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"Die Menschen erwarten das"

Der ehemalige Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, hat für die Verantwortlichen der Bankenkrise Konsequenzen gefordert. Er warf den Eliten in der Finanzwirtschaft Versagen vor und verlangte eine strikte Aufarbeitung der Finanzkrise.

Kurt Biedenkopf im Gespräch mit Elke Durak |
    Elke Durak: Die Frage also noch einmal gestellt: Kann die Finanz- und die Wirtschaftskrise zur Vertrauenskrise und letztlich sogar zur Systemkrise führen? Wir haben die Finanz- und die Wirtschaftskrise, und mannigfaltige Bemühungen der Politik und, ja, auch der Wirtschaft, das Schlimmste zu verhindern. Aber verzerrt die Rettung einzelner großer Unternehmen durch den Staat so sehr den Wettbewerb, dass die Marktwirtschaft einer ihrer wichtigsten Grundlagen beraubt wird? Das wäre das eine. Das andere dies: Scheitert der Staat, entzieht ihm dann der Bürger das Vertrauen, und wenn ja, mit welchen Folgen? Dazu also jetzt am Telefon Professor Kurt Biedenkopf, ehemals Ministerpräsident von Sachsen. Guten Morgen, Herr Biedenkopf!

    Kurt Biedenkopf: Schönen guten Morgen!

    Durak: Auf einen Punkt gebracht die Frage: Steuern wir auf eine Systemkrise zu?

    Biedenkopf: Nein, so schnell geht das nicht. Aber es ist eine schwere Vertrauenskrise, und zwar ist die Vertrauenskrise der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis. Die Finanzkrise, wie wir sie nennen, also praktisch der Zusammenbruch einer funktionsfähigen Finanzwirtschaft oder ihre schwere Beschädigung, ist ja die Folge eines plötzlich verloren gegangenen Vertrauens, weil die Anleger und die Banken untereinander das Gefühl hatten, dass das, was sie da kaufen, keinen Wert hat, ganz praktisch gesprochen. Und wenn man nicht mehr kauft, dann bleibt das ganze System stehen. Die Finanzwirtschaft ist wie ein Blutkreislauf der Wirtschaft. Und wenn die Banken keine Kredite verlängern, keine neue Kredite geben, weil sie untereinander nicht trauen, weil die Refinanzierung nicht funktioniert, dann dehnt sich diese Krise auf die gesamte Realwirtschaft aus. Und genau das haben wir jetzt erlebt.

    Durak: Da sind wir angekommen, und die Vertrauenskrise setzt sich auch hier fort - behaupte ich einfach mal -, wie ein Flächenbrand breitet sie sich vielleicht aus. Denn wenn zum Beispiel Rettungsversuche durch den Staat scheitern - wir sind ja mitten dabei -, ist dann der Bürger enttäuscht, verliert er das Vertrauen in die Kraft und die Macht des Staates?

    Biedenkopf: Nein, ich glaube nicht, dass er deshalb das Vertrauen in die Macht des Staates verliert, denn alle Beteiligten, die in Schwierigkeiten sind - jetzt nicht die Bürger selbst, aber zum Teil auch die Bürger -, wenden sich ja an den Staat. Und das kann zu einer Überforderung des Staates führen. Aber ich glaube, die Leute sind sehr viel vernünftiger. Was sie nämlich im Augenblick machen, ist, dass sie ihren Konsum reduzieren, dass sie sagen, wir wollen nicht mehr so viel Geld ausgeben, wir wollen nicht mehr so viel Schulden machen, und wenn wir ein Auto kaufen, kaufen wir ein kleines und nicht ein großes. Und diese gewissermaßen kollektive Reduktion - es ist ja keine Konsumverweigerung -, Reduktion des Konsums ist ja einer der Hauptgründe dafür, plus dem weggefallenen Export, dass die Wirtschaft in so große Schwierigkeiten kommt. Das heißt, das setzt sich wie eine Kette von Verursachung und Wirkung fort. Und die Leute sagen jetzt, wenn alles so durcheinander geht, wenn wir nicht wissen, wie es in Zukunft weitergeht, dann wollen wir uns erst mal zurückhalten. Und diese Zurückhaltung ist in einer Wirtschaft, die auf Expansion angelegt ist, die die vollen Kapazitäten ausfahren muss, damit sie profitabel ist, ist das außerordentlich schwierig zu verkraften.

    Durak: Herr Biedenkopf, die Politik hat die Bürger ja dazu auch ermuntert, sich so zu verhalten. Heißt das, die Bürger vertrauen der Politik?

