Möglichkeit gibt, Leute einzustellen. Und wenn man das dann verbinden kann mit Aufträgen – mit Blick auf die zum Teil desaströse kommunale Infrastruktur, dann haben wir einen Hebel. Auch das wird noch kein reines Wunder sein, und auch da wird nicht in wenigen Monaten das ganze Problem gelöst, aber dann haben wir einen Hebel, um etwas zu bewegen – Aufträge, Arbeit und zugleich Attraktivität der Kommunen.
Heuer: Früher einmal, Herr Stolpe, galt Bundeskanzler Gerhard Schröder als der ‚Genosse der Bosse‘. Jetzt beschimpft er die Wirtschaft als ‚fünfte Kolonne der Opposition‘, und er wirft ihr vor, nicht genug für neue Arbeitsplätze getan zu haben. Sind also die Unternehmen allein schuld?
Stolpe: Nein, ganz sicher nicht, und ich habe auch Schröder nicht so verstanden. Es wird ja kaum einen Unternehmer geben, der aus karitativen Überlegungen Arbeitsplätze schafft; er wird Arbeitsplätze schaffen, wenn er den Eindruck hat, dass ihn das kapitalmäßig nicht umbringt und dass Aufträge in Sicht sind. Damit lässt sich dann sicher etwas bewegen, und insofern ist dieser Jobfloater – man hätte sich einen noch nebulöseren Ausdruck ausdenken sollen, damit es dann gar keiner mehr versteht – doch am Ende ein Ansatz, weil das eine Verbesserung des Eigenkapitals bedeutet. Und wenn man das dann verbindet mit Aufträgen, dann lässt sich viel bewegen. Die Wirtschaft reagiert übrigens auch ganz unterschiedlich auf diese Vorstellung, und man darf ja nicht vergessen: Diese sogenannte Hartz-Kommission ist eine überparteilich zusammengesetzte Kommission mit exzellenten Fachleuten. Und wenn man da mal die Chance hat, ein bisschen mit hineinzuhören, dann hat man hohen Respekt davor; die machen wirklich entschieden gute Arbeit, und über die gibt es auch gar keine Tabus. Die fassen das alles erst einmal an, und die müssen dann allerdings einen Konsens finden . . .
Heuer: . . . ja, der ist aber auch gefährdet, Herr Stolpe, dieser Konsens. Was ist denn, wenn . . .
Stolpe: . . . ja, das ist nicht leicht, weil nun gerade auch dieses Wahlkampfgetöse stattfindet. Das macht die Sache nicht leichter. Aber tatsächlich ist dieses Problem ‚Massenarbeitslosigkeit‘ nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu lösen und nicht in wechselseitigem Beschimpfen und in einem marktschreierischen Wettbewerb von Versprechungen.
Heuer: Manfred Stolpe war das, der frühere brandenburgische Ministerpräsident und SPD-Ostdeutschland-Experte im Wahlkampf. Herr Stolpe, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Stolpe: Auf Wiederhören Frau Heuer.
Link: Interview als RealAudio
Stolpe: Ja, guten Morgen.
Heuer: Was haben Sie gedacht, als Sie die neuen Arbeitsmarktzahlen gehört haben?
Stolpe: Natürlich ist das eine bittere Nachricht gewesen, aber man muss ja auch ganz ehrlich sagen, es war nicht zu erwarten, dass das mit einem Mal noch so ein kleines Wunder gibt, denn wir haben bis zu Stunde keine Wende auf dem Arbeitsmarkt. Das ist ganz nüchtern so, und insofern musste befürchtet werden, dass solche Zahlen kommen. Was jetzt vor allem angesagt ist, ist – glaube ich – die Ehrlichkeit darüber, und insofern bin ich ein bisschen betroffen, dass von Seiten der Opposition ein Riesengeschrei angestellt wird, als ob die Regierung Arbeitslosigkeit produzieren würde. Wir haben eine schwierige Situation, wir haben auch jetzt gerade in diesen Wochen noch einmal zusätzliche Belastungen, denn das Bauwesen auf dem Arbeitsmarkt geht immer noch runter. Wir haben im Osten die Freude, dass geburtenstarke Jahrgänge da sind, die auf den Arbeitsmarkt und Ausbildungsmarkt drängen. Und vor allen Dingen ist die Auftragslage noch nicht besser geworden, die überhaupt, das glaube ich, der Schlüssel zu einer Verbesserung der Lage ist. Der einzige Trost für uns ist hier, dass wir offenbar im Osten die tiefste Stelle des Tals erreicht haben, denn wenn man sich die Zahlen ansieht, und zwar nicht im Sinne von gutreden, sondern unter sehr starker fachlicher Betrachtung, dann haben wir saisonbereinigt sogar eine leichte Verbesserung – immerhin nur 10.000, aber für mich wird dabei erkennbar: Wir sind in der Tiefe des Tales, und um so dringlicher wird’s jetzt, dann auch etwas in Gang zu setzen, damit es besser wird.
