Friedbert Meurer: Seit Tagen pumpt die Feuerwehr Meerwasser auf die Reaktoren in Fukushima. Auf diese Art und Weise sollen die Brennstäbe gekühlt und damit das schlimmste verhindert werden. Die Behörden und die Regierung können wohl auch einige Erfolge vermelden, aber es tritt Radioaktivität in der Umgebung aus. Erhöhte Strahlenwerte sind neben Gemüse auch in Milch und Wasser nachgewiesen worden.
In Osaka begrüße ich jetzt Wolfgang Schwentker. Er ist Professor für Kulturwissenschaften an der dortigen Universität. Guten Morgen, Herr Schwentker.
Wolfgang Schwentker: Guten Morgen, Herr Meurer!
Meurer: Wenn Sie diese und ähnliche Meldungen in diesen Tagen verfolgen, wie viele Sorgen machen Sie sich?
Schwentker: Ich mache mir viele Sorgen. Hier mit den Studenten und meinen Kollegen in der Universität beobachten wir die Dinge aufmerksam. Die Bevölkerung ist auch hier im Süden, in Osaka – wir sind 500 Kilometer von Tokio und 750 Kilometer etwa von Fukushima entfernt – sehr besorgt und verfolgen die weiteren Entwicklungen mit angespannter Aufmerksamkeit.
Meurer: Geht es bei Ihrer Sorge darum, dass man sich Sorgen um Bekannte oder Freunde macht, die in der Nähe von Fukushima oder eher nördlich leben, oder gibt Ihnen und den Studenten es jetzt zu denken, wenn es heißt, Gemüse und Wasser ist radioaktiv verstrahlt?
Schwentker: Ja beide Dinge spielen natürlich eine Rolle. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben Verwandte in der Region und haben in der vergangenen Woche oftmals verzweifelt versucht, diese dort zu erreichen, weil die Kommunikationsmöglichkeiten nicht gut waren, einige Leitungen unterbrochen waren, und nach wie vor, wie Sie wissen, sehr viele Menschen vermisst werden. Die Sorge ist also entsprechend groß.
Hinzu tritt jetzt das Problem verseuchter Lebensmittel. Hier im Süden, in Osaka, oder weiter noch im Südwesten, in Kiuschu, sind die Sorgen nicht ganz so groß, aber man achtet natürlich darauf beim Einkauf, woher die Lebensmittel kommen, und macht sich Gedanken darüber, wie sich die zukünftige Entwicklung gestalten wird.
Meurer: Wir bewundern ja die Japaner, Herr Schwentker, seit Ausbruch dieser Katastrophe, weil sie stoisch den Gefahren zu trotzen scheinen. Ist das letzten Endes doch nur eine Fassade und die sorgen sich genauso natürlich, wie wir das täten in dieser Situation?
Schwentker: Ja. Ich würde sagen, da unterscheiden sich die Japaner wenig von Menschen, die im Westen groß geworden sind und dort leben. Ich würde die kulturellen Differenzen, auch die mentalen Unterschiede nicht übergewichten. Die Leute sind hier zunächst einmal schockiert, in großer Sorge, haben mit Problemen des Überlebens zu tun, und von stoischen Reaktionen sind viele ja doch weit entfernt. Das Entsetzen ist groß und die Erschütterung und die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung lässt viele nicht mehr ruhig schlafen.
Meurer: Aber auf der anderen Seite lesen wir, dass es geradezu als nationale Pflicht gilt, wenn man in Tokio lebt, dann auch dort zu bleiben, und Ausländer, die gehen, die jetzt ins Ausland fliegen, oder zu Ihnen nach Osaka in den Süden fliehen, die werden schon ein bisschen argwöhnisch beäugt und für illoyal gehalten. Wäre das in Deutschland auch so? Würden wir nicht zu Hunderttausenden die Städte verlassen in so einer Situation?
