Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


"Die Menschen müssen sich bewegen"

Sozialstaat könne nicht nur heißen, dass Geld verteilt werde, mahnt der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, Wolfgang Gerhardt. Für soziale Gerechtigkeit sei entscheidend, dass man Menschen in die Lage versetze, sich selbst zu helfen.

Wolfgang Gerhardt im Gespräch mit Jürgen Liminski | 16.02.2010
    Jürgen Liminski: Hat die Menschenwürde doch einen Preis? In Krisenzeiten sind manche Politiker geneigt, diesen Preis festzulegen auf eine Handvoll Euro. Das Bundesverfassungsgericht hat vor einer Woche unter solche Rechnerei einen Schlussstrich gezogen und damit die Debatte auf ein höheres Niveau gehievt. Die Frage lautet jetzt: Was gehört eigentlich alles zur Würde des Menschen? Und bei der Antwort geht es in der Tat nicht um Kleingeld, auch wenn es sich auf Milliarden summaddieren sollte. Es geht auch um das Selbstverständnis des Sozialstaats, um ein Menschenbild der Solidarität. Darüber herrscht Streit zwischen der Koalition und Opposition, auch in der Koalition selbst. Vielleicht ist es auch nur ein Streit um Begriffe. Was ist mit Sozialstaat gemeint, wenn Liberale sich dafür oder dagegen stark machen? Was kann eine Generaldebatte zu diesem Thema überhaupt beitragen? Wer finanziert den Sozialstaat, und müssen die Deutschen das Teilen wieder lernen? Zu diesen anderen Fragen begrüße ich am Telefon den Vorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung und früheren Bundesvorsitzenden der FDP, Wolfgang Gerhardt. Guten Morgen, Herr Gerhardt!

    Wolfgang Gerhardt: Guten Morgen, Herr Liminski!

    Liminski: Herr Gerhardt, der jetzige Parteichef der Liberalen hat eine Generaldebatte über Hartz IV angeregt und die Kanzlerin zeigt sich dafür offen. Ist diese Debatte nötig oder nur eine Ausflucht aus einer heiß gelaufenen Diskussion?

    Gerhardt: Das wird sich im Laufe der Debatte zeigen. Ich glaube, man kann sie zielgerichtet und substanziell führen, wenn man es will, und dann wird sie uns auch etwas bringen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen wirklich vermuten, dass wir in der Politik zu lange jetzt nur über die geredet haben, die Empfänger sind, und zu wenig denen unseren Respekt gegeben haben, die auch erwirtschaften. Das Ganze in ein Gleichgewicht zu bringen und unter Solidarität wieder Geben und Nehmen zu verstehen, und zwar auch von denen, die empfangen, und eigene Anstrengungsbereitschaft, das würde Sinn machen, wenn wir die Debatte in gutem Stil führen.

    Liminski: Was verstehen Sie denn als Vorsitzender der liberalen Denkwerkstatt, des Thinktanks Naumann-Stiftung unter Sozialstaat?

    Gerhardt: Na ja, er müsste einen neuen Anlauf nehmen, weil Sozialstaat nicht nur heißen kann, dass Geld verteilt wird, sondern dass soziale Gerechtigkeit nicht ausschließlich an der Höhe der öffentlichen Ausgaben gemessen wird. Der wirkliche Test besteht ja darin, so hat das auch einst Gerhard Schröder formuliert, inwieweit wir die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen. Und da kommt für mich eher, als Vertreter der Friedrich-Naumann-Stiftung, die Kategorie der Teilhabe in Betracht. Die Menschen müssen ja die Chancen haben, sich aus der Empfängerlandschaft wieder herausarbeiten zu können. Und das ist nicht mehr ausreichend gewährleistet.

    Liminski: Über die Teilhabe würde ich Sie vielleicht gleich noch mal fragen. Zunächst die Frage: Ist Sozialstaat eher mit Freiheit oder mit Gleichheit zu verwirklichen?

    Gerhardt: Ich glaube, dass man nicht dem Glauben unterliegen sollte, dass es eine absolute soziale Gerechtigkeit gibt. Die Menschen sind nicht gleich. Die Menschen haben unterschiedliche Fähigkeiten, es gibt einen Zufall, der bei der Kombination unserer Erbanlagen waltet, den Schulen nur bedingt ausgleichen kann. Es gibt eben Menschen, die mit einer Chance sofort etwas anfangen können und aus Hartz IV herauskommen, und es gibt Menschen, denen Sie zehn Chancen anbieten können, die nicht herauskommen. Damit müssen wir fertig werden, deshalb soll niemand in Not kommen. Aber die Priorität muss in der Orientierung der Teilhabe liegen.

    Liminski: Auch das Teilhaben kostet Geld, und unvermeidlich ist – zumal in Krisenzeiten – die Frage nach den Kosten des Sozialstaats. Wenn nichts da ist außer Schulden, muss eben mehr geteilt werden. Wo kann man bei den Begüterten und denen, die etwas haben, etwas für die Habenichtse holen – Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer, Spekulationssteuer – oder muss wieder die schmilzende Mittelklasse bluten?

    Gerhardt: Ich würde jetzt nicht wieder mich auf die Suche nach neuen Einnahmequellen machen. Das ist ein beliebtes Spiel und da verfängt bei vielen auch emotional diese Robin-Hood-Mentalität. Die ist aber falsch. Die größte soziale Sicherheit ist ein Arbeitsplatz. Wir werden die Haushalte auch nicht konsolidieren, wenn wir nicht bei schwachem wirtschaftlichem Wachstum, was wir ja noch immer haben, auch eine transparentere Steuerpolitik machen, sprich eine Steuerreform. Denn mehr Arbeitsplätze heißt im Grunde genommen mehr soziale Sicherheit und auch mehr Einnahmen. Deshalb ist es strukturell falsch, nur jetzt zu sagen, wir gehen auf die Ausgabenseite. Wir müssen auch die Anschübe setzen für wirtschaftliche Zukunftsfähigkeit, und wir haben ohnehin schon viel zu viele soziale Ausgaben mit ungedeckten Schecks auf die Zukunft derer verteilt, die jetzt noch gar nicht wählen dürfen.