Heuer: Dennoch, Herr Stolpe, ist ja die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland besonders hoch. Sie machen gerade vor Ort das, was man Straßenwahlkampf nennt. Das heißt, Sie sprechen mit Passanten und werben für die SPD. Was sagen denn die ostdeutschen Bürger, die Sie dabei treffen, wenn Sie ihnen diese vielen verschiedenen Gründe aufzählen dafür, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland, in Ostdeutschland besonders, so hoch ist?
Stolpe: Ja, Straßenwahlkampf hört sich so ein bisschen nach Gewalttat an. Was ich hier mache, ist Bürgergespräch Auge in Auge und vor allen Dingen, mit Ohrenbereitschaft zuzuhören und nicht die Leute totzureden. Und da mache ich immer wieder die Erfahrung, die ich auch schon vorher festgestellt habe: Also, was die Leute gar nicht mehr richtig glauben, ist ein marktschreierischer Wettbewerb von Versprechungen. Ich bin ja nicht der Berater der Opposition, aber da würde ich jedenfalls meinen, dass das hier gar nichts bringt, wenn man sich hinstellt und sagt: ‚Wir machen alles ganz schnell besser‘. Was die Leute auch nicht so richtig mögen, sind die Schimpfkanonaden gegen die jeweils andere Seite. Sie sind sehr interessiert auf das Stichwort ‚Hartz‘, das ist erstaunlich angekommen – nicht so sehr als Wundergläubigkeit, sondern mehr in der Richtung ‚sind da Instrumente und Möglichkeiten drin, die wirklich auch eine Verbesserung bringen?‘ Das interessiert die Leute erstaunlich genau, da habe ich gar nicht mit gerechnet - es war nur gut, dass ich vernünftig vorbereitet war. Die Frage, die da immer als erstes kommt: Wieso eigentlich Hartz jetzt erst, hätte man das nicht schon vor Jahren machen können? Da muss ich dann allerdings auch immer wieder erklären, dass dieser große schwere Tanker ‚Bundesanstalt für Arbeit‘ nicht zu bewegen war - obwohl da schon seit 20 Jahren drüber nachgedacht worden ist, es brauchte erst die Katastrophe von Februar, wo dann plötzlich erkennbar wurde, dass die auch sogar noch mit falschen Zahlen arbeiteten – um dann diesen Schub zu bekommen: Reform muss jetzt sein. Das sind die Erfahrungen, die ich hier in den Gesprächen mache und wo die Leute sagen: Hoffentlich wird das weitergehen. Da bin ich allerdings ganz sicher – das, was an Impulsen jetzt von Hartz kommt, wird im Wesentlichen weitergeführt werden, selbst wenn der meines Erachtens unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass man plötzlich eine andere Bundesregierung hat. Da kommt keiner mehr dran vorbei.
Heuer: Aber Herr Stolpe, den Tanker ‚Bundesanstalt für Arbeit‘ sozusagen aus dem Schlick zu ziehen, das ist doch auch eine politische Verantwortung. Der Wirtschaftsweise Bert Rürup sagt heute im BERLINER TAGESSPIEGEL, die Hartz-Vorschläge kämen zu spät. Hätte Gerhard Schröder sie vor einem Jahr in Auftrag gegeben, dann wäre es möglich, dass heute 3,5 Millionen – immerhin – und nicht vier Millionen in Deutschland arbeitslos sind.