Schwentker: Also da habe ich große Zweifel. Ich glaube, wenn man sich die Katastrophen ansieht, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat, würde ich sagen, dass auch dort Menschen, die in verantwortungsvoller Position standen, die eine Rolle im öffentlichen Leben hatten, oder in Firmen bestimmte Funktionen zu erfüllen hatten, versucht haben, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch in Deutschland zu großen Fluchtbewegungen gekommen ist, wenn Sie beispielsweise auf die Katastrophen an der Oder, oder in Hamburg Anfang der 1960er-Jahre gucken, und auch hier ist die Mentalität nicht unterschiedlich. Natürlich wird bedauert, wenn Ausländer Tokio verlassen. Man muss auch dazu sagen, dass insbesondere unter den Schichten der Bevölkerung, die es sich leisten können, auch Japaner sich nach Süden abgesetzt haben, oder ihre Kinder ins benachbarte Ausland schicken, oder gar nach Europa, oder in die USA. Aber das ist kein allgemeines Phänomen. Jeder weiß, dass die Erhaltung der Funktionsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen und Institutionen wichtig ist, um die Krise zu bewältigen, und wir müssen bedenken: einen Großraum wie Tokio mit ungefähr 30 Millionen Einwohnern, wenn man die benachbarten Präfekturen noch hinzunimmt, kann man nicht mehr evakuieren.
Meurer: Welche Folgen, sagen Sie voraus, wird die Katastrophe haben für das politische und gesellschaftliche Japan?
Schwentker: Einige meiner Kollegen in der Presse haben die Auffassung vertreten, dass diese Katastrophe keine großen Spuren hinterlassen wird, wenn man diese Atomproblematik schnell in den Griff bekommt. Ich teile diese Auffassung nicht. Ich glaube, der 11. März 2011 ist für Japan eine bleibende Zäsur mit Auswirkungen auf das politische System und die soziale Ordnung. Wir hatten hier in Japan über mehrere Jahre jetzt hinweg politische Dauerkrisen. Es gibt hier einen massiven Vertrauensverlust mit Blick auf das Verhalten der politischen Klasse. Man wird erwarten, dass die politischen Verantwortlichen nicht mehr ihre partikularen Interessen verfolgen, sondern wieder stärker an das Gemeinwohl denken.
Auf der gesellschaftlichen Ebene wird es aus meiner Sicht zu einer Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen kommen, wie wir die im übrigen auch nach dem Kobe-Erdbeben 1995 beobachten konnten. Der Staat alleine ist mit der Bewältigung einer Katastrophe diesen Ausmaßes mit Sicherheit überfordert und die Menschen werden versuchen, sich selbst zu helfen. Unabhängig davon wird natürlich auch Hilfe aus dem Ausland nötig sein, sowohl was finanzielle Unterstützung angeht, als auch technisches und pragmatisches Knowhow.
Meurer: Professor Wolfgang Schwentker, Kulturwissenschaftler an der Universität Osaka, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Schönen Dank und auf Wiederhören, Herr Schwentker.
Schwentker: Bitte sehr!
In Osaka begrüße ich jetzt Wolfgang Schwentker. Er ist Professor für Kulturwissenschaften an der dortigen Universität. Guten Morgen, Herr Schwentker.
Wolfgang Schwentker: Guten Morgen, Herr Meurer!
Meurer: Wenn Sie diese und ähnliche Meldungen in diesen Tagen verfolgen, wie viele Sorgen machen Sie sich?
Schwentker: Ich mache mir viele Sorgen. Hier mit den Studenten und meinen Kollegen in der Universität beobachten wir die Dinge aufmerksam. Die Bevölkerung ist auch hier im Süden, in Osaka – wir sind 500 Kilometer von Tokio und 750 Kilometer etwa von Fukushima entfernt – sehr besorgt und verfolgen die weiteren Entwicklungen mit angespannter Aufmerksamkeit.
Meurer: Geht es bei Ihrer Sorge darum, dass man sich Sorgen um Bekannte oder Freunde macht, die in der Nähe von Fukushima oder eher nördlich leben, oder gibt Ihnen und den Studenten es jetzt zu denken, wenn es heißt, Gemüse und Wasser ist radioaktiv verstrahlt?
Schwentker: Ja beide Dinge spielen natürlich eine Rolle. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben Verwandte in der Region und haben in der vergangenen Woche oftmals verzweifelt versucht, diese dort zu erreichen, weil die Kommunikationsmöglichkeiten nicht gut waren, einige Leitungen unterbrochen waren, und nach wie vor, wie Sie wissen, sehr viele Menschen vermisst werden. Die Sorge ist also entsprechend groß.
Hinzu tritt jetzt das Problem verseuchter Lebensmittel. Hier im Süden, in Osaka, oder weiter noch im Südwesten, in Kiuschu, sind die Sorgen nicht ganz so groß, aber man achtet natürlich darauf beim Einkauf, woher die Lebensmittel kommen, und macht sich Gedanken darüber, wie sich die zukünftige Entwicklung gestalten wird.