    Liminski: Sie plädieren indirekt, wenn ich das so richtig heraushöre, für das Sparen. Wo soll, wo kann denn gespart werden?

    Gerhardt: Wir haben einen Haushalt zwischen 300 und 400 Milliarden Euro. Da kann mir niemand weismachen, dass wir nicht sparen könnten, und wir werden das auch tun. Ich gehöre zu denen, auch von der Friedrich-Naumann-Stiftung her, die Wert darauf legen, dass das klassische Image der FDP – solide Haushalte – auch beim Haushalt 2011 klar aufgezeigt wird. Wir haben eine Schuldenbremse, die müssen wir einhalten. Ich glaube, dass wir beides können, bremsen und ein Stück Gas geben. Im Übrigen Gas geben auch deshalb, wie ich gesagt habe, weil Beschäftigungsdynamik wieder kommen muss. Wir brauchen mehr Arbeitsplätze.

    Liminski: Ein Aspekt kommt in der Debatte noch gar nicht zur Sprache, nämlich die demografische Entwicklung. Sie bringt den Sozialstaat an den Rand des Ruins, zum Beispiel, wenn die Zahl der Rentner in ein paar Jahren massiv steigt. Muss man vor diesem Szenario nicht ein ganz neues System erfinden?

    Gerhardt: Ja, das muss man und man muss es sehr gründlich machen, und man darf den Menschen keine Angst machen, dass sie keine soziale Sicherheit mehr hätten. Aber die Menschen müssen sich bewegen. Es gibt eine Art Unbeweglichkeit in unserer Gesellschaft, die überhaupt nichts Neues in Augenschein nimmt. Wobei doch jeder weiß, dass die gesetzliche Rente und dass vieles so nicht mehr alleine trägt. In Deutschland hätten wir alle Potenziale, das soziale Sicherungssystem umzustellen, den Menschen zu sagen, dass sie etwas mehr private Vorsorge selbst in die Hand nehmen müssen. Dann muss man ihnen aber auch mehr netto belassen, das eine hängt mit dem anderen zusammen. Wir haben in Deutschland eigentlich ein Problem, eine absolute Schwäche auch im politischen Feld, im Denken, in Wenn-dann-Beziehungen – wenn man das unternimmt, was folgt daraus. Und so ist die ganze Sozialpolitik im Grunde genommen erstarrt. Gerhard Schröder hat das in dem berühmten Papier mit Tony Blair mal ausgedrückt. Der Weg zu sozialer Gerechtigkeit war immer mit höheren öffentlichen Ausgaben belastet ohne Rücksicht auf die Ergebnisse oder die Wirkung auf Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Die sozialdemokratischen Stimmen in der Debatte sollten sich an diese Sätze auch erinnern.

    Liminski: Das heißt, Sie werfen den Sozialdemokraten, überhaupt vielen Politikern ein starres, unbewegliches Denken vor?

    Gerhardt: Ja, das entspricht ihrer Motivation auf dem Markt sozusagen der Wählerbewirtschaftung. Sie glauben, dass sie Menschen eher gewinnen können, wenn sie den Status quo verteidigen. Aber der Status quo ist unter der Oberfläche erschüttert. Unsere sozialen Sicherungssysteme tragen so nicht mehr. Und dann stellt sich die Frage, wer eigentlich soziales Empfinden am stärksten auch bei sich selbst trägt – der sagt, das machen wir so weiter, oder der, der vielleicht sagt, wollen wir nicht einige Umstellungen und Renovierungen im System unternehmen, damit es zukunftsfähig wird. Das ist die Position der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

    Liminski: Starr, Herr Gerhardt, ist das Denken und die Diskussion in Deutschland, glaube ich, nicht, das kann man nicht sagen. Der hessische Ministerpräsident hat neulich angeregt, über neue Formen des Forderns und Förderns nachzudenken. Es gab sofort einen Aufschrei, so wie jetzt, als Ihr Parteichef von spätantiker Dekadenz sprach. Ist unsere Mediengesellschaft für eine Debatte über den Sozialstaat zu hysterieanfällig?

    Gerhardt: Das mag sein, nur darauf kann man keine Rücksicht nehmen, wenn man davon überzeugt ist, dass einiges geändert werden muss. Man hat immer Gegner und man erntet herbe Vorwürfe. Aber wenn man der Überzeugung ist, dass es im besten Sinne ein Stück neue Zukunftsfähigkeit zu gewinnen gilt, muss man die Debatte führen. Die entscheidende Frage ist, wie führt man sie? Sie muss stilsicher geführt werden, das ganze Vokabular, das in der Debatte herumschwirrt, würde ich mir nicht zu eigen machen, beginnend beim hessischen Ministerpräsidenten bis zu anderen Teilnehmern der Debatte, weil man Menschen etwas vermitteln will im positiven Sinne und nicht ihnen Angst einjagen sollte.

    Liminski: Für einen Sozialstaat der Teilhabe und für eine Versachlichung einer notwendigen Debatte – das war hier im Deutschlandfunk der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung, Wolfgang Gerhardt. Besten Dank für das Gespräch, Herr Gerhardt!

    Gerhardt: Danke Ihnen auch!