    Biedenkopf: Ich glaube, dass im Verhältnis zu Staat und Bürgern, dass der Begriff Vertrauen zwar wichtig ist, aber nicht so eine Schlüsselrolle hat. Die Bürger haben ja keinen anderen Adressaten. Wenn die Wirtschaft nicht funktioniert, wenn die Finanzmärkte nicht funktionieren, wenden sie sich an den Staat und sagen, bring das in Ordnung. Was fehlt in unserer ganzen Debatte, ist die Erklärung und die Aufklärung auch der Menschen, dass die Menschen an diesem Prozess ja voll beteiligt waren. Sie sind irgendwo Interessenten - ob sie nun Rentner sind oder Arbeitnehmer oder Selbstständige oder was auch immer. Jeder hat seine eigenen Interessen und jeder erwartet, dass der Staat diese Interessen erfüllt. Und das kann der Staat nicht. Und wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt in den letzten Jahrzehnten. Es ist uns immer besser gegangen, der Wohlstand ist gestiegen, und trotzdem haben wir uns immer höher verschuldet. Und das geht auf die Dauer nicht gut.

    Durak: Herr Biedenkopf, wie ist es denn dazu gekommen, dass die Bürger das Bewusstsein verloren haben oder gar nicht gewonnen haben, dass sie eigentlich Beteiligte sind in diesem großen politischen Spiel?

    Biedenkopf: Ja, weil wir sehr stark immer wieder, wenn irgendein Problem auftritt, uns an den Staat wenden. Und Politiker, die nun mal die Mandate haben, für den Staat zu handeln, reagieren natürlich auch auf diese Ansprüche der Bürger. Wenn die Politiker wissen, wenn ich dem Bürger etwas verspreche, wählt er mich, und wenn ich ihm nichts verspreche, wählt er jemand anders, dann ist die Versuchung außerordentlich groß, solche Versprechen zu machen. Das ist ein Wechselverhältnis, das kann man weder nur bei der Politik noch nur bei den Bürgern festmachen. Ich glaube, was wir jetzt erleben - und das ist vielleicht auch eine Chance in dieser Krise -, dass wir an die Grenzen dessen stoßen, was wir im Sinne von Expansion machen können, dass wir uns ein Stück zurücknehmen müssen, dass wir bescheidener werden müssen, ganz einfach. Und das ist ein sehr schmerzhafter Prozess. Ein Wissenschaftler hat mal gesagt: Die Leute ziehen sehr ungern vom Penthouse wieder ins Reihenhaus. Und es ist dieser Prozess, dass wir möglicherweise wieder uns ein Stück kleiner machen müssen, der uns jetzt so völlig durcheinanderbringt, weil wir das nicht gewohnt sind und weil wir die letzten 40 Jahre davon ausgegangen sind, es wird immer mehr, immer mehr Wachstum, immer mehr Wohlstand, immer mehr verteilt. Wir sind jetzt an die Grenze gestoßen.

    Durak: Meinen Sie nicht, Herr Professor Biedenkopf, dass die Mehrheit der Deutschen schon immer im Reihenhaus quasi gelebt haben und nicht im Penthouse?

    Biedenkopf: Ja, das ist ein Bild. Natürlich hat die überwiegende Mehrheit im Reihenhaus gelebt, aber Sie wissen doch, was ich meine.

    Durak: Ich meine das auch übertragen. Also das Penthouse, der Reichtum, der Luxus, das ist ...

    Biedenkopf: Das Penthouse ist noch kein Reichtum und Luxus, sondern die Deutschen haben, verglichen mit dem Rest der Welt, an der Spitze des Wohlstands gelebt. Und das tun sie immer noch. Aber die weitere Vermehrung zu Kosten der Zukunft, das funktioniert nicht mehr. Der Staat, wenn er jetzt weiter Schulden macht, wird der Staat selbst zum Problem. Und deshalb müssen alle - und da das Problem überall auftritt, in Amerika werden Schulden gemacht, überall werden Schulden gemacht, und wer soll die Schulden bezahlen? Das können nur mal unsere Kinder und unsere Enkel sein. Und die Menschen fangen jetzt an zu spüren, dass das nicht geht und dass ein immer höher verschuldeter Staat ihnen keine Sicherheit gewährt, sondern das Gegenteil.

    Durak: Ist nicht auch Problem, dass sich die Deutschen weniger mit dem Ausland vergleichen als mit sich selbst?

    Biedenkopf: Bitte?

    Durak: Als mit sich selbst, die Deutschen vergleichen sich doch nicht mit den Armen in Afrika, sondern mit sich selbst, mit den Nachbarn.

