Montag, 13. Mai 2024

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"Die Menschen sind findig"

Die ehemalige Bundesmigrationsbeauftragte Marieluise Beck hat betont, dass sich illegale Einwanderung nicht dauerhaft eindämmen lasse, ohne die Armut in den Herkunftsländern zu bekämpfen. Die Grünen-Politikerin wies darauf hin, dass Migranten, die es in die entwickelten Länder geschafft haben, hierbei einen wichtigen Beitrag leisten: Aus den so genannten Diaspora-Gemeinden werde schätzungsweise doppelt soviel Geld in die Heimatländer überwiesen, wie aus der Entwicklungshilfe komme.

Moderation: Dirk-Oliver Heckmann | 23.06.2006
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Zahl ist erschreckend. Mehr als 40 Millionen Menschen sind nach Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR auf der Flucht. Immer mehr Menschen versuchen, dem Elend zu entgehen und Europa zu erreichen. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres waren es 11.000 Afrikaner, die an den Küsten der kanarischen Inseln strandeten. Mehr als doppelt so viele sind das wie im gesamten Vorjahr. Viele Menschen ertrinken. Was kann dagegen unternommen werden? - Darüber beraten seit gestern zahlreiche Nichtregierungsorganisationen in Madrid beim so genannten Weltmigrationsforum.

    Bei uns am Telefon begrüße ich jetzt Marieluise Beck. Sie ist die ehemalige Migrationsbeauftragte der Bundesregierung und Bündnis-Grünes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages. Guten Morgen Frau Beck!

    Marieluise Beck: Guten Morgen Herr Heckmann!

    Heckmann: Frau Beck, Jahr für Jahr die gleichen Bilder, die gleichen Nachrichten von gesunkenen Schiffen. Bleibt Europa nichts anderes, als sich abzuschotten?

    Beck: Wir haben immer mal Wellen der Aufmerksamkeit. Wenn etwas Dramatisches passiert und es wahrgenommen wird, dann richten wir unseren Blick nach Sizilien oder an die spanische Küste oder auf die kanarischen Inseln, wo wir immer wieder erleben, dass Schiffe mit Menschen ertrinken oder abgewiesen werden. Sie wissen, dass es sogar Überlegungen gibt, Flotten und Luftwaffen einzusetzen, um die Menschen von uns weg zu halten. Ich glaube man muss erst einmal feststellen, solange es diese unglaublichen Armuts- und Reichtumsunterschiede zwischen Europa und Afrika gibt, es diese Versuche, das reiche Europa zu erreichen, weiterhin geben wird. Ein Gegensteuern ist ein sehr, sehr langer Prozess. Auch das muss man ehrlicherweise sagen. Erst wenn wir ein wenig diese unglaubliche Schere schließen können, wird dieser große Druck auf unsere Grenzen abnehmen. Das ist eine langfristige Perspektive, die die Frage nach der Entwicklung von Afrika stellt.

    Heckmann: Frau Beck, bleiben wir vielleicht noch mal bei den "Abwehrmaßnahmen". Es gibt ja nicht nur Überlegungen, dort Schiffe und Flugzeuge einzusetzen, sondern konkrete Maßnahmen. Vor einigen Tagen, vorgestern, haben sich mehrere EU-Staaten darauf verständigt, vor der afrikanischen Küste eben Schiffe und Flugzeuge einzusetzen, um Boote aufzubringen. Bewegt die Abwehr auf europäischer Ebene noch im vernünftigen Rahmen?

    Beck: Es ist ein harter Rahmen. Er ist unerbittlich gegenüber den Menschen, die versuchen, zu uns zu kommen. Gleichzeitig ist er weltweit angewandt. Wenn wir in die USA schauen, sehen wir dort seit vielen Jahren, wie die Amerikaner versuchen, sich gegenüber der Wanderungsbewegung nach Mexiko abzuschotten mit einem Zaun, mit immer stärkeren Maßnahmen, und trotzdem kommen die Menschen. Ich glaube, das muss man sich klar machen: Die Menschen werden kommen. Menschen sind findig. Es wird ein Weg verschlossen und tut sich ein neuer auf. Ich gehe davon aus, dass mit diesen Maßnahmen man vielleicht diese Form von Wanderung ein Stück eindämmen kann, aber es wird sie weiterhin geben und das sollten wir realistischerweise auch anerkennen, zumal es immer zwei Seiten gibt. Die Menschen kommen, weil sie davon ausgehen, dass sie auch eine Chance bekommen in Europa. Die Chance heißt: Sie finden einen Arbeitsplatz. Das heißt auf europäischer Seite gibt es zu dieser Armutswanderung ein Gegenüber, nämlich Firmen, Privathaushalte, kleine Betriebe, landwirtschaftliche Betriebe, die Schwarzarbeit anbieten für eben diese Menschen "Sans papiers", wie man in Frankreich sagt. Also denke ich, geht es vor allen Dingen darum, auch den Blick auf unsere eigene Ökonomie zu lenken.