Stolpe: Er hat sicher recht, aber er hat dabei nicht berücksichtigt, welche Instanzen und Zuständigkeiten vorhanden sind, um etwas an neuen Entscheidungen im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit zu erreichen. Einfach mit einem politischen Willen, ohne einen zwingenderen überzeugenden Anlass, konnte da keiner was in Gang setzen. Da ist auch schon früher nach meinen Informationen Norbert Blüm dabei gewesen, etwas neu zu machen, man kam damit nicht zurecht - und bis vor einem Jahr wäre da gar keine Bewegung hereinzubekommen. Es brauchte wirklich – und ich bin da ein genauer Beobachter des ganzen Vorgangs, weil die Massenarbeitslosigkeit im Osten mich am meisten umtreibt – es brauchte wirklich eine kleine Katastrophe, um etwas zu tun. Und diese Katastrophe waren die falschen Zahlen, die dort produziert worden sind – ja, man muss fast schon sagen, die Betrugsmanöver, die bei einigen Arbeitsämtern stattfanden, um sich selber darzustellen. Da war der Punkt gekommen, und da hat in der Tat der Schröder die Chance erkannt und hat gesagt: ‚Jetzt muss da Druck rein‘ – und hat die Hartz-Kommission eingesetzt und mit dem Peter Hartz jemanden gefunden, der von dem Geschäft was versteht. Er ist ja einer, der in seinem großen Unternehmen eben nicht Arbeitsplätze abbaut, wie das andere ja ständig tun, um ein bisschen mehr an der Börse zurechtzukommen, sondern er hat seine 50.000 Arbeitsplätze in Deutschland gehalten und sogar noch 5.000 zusätzlich geschaffen. Und er hat viele Ideen, und Ideen sind jetzt gefragt - und die klopfen wir ab. Meine Aufgabe besteht natürlich darin, zu sehen, was dem Osten dabei hilft. Sicher helfen uns auch flexiblere Jobcenter, die schneller sind, die mitdenken. Aber wir brauchen vor allen Dingen auch Anreize für Unternehmer, Leute einzustellen. Deswegen sind diese Finanzierungsmodelle ganz interessant.
Heuer: Der Jobfloater. Das zum Beispiel ist ein Ausdruck, den die meisten Menschen gar nicht erst verstehen. Und es ist so, dass es inzwischen so viele und so komplizierte Hartz-Vorschläge gibt, dass die meisten den Überblick verlieren. Kritiker sagen, die Hartz-Vorschläge in ihrer Summe wirken so unüberschaubar, wie das deutsche Steuersystem. Wie wollen Sie denn dafür sorgen, dass diese Vorschläge trotzdem praktisch umgesetzt werden?
Stolpe: Also, es ist im Grunde genommen handhabbar. Es sind ein paar wenige Instrumente, mit denen Entscheidendes gemacht werden kann. Also für mich sind das, speziell auch für den Osten, vier Dinge, mit denen man etwas tun kann. Das eine ist tatsächlich die höhere Flexibilität, dass diese Jobcenter – also Arbeitsämter – stärker mitdenken, vorausdenken, überlegen - was kommt denn auch aus Schule und Ausbildung auf den Arbeitsmarkt zu, wo können wir hier vor Ort helfen, wo können wir in der Gesamtregion etwas tun. Da ist mit Flexibilität und mit entsprechendem Engagement eine Menge zu machen. Das andere ist tatsächlich, dass man versuchen muss, aus mehreren anstehenden Problemen einen Durchbruch zu schaffen. Also, bei uns im Osten haben wir nach wie vor in den Städten und Gemeinden einen Rückstand in der Infrastruktur. Sie müssen ja nur einmal hier mit dem Auto fahren. Sie kommen auf den Bundesstraßen wunderbar voran, kommen dann in eine Ortschaft rein und merken, dass der Bürgermeister offenbar kein Geld hat, um seine Straßen in Ordnung zu bringen. Und wenn Sie sich den Kindergarten angucken, der ist auch nicht toll. Diese Schwächen der Infrastruktur, die muss man angehen, indem Aufträge hier hineinkommen und dadurch Arbeit entsteht. Und das Finanzierungsmodell, was er angedacht hat, ist ja im Grunde genommen so eine Art Anleihesystem. Ob das die Größenordnungen sind, weiß ich nicht, aber damit könnte Geld gewonnen werden – und das verstehen auch die Leute.