    Biedenkopf: Nein, sie vergleichen sich nicht mit den Armen in Afrika, sie vergleichen sich untereinander. Und das Interessante ist ja, wenn sie die Menschen nach ihrer eigenen Lage frage, ob sie mit ihrer eigenen Lage zufrieden sind in Deutschland, dann sind mehr als drei Viertel mit ihrer eigenen Lage zufrieden. Die Unzufriedenheit resultiert nicht aus der eigenen Lage, aus den eigenen Lebensverhältnissen, sondern die resultiert aus dem Vergleich mit anderen. Und das ist zum Teil ein Gerechtigkeitsproblem. Und dieses Gerechtigkeitsproblem hat sich jetzt auch in besonderer Intensität gestellt, und zwar insbesondere durch das Versagen unserer Eliten in der Finanzwirtschaft. Das muss aufgearbeitet werden, darüber muss diskutiert werden. Die Eliten selbst, die ja zu einem wesentlichen Teil, insbesondere in der Finanzwirtschaft, für diese Verhältnisse verantwortlich sind, müssen auch zur Rechenschaft gezogen werden. Die Menschen erwarten das. Und dieses Zur-Rechenschaft-Ziehen ist ein ganz wichtiges Element einer Genesungspolitik.

    Durak: Herr Biedenkopf, ich kann es nicht lassen, den Politiker in Ihnen anzusprechen. Sie sagten vorhin, das Vertrauen sei nicht so sehr wichtig für das Verhältnis Politiker/Bürger. Aber weshalb nutzen dann so viele Politiker den Begriff oder das Bild? Sie werben darum, versprechen, beruhigen, insbesondere wenn wir uns wie jetzt in einem Wahljahr befinden. Sollten sich nicht besser darauf verzichten, Vertrauen ständig einzufordern oder das zu erbitten?

    Biedenkopf: Nein, Vertrauen kann man nicht einfordern, Vertrauen kann man nur erarbeiten. Durch Versprechen gewinnt man kein Vertrauen. Das ist ein großer Irrtum. Sondern Vertrauen bekommt man durch Verlässlichkeit, und zwar langfristige Verlässlichkeit, und durch Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit. Wenn wir wahrhaftig Politik machen, dann müssen wir mit den Menschen darüber reden, dass die Verschuldensgrenze des Staates im Grunde erreicht ist. Wir müssen mit ihnen darüber reden, was die Ursachen waren und dass wir alle in irgendeiner Weise an der Setzung dieser Ursachen beteiligt waren. Als der Herr Kluncker in den 70er-Jahren 13 Prozent Lohnerhöhung unter der Regierung Brandt für den öffentlichen Dienst forderte und sich dann mit 11 Prozent durchsetzen konnte, hat er gewissermaßen eine Tür aufgestoßen. Und das ist immer weitergegangen, mal weniger, mal mehr, mal weniger, mal mehr. Und immer mehr haben wir auf Pump gelebt, auf Zukunft, während die Staatsschulden ständig gestiegen sind. Und das kann man nicht auf Dauer machen. Irgendwann kriegt man die Rechnung präsentiert. Und wir bekommen jetzt die Rechnung präsentiert, und zwar nicht von uns und nicht von unserer Regierung, sondern von der Weltwirtschaft.

    Durak: Und die jüngeren Deutschen sagen, was habe ich mit der Zeit von Herrn Kluncker zu tun, weshalb muss ich jetzt die Rechnung bezahlen?

    Biedenkopf: Das ist genau der Punkt. Und meine Enkel werden diese Frage mit noch viel größerer Intensität stellen. Und dann werden sie eines Tages zu dem Ergebnis kommen, dass sie in einem Land leben, in dem man sich nicht mehr auf das verlassen kann, was gesagt wird. Und dadurch entsteht Vertrauensverlust. Durch Versprechen kann man Vertrauen nicht herstellen. Man kann es nur herstellen durch eine ganz systematische, ehrliche, wahrhaftige Diskussion mit den Menschen über die wirklichen Ursachen. Man kann Vertrauen nicht herstellen, indem man den Opel-Arbeitern verspricht, man würde ihnen ihre Arbeitsplätze erhalten, denn man kann es nicht. Und das ist zwar kurzfristig vielleicht möglich, über ein Jahr oder ein halbes Jahr, aber wenn dieses begonnene Vertrauen dann wieder zerstört wird oder gefährdet wird oder enttäuscht wird, dann wird es noch viel schwieriger, Vertrauen wieder aufzubauen. Deshalb sind die kurzfristigen Versprechen, die gemacht werden, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, außerordentlich gefährlich.

    Durak: Professor Kurt Biedenkopf, ehemals Ministerpräsident in Sachsen. Herr Biedenkopf, danke für das Gespräch!