Meurer: Wir bewundern ja die Japaner, Herr Schwentker, seit Ausbruch dieser Katastrophe, weil sie stoisch den Gefahren zu trotzen scheinen. Ist das letzten Endes doch nur eine Fassade und die sorgen sich genauso natürlich, wie wir das täten in dieser Situation?
Schwentker: Ja. Ich würde sagen, da unterscheiden sich die Japaner wenig von Menschen, die im Westen groß geworden sind und dort leben. Ich würde die kulturellen Differenzen, auch die mentalen Unterschiede nicht übergewichten. Die Leute sind hier zunächst einmal schockiert, in großer Sorge, haben mit Problemen des Überlebens zu tun, und von stoischen Reaktionen sind viele ja doch weit entfernt. Das Entsetzen ist groß und die Erschütterung und die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung lässt viele nicht mehr ruhig schlafen.
Meurer: Aber auf der anderen Seite lesen wir, dass es geradezu als nationale Pflicht gilt, wenn man in Tokio lebt, dann auch dort zu bleiben, und Ausländer, die gehen, die jetzt ins Ausland fliegen, oder zu Ihnen nach Osaka in den Süden fliehen, die werden schon ein bisschen argwöhnisch beäugt und für illoyal gehalten. Wäre das in Deutschland auch so? Würden wir nicht zu Hunderttausenden die Städte verlassen in so einer Situation?
Schwentker: Also da habe ich große Zweifel. Ich glaube, wenn man sich die Katastrophen ansieht, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat, würde ich sagen, dass auch dort Menschen, die in verantwortungsvoller Position standen, die eine Rolle im öffentlichen Leben hatten, oder in Firmen bestimmte Funktionen zu erfüllen hatten, versucht haben, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch in Deutschland zu großen Fluchtbewegungen gekommen ist, wenn Sie beispielsweise auf die Katastrophen an der Oder, oder in Hamburg Anfang der 1960er-Jahre gucken, und auch hier ist die Mentalität nicht unterschiedlich. Natürlich wird bedauert, wenn Ausländer Tokio verlassen. Man muss auch dazu sagen, dass insbesondere unter den Schichten der Bevölkerung, die es sich leisten können, auch Japaner sich nach Süden abgesetzt haben, oder ihre Kinder ins benachbarte Ausland schicken, oder gar nach Europa, oder in die USA. Aber das ist kein allgemeines Phänomen. Jeder weiß, dass die Erhaltung der Funktionsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen und Institutionen wichtig ist, um die Krise zu bewältigen, und wir müssen bedenken: einen Großraum wie Tokio mit ungefähr 30 Millionen Einwohnern, wenn man die benachbarten Präfekturen noch hinzunimmt, kann man nicht mehr evakuieren.
Meurer: Welche Folgen, sagen Sie voraus, wird die Katastrophe haben für das politische und gesellschaftliche Japan?
Schwentker: Einige meiner Kollegen in der Presse haben die Auffassung vertreten, dass diese Katastrophe keine großen Spuren hinterlassen wird, wenn man diese Atomproblematik schnell in den Griff bekommt. Ich teile diese Auffassung nicht. Ich glaube, der 11. März 2011 ist für Japan eine bleibende Zäsur mit Auswirkungen auf das politische System und die soziale Ordnung. Wir hatten hier in Japan über mehrere Jahre jetzt hinweg politische Dauerkrisen. Es gibt hier einen massiven Vertrauensverlust mit Blick auf das Verhalten der politischen Klasse. Man wird erwarten, dass die politischen Verantwortlichen nicht mehr ihre partikularen Interessen verfolgen, sondern wieder stärker an das Gemeinwohl denken.
Auf der gesellschaftlichen Ebene wird es aus meiner Sicht zu einer Stärkung zivilgesellschaftlicher Initiativen kommen, wie wir die im übrigen auch nach dem Kobe-Erdbeben 1995 beobachten konnten. Der Staat alleine ist mit der Bewältigung einer Katastrophe diesen Ausmaßes mit Sicherheit überfordert und die Menschen werden versuchen, sich selbst zu helfen. Unabhängig davon wird natürlich auch Hilfe aus dem Ausland nötig sein, sowohl was finanzielle Unterstützung angeht, als auch technisches und pragmatisches Knowhow.
Meurer: Professor Wolfgang Schwentker, Kulturwissenschaftler an der Universität Osaka, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Schönen Dank und auf Wiederhören, Herr Schwentker.
Schwentker: Bitte sehr!