Heuer: Die Wirtschaftsverbände, Herr Stolpe, sagen: Die beste Hilfe für den Arbeitsmarkt ist, dass es den Unternehmen besser geht. Und dazu müssten zum Beispiel die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Angeblich wird die Hartz-Kommission nun doch nicht vorschlagen, Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe zu kürzen. Wissen Sie, ob das stimmt?
Stolpe: Nun, das ist ein heißes Thema, und die werden bestimmt heute morgen sich noch ganz erheblich mit auseinandersetzen müssen. Richtig ist in jedem Fall, dass die Unternehmer Anreiz haben müssen. Und bei uns heißt das, die Unternehmer müssten Angebote haben, die ihre Kapitalsituation verbessert und die ihnen damit die Möglichkeit gibt, Leute einzustellen. Und wenn man das dann verbinden kann mit Aufträgen – mit Blick auf die zum Teil desaströse kommunale Infrastruktur, dann haben wir einen Hebel. Auch das wird noch kein reines Wunder sein, und auch da wird nicht in wenigen Monaten das ganze Problem gelöst, aber dann haben wir einen Hebel, um etwas zu bewegen – Aufträge, Arbeit und zugleich Attraktivität der Kommunen.
Heuer: Früher einmal, Herr Stolpe, galt Bundeskanzler Gerhard Schröder als der ‚Genosse der Bosse‘. Jetzt beschimpft er die Wirtschaft als ‚fünfte Kolonne der Opposition‘, und er wirft ihr vor, nicht genug für neue Arbeitsplätze getan zu haben. Sind also die Unternehmen allein schuld?
Stolpe: Nein, ganz sicher nicht, und ich habe auch Schröder nicht so verstanden. Es wird ja kaum einen Unternehmer geben, der aus karitativen Überlegungen Arbeitsplätze schafft; er wird Arbeitsplätze schaffen, wenn er den Eindruck hat, dass ihn das kapitalmäßig nicht umbringt und dass Aufträge in Sicht sind. Damit lässt sich dann sicher etwas bewegen, und insofern ist dieser Jobfloater – man hätte sich einen noch nebulöseren Ausdruck ausdenken sollen, damit es dann gar keiner mehr versteht – doch am Ende ein Ansatz, weil das eine Verbesserung des Eigenkapitals bedeutet. Und wenn man das dann verbindet mit Aufträgen, dann lässt sich viel bewegen. Die Wirtschaft reagiert übrigens auch ganz unterschiedlich auf diese Vorstellung, und man darf ja nicht vergessen: Diese sogenannte Hartz-Kommission ist eine überparteilich zusammengesetzte Kommission mit exzellenten Fachleuten. Und wenn man da mal die Chance hat, ein bisschen mit hineinzuhören, dann hat man hohen Respekt davor; die machen wirklich entschieden gute Arbeit, und über die gibt es auch gar keine Tabus. Die fassen das alles erst einmal an, und die müssen dann allerdings einen Konsens finden . . .
Heuer: . . . ja, der ist aber auch gefährdet, Herr Stolpe, dieser Konsens. Was ist denn, wenn . . .
Stolpe: . . . ja, das ist nicht leicht, weil nun gerade auch dieses Wahlkampfgetöse stattfindet. Das macht die Sache nicht leichter. Aber tatsächlich ist dieses Problem ‚Massenarbeitslosigkeit‘ nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu lösen und nicht in wechselseitigem Beschimpfen und in einem marktschreierischen Wettbewerb von Versprechungen.
Heuer: Manfred Stolpe war das, der frühere brandenburgische Ministerpräsident und SPD-Ostdeutschland-Experte im Wahlkampf. Herr Stolpe, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Stolpe: Auf Wiederhören Frau Heuer.
Link: Interview als RealAudio