    Heckmann: Frau Beck, immer mehr Flüchtlinge erreichen die Grenzen Europas gerade in Spanien und Italien, aber bis nach Deutschland schaffen es eigentlich die wenigsten. Werden die Mittelmeer-Anrainerstaaten alleine gelassen von den anderen EU-Partnern?

    Beck: Man muss bei Spanien den Blick noch einmal auf die Frage der Entwicklung der Ökonomie wenden, die ich eben angesprochen habe. Spanien hat sich ja im Rahmen der EU mit großer Geschwindigkeit entwickelt und es gibt in Spanien einen großen Bedarf an Arbeitsplätzen. Also das ist das, was als Pullfaktor bezeichnet wird in der Migrationsdebatte. Es ist vor Ort eine Situation, die auch Menschen anzieht. Es spricht sich herum. Es kommt ja niemand als Individuum ganz alleine. Man weiß, in welchen Ländern gibt es Chancen, wo kann ich andocken. Insofern ist es nicht nur die Frage der Küste, dass die Menschen nach Spanien gehen, sondern es hat auch etwas damit zu tun, dass in diesem prosperierenden Land sehr wohl Arbeitskräfte gebraucht werden. Wir haben ja diese Zweiteilung auch bei uns. Wir haben bei uns einen hohen Sockel von Arbeitslosigkeit und vor einigen Tagen wieder die Meldung, dass auf manchen Feldern die Erdbeeren hängen bleiben, weil nicht genug Erlaubnisse für Saisonarbeit ausgestellt worden sind. Also es gibt in diesen hoch entwickelten Industriegesellschaften immer auch einen Arbeitsmarkt im niedrig qualifizierten und schlecht bezahlten Bereich, der in all den Ländern, die soziale Transfers leisten - und das tun alle entwickelten Sozialstaaten -, nicht mehr verrichtet werden. Das ist der Bereich, der bekannt ist und der auch mit ein Grund ist, dass Menschen versuchen zu kommen, weil das für sie ein Weg aus der Zukunftslosigkeit sein könnte, manchmal ja für ganze Dörfer, die sich zusammentun, um einen unter ihnen zu schicken.

    Heckmann: Aber die Ursachen für diese Fluchtbewegungen liegen ja in den Herkunftsländern, in den Entwicklungsländern. Sie haben es gerade eben schon angesprochen. Und da müsste ja auch angesetzt werden. Tut da die Bundesregierung genug? Tut da die Europäische Union aus Ihrer Sicht genug?

    Beck: Wir tun, wenn wir auf die Geldbeträge und die Höhe der Entwicklungshilfe schauen, nicht genug. Es gibt seit allen Jahren - ich muss fairerweise sagen, von allen Parlamentariern und Bundesregierungen - das Ziel, die Entwicklungshilfe dem Bruttosozialprodukt von 0,7 Prozent anzunähern. Das hat bisher niemand erreicht.

    Ich möchte aber auf einen Aspekt hinweisen, über den bisher wenig gesprochen worden ist. Das ist die Rolle von Diaspora-Gemeinden. Wir wissen inzwischen, dass die Migranten, die es in die entwickelten Länder geschafft haben, hohe Geldbeträge zurück überweisen in die Herkunftsländer. Man schätzt, dass die etwa doppelt so hoch sind oder deutlich höher als alles, was weltweit an Entwicklungshilfe geleistet wird. Das ist nicht nur Geld, das hilft und ankommt, wie wir immer so schön sagen, wenn wir in der humanitären Arbeit sind, sondern mit diesem Geld verbinden sich auch Beziehungen, auch Rückwanderung, auch Aufbau von ökonomischen Kontakten. Ich glaube, wir wären gut beraten, mit einem neuen Blick auf die Frage von Diaspora-Gemeinden zu schauen, weil die Diaspora-Gemeinden als Entwicklungsfaktor eine ganz große Bedeutung haben. Das ist ein Punkt, an dem intelligent und stärker angesetzt werden sollte. Es geht nicht nur um die Frage Entwicklungshilfe, sondern es geht auch um die Frage ökonomischer Entwicklung, die über diesen Transmissionsriemen Fahrt nehmen kann in Ländern des